# taz.de -- Produzent über Elektropop aus Brasilien: „Wer die schnellsten F�… | |
> Der in Rio de Janeiro ansässige Labelbetreiber Wolfram Lange über | |
> brasilianischen Pop, das Zurschaustellen von Luxus und den Versuch, die | |
> Favelas zu befrieden. | |
Bild: Bahia Bass: Nach ihrer dritten Compilation bringt Kafundó 2016 ein Artis… | |
taz: Brasilien ist musikverrückt. International wahrgenommen werden meist | |
nur historische Stile – was tut sich jenseits von Samba? | |
Wolfram Lange: Brasilien ist ein riesiges Land, und jede Region hat andere | |
Traditionen: In São Paulo regiert HipHop, in Rio de Janeiro eher Samba und | |
Funk Carioca. Aus Salvador de Bahia kommt Axé, São Luis ist die Hochburg | |
von Reggae, und in Belém gibt es Tecnobrega-Partys mit riesigen | |
Soundsystems. | |
Liegt es an der Sprachhürde? | |
Funk Carioca wurde zwar gehypt, konnte sich aber im Ausland nicht | |
durchsetzen, weil seine Beats zu einförmig sind, aber auch, weil die Reime | |
über Gangs, Sex und den Favela-Alltag außer Landes kaum einer versteht. | |
Dabei funktioniert brasilianische Popmusik gerade durch immense rhythmische | |
Vielfalt – sie ist mächtiger als die Texte. | |
Der ratternde Elektrosound des Funk Carioca aus Rio und seine Rapper gelten | |
als große Innovation. | |
Inzwischen gibt es auch Tanzwettbewerbe in Brasilien, bei denen es darauf | |
ankommt, wer die schnellsten Füße und coolsten Moves hat. | |
Wie unterscheidet sich Funk Carioca vom Funk Ostentação aus São Paulo? | |
„Ostentação“ bedeutet „Zurschaustellen“. In den Texten wird mit Luxus | |
geprotzt – ähnliche Vorstellungswelten wie im US-HipHop: Angeben mit | |
schönen Frauen, dicken Autos und Goldketten. | |
Ist das ein Anzeichen, dass inzwischen mehr Brasilianer am Konsum | |
teilhaben? | |
Ich bin mir nicht sicher, ob es die sogenannte neue Mittelschicht wirklich | |
gibt. Funk Ostentação transportiert die Sehnsüchte ärmerer sozialer | |
Schichten. Die können sich die importierten Luxuskarossen aus den Videos | |
nicht leisten. | |
HipHop handelt aber oft von konkreten Lebensumständen. | |
HipHop ist hierzulande nach wie vor ein Sprachrohr der Armen. Nur | |
orientieren sich brasilianische Rapper musikalisch ausschließlich an den | |
USA. Es gibt einzelne Künstler, die das vermeiden: Criolo zum Beispiel, | |
aber auch Emicida, der mit traditionellen Rhythmen arbeitet. Und Marcelo D2 | |
hat Vorarbeit mit seinem Samba-HipHop geleistet. | |
Warum ist elektronische Musik in Brasilien bedeutend? | |
Darunter wird hier vor allem Trance und Goa verstanden. Nach meinem | |
Eindruck hat ihre Bedeutung inzwischen aber abgenommen, auch wenn es schon | |
noch Raves gibt. | |
Haben Sie deshalb das Label Kafundó Records gegründet, um unbekannte | |
elektronische Musik aus Brasilien zu fördern? | |
Ja. Wir veröffentlichen Musik, die auf afrobrasilianischen Roots basiert, | |
aber mit digitalen, elektronischen Techniken weiterentwickelt ist und Stile | |
mischt. | |
Wenn sich Ausländer die Perlen aus dem globalen Süden greifen, dann kriegt | |
das leicht einen komischen Beigeschmack. Dem US-Künstler DJ Diplo, der | |
Sampler mit Funk Carioca veröffentlicht hat, wurde etwa „musikalischer | |
Elendstourismus“ vorgeworfen. | |
Das möchten wir vermeiden, indem wir mit den Künstlern faire Verträge | |
abschließen und die Einnahmen fünfzig zu fünfzig teilen. Wir haben engen | |
Kontakt zu ihnen, kennen alle persönlich und wohnen auch selbst in Rio. | |
Ihre bisher veröffentlichten Compilations zeigen Einflüsse von außen. | |
Darauf sind afrobrasilianische Roots mit Bassmusik fusioniert. [1][Die | |
Tropkillaz spielen] etwa einen Track, bei dem sie Trap, der in Brasilien | |
gerade angesagt ist, mit einem Berimbau-Sample aus einem Funk-Album der | |
Siebziger mischen. Es gibt auch andere Mixturen mit Dubstep und Moombathon. | |
Das afrobrasilianische Erbe ist dabei immer hörbar. | |
Warum widmet sich Ihr neuer Sampler dem Nordosten Brasiliens? | |
Weil er die musikalisch vielfältigste Region des Landes ist. Von dort | |
stammen viele der afrobrasilianischen Urrhythmen: Maracatú, Carimbó, Axé, | |
Forró oder Coco. Auch bei der Weiterentwicklung alter Stile ist man dort | |
besonders kreativ. | |
Afrikanische Traditionen sind für brasilianische Popmusik grundlegend. | |
Zunehmend wird von konservativer Seite versucht, afrobrasilianische | |
Kulturpraktiken zu diskreditieren. | |
Es liegt daran, dass die evangelