| # taz.de -- Integration von Flüchtlingen: Auf dem Weg in ein neues Leben | |
| > Eine Hochschule in Mannheim will Geflüchtete zu IT-Managern ausbilden. | |
| > Die Arbeitsmarktchancen sind gut. Ein Besuch der Aufnahmeprüfung. | |
| Bild: Neuanfang in Deutschland – beim Bewerbungstag an der Hochschule in Mann… | |
| Mannheim taz | Das Zeugnis seines Masters in Archäologie der Universität | |
| Aleppo bewahrt George in einer durchsichtigen Plastiktüte auf, eine Art | |
| Brottüte, die er in eine zweite steckt. Darin faltet sich ein Stapel | |
| Blätter, die Ränder der Papiere weich zerflust. Seine Geburtsurkunde ist | |
| da, die Nachweise bestandener Englischtests, Bescheinigungen der | |
| Professoren über seine wissenschaftliche Mitarbeit und der Ausweis als | |
| staatlich anerkannter Fremdenführer durch Aleppo. | |
| George ließ die Zeugnisse in Aleppo auf Englisch übersetzen. Vorsorglich, | |
| auch wenn er das deutsche Wort „studierfähig“ vor fünf Monaten noch nicht | |
| kannte. Die übersetzten Unterlagen sind die Zulassungsvoraussetzung, um an | |
| deutschen Hochschulen studieren zu dürfen. Seite für Seite gehen George und | |
| die Assistentin der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in | |
| Mannheim die Unterlagen durch. Er hat studiert, seinen Abschluss gemacht, | |
| sich weitergebildet, gearbeitet. | |
| Deutsche Unternehmen brauchen jedoch eher wenige Archäologen. Gesucht | |
| werden Menschen, die industrielle Produkte erklären, verkaufen können, die | |
| den Service einer Firma vermitteln und die Waren- und Finanzströme im | |
| Betrieb kontrollieren. George weiß mit 28 Jahren, dass er auf unabsehbare | |
| Zeit in Deutschland bleiben wird. Um später sein eigenes Geld zu verdienen, | |
| will er noch mal studieren und an diesem Tag an der privatwirtschaftlichen | |
| HdWM einen Eignungstest bestehen, um dann einen der gesponserten | |
| Studienplätze für IT-Management zu bekommen. | |
| Die Hochschule bildet junge Leute dazu aus, ihren späteren Kunden komplexe | |
| Softwareprogramme erklären zu können. „Es gibt in Deutschland zu wenig | |
| akademisch gebildete Verkäufer“, sagt Franz Egle. Er ist Unternehmer und | |
| Präsident der privaten HdWM. | |
| Egle, 70 Jahre alt, lehnt sich in den grünen Polstern der Café-Lounge der | |
| Hochschule hinter der Bibliothek zurück. Weiterbildung und | |
| Berufsqualifizierung waren immer seine Themen, erst für die Hochschule der | |
| Bundesanstalt für Arbeit, dann an einer privaten Universität in Heidelberg, | |
| später an einem privaten Forschungsinstitut. | |
| ## Kampf gegen den Fachkräftemangel | |
| Als er 2010 hätte in Rente gehen können, gründete er mit einem | |
| Weiterbildungsunternehmen die HdWM. Eigentlich wollten sie nur den | |
| „Studiengang Vertrieb“ anbieten. Wegen des drohenden Fachkräftemangels. | |
| Denn der durchschnittliche Vertriebsmitarbeiter ist über 50 Jahre alt, und | |
| schon lange beklagen die Unternehmen bei den Weiterbildungsanbietern, dass | |
| auch Mitarbeiter für den Verkauf ausgebildet werden müssten. Darum kümmerte | |
| sich Egle. Mittlerweile sind als Gesellschafter der privaten Hochschule | |
| auch der Internationale Bund und der Deutsch-Türkische Bund hinzugekommen. | |
| Egle bringt ein Netzwerk aus Kontakten mit, zu Regierungen verschiedener | |
| Bundesländer, Ministerien und zu Unternehmen. Anfang Dezember lud er | |
| Politiker und Unternehmer zu einer Tagung zur „Integration in das System | |
| Arbeit durch akademische Aus- und Weiterbildung von studierfähigen | |
| Flüchtlingen“. | |
| Kaum zwei Wochen später hatte er die Zustimmung des | |
| Wissenschaftsministeriums von Baden-Württemberg zu seinem Plan. 20 | |
| Asylsuchende und geflüchtete Menschen mit gesichertem Aufenthaltsstatus | |
| will er ab April an der Hochschule zu IT-Managern ausbilden. 700 Euro | |
| kostet die Ausbildung pro Monat. Die eine Hälfte zahlt ein IT-Konzern, die | |
| andere sollen Unternehmen, Privatleute oder Stiftungen beisteuern. | |
| „Ich bin überzeugt, dass da hoch motivierte Leute dabei sind“, sagt Egle in | |
| weichem badischen Dialekt. Zum Eignungstest an diesem Tag hat er sich eine | |
| rot-blau gestreifte Krawatte umgebunden. Sonst geht es eher formlos an der | |
| HdWM zu. „Franz“ nennen ihn die Dozenten, seine Assistentin und auch die | |
| Studierenden, die ihn aber siezen. | |
| ## Rauchende Schlote und IT | |
| Mannheim liegt mitten im Speckgürtel entlang von Rhein und Main. Die Region | |
| boomt, die Schlote der alten Industriebetriebe rauchen, hinzugekommen sind | |
| in den vergangenen Jahrzehnten jedoch Hightech-Konzerne wie SAP und IBM. | |
| Die Industrie hat die Gegend geprägt, seit Jahrzehnten wandern Migranten | |
| hinzu, aus der Türkei, Italien, Nepal. Und manche Kinder dieser Einwanderer | |
| studieren nun an der HdWM. Rund 300 Menschen aus 27 Nationen von vier | |
| Kontinenten studieren an der HdWM und zahlen 350 Euro im Monat dafür. | |
| „Unser Ziel ist es, die versteckten Talente zu den versteckten Champions zu | |
| bringen“, sagt Egle. Er meint die Mittelständler in den Dörfern der | |
| Rhein-Main-Region, von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mitunter | |
| Weltmarktführer, die kaum jemand kennt. | |
| Diese Unternehmer bringt er mit den Jugendlichen zusammen, deren Eltern als | |
| Gastarbeiter kamen. Deswegen gehört auch das Praxissemester zum Studium an | |
| der privaten Hochschule dazu. Im 3. Semester machen die Studenten ein | |
| Praktikum in einem Unternehmen aus dem Hochschulnetzwerk, das 5. Semester | |
| sind sie die ganze Zeit im Unternehmen, möglichst auf Vorstandsebene und | |
| schreiben dann ihre Bachelor-Arbeit über ein Thema des Unternehmens. | |
| „Das Verlobungsmodell“, nennt Egle diese Studienform, denn die Studenten | |
| sind nicht schon zu Beginn an einen Betrieb gebunden, sondern entwickeln im | |
| Laufe ihres Studiums eine Beziehung zu dem Unternehmen. Einen Job im | |
| mittleren Management hätten die Absolventen nach dem Studium an der HdWM | |
| sicher, sagt er. | |
| Für die Geflüchteten hat er schon drei Zusagen von Unternehmen, die die | |
| Gebühren für das Studium übernehmen. Das alles bereits an dem Morgen, als | |
| George, Yasser, Degol und die anderen zum Eignungstest kommen. | |
| 17 Männer und drei Frauen, fast alle aus Syrien, dazu ein Minderjähriger | |
| aus Gambia und drei Männer aus Eritrea haben durch den nassgrauen Morgen | |
| den Weg zur Hochschule gefunden. Ein nüchterner Bau unterhalb einer | |
| mehrspurigen Hochstraße. Bis vor Kurzem saß darin die Verwaltung der | |
| Maschinenbaufabrik Vögele. Die Fabrikhallen rundherum sind abgerissen, | |
| links der HdWM hat sich das Goethe-Institut in einem Neubau eingerichtet, | |
| schräg gegenüber baut der HdWM-Gründungsunternehmer ein Studentenwohnheim. | |
| Auf dem Gelände will er einen Weiterbildungs-Campus aufbauen. | |
| In zwei Gruppen machen die geflüchteten Studenten den Test. Erst sollen sie | |
| innerhalb von 90 Minuten 300 Fragen auf einem Tablett beantworten, dann | |
| noch 20 Minuten lang Matheaufgaben auf Papier lösen, einen schwierigen | |
| Bruch, Prozentrechnung, eine Tabelle analysieren, die was über | |
| Arbeitslosigkeit und das Bruttoinlandsprodukt in fiktiven Ländern aussagt. | |
| „Nehmen Sie die Antwort, die im Augenblick die richtige ist“, sagt Egle | |
| über den elektronischen Test, und Yasser aus Aleppo übersetzt auf Arabisch. | |
| „Denken Sie nicht darüber nach, welche Antwort ihnen die besten Chancen für | |
| ein Studium hier eröffnen könnte“, mahnt Egle, und auch das übersetzt | |
| Yasser mit leiser Stimme in dem lang gestreckten Raum mit Kunststofftischen | |
| und grauen Konferenzstühlen. Auf einem Sideboard steht Kaffee in | |
| Thermoskannen. | |
| ## Heimat in Schutt und Asche | |
| Yasser kam vor fast drei Jahren nach Deutschland, um Nachrichtentechnik zu | |
| studieren. Eine Woche nachdem er angekommen war, wurde seine Heimatstadt in | |
| Schutt und Asche gelegt. Er machte seinen Bachelor und beantragte dann vor | |
| acht Monaten Asyl, erzählt er mit leiser Stimme, das schmale Gesicht blass | |
| und besorgt. Seine Eltern und Verwandten haben es nach Ägypten und in die | |
| Türkei geschafft, fügt er hinzu. Mit einem Abschluss in der Tasche und | |
| seinen 29 Jahren würde Yasser lieber einen Masterstudiengang an der HdWM | |
| belegen, als noch mal von vorn anzufangen. | |
| Trotzdem macht er den Test mit und bewirbt sich für den Studiengang. Dabei | |
| hat Yasser eine feste Stelle bei dem Weiterbildungsunternehmer und | |
| Geldgeber der HdWM. Dort organisiert er Deutschkurse für Flüchtlinge. „Man | |
| braucht Chance, um zu machen“, sagt er mit Nachdruck, trotz leiser Stimme. | |
| „Mein Herz schlägt für Archäologie“, sagt George auf Englisch und lacht.… | |
| lächelt selbst, wenn er beschreibt, wie in seiner Heimat Syrien alles | |
| zerstört wurde. | |
| Im September kam er nach Deutschland, „zu Fuß“, wie er auf Deutsch sagt. | |
| Von Griechenland über Mazedonien, Ungarn, Österreich. Er lebt nun in | |
| Frankfurt am Main, lernt Deutsch und richtet sich darauf ein, sein Leben | |
| mit 28 Jahren noch einmal neu zu beginnen. „Ich wünsche mir, dass der Krieg | |
| in Syrien endet. Aber das ist in weiter Ferne“, sagt er. | |
| In Syrien habe er auch schon im Verkauf gearbeitet, erzählt George der | |
| Prüfungskommission, die Franz Egle am Nachmittag zusammengestellt hat. | |
| Dozenten der HdWM, die Vertreterin einer Personalagentur, ein | |
| Islamwissenschaftler, ein Professor von der staatlichen Uni. | |
| „Geschichte ist alles“, sagt George und erklärt, warum er gern noch mal | |
| studieren möchte und warum er absolut geeignet wäre. „Aber Verkauf ist auch | |
| alles“, ergänzt er sicherheitshalber. Vielleicht könne er ja eines Tages | |
| beide Ausbildungen miteinander verbinden. | |
| Die Prüfungskommission nimmt ihn. Auch Yasser bekommt einen Studienplatz, | |
| ebenso ein Betriebswirt aus Eritrea und ein früherer Mathematiklehrer aus | |
| Syrien. Vier von zwanzig haben an diesem Tag Erfolg. Am Ende des Tages hat | |
| Franz Egle auch die Unternehmen zusammen, die die Studiengebühren der vier | |
| übernehmen. Aber er bleibt bei seinem Ziel, bis April 20 Stipendien | |
| zusammenzubekommen. | |
| 7 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Fokken | |
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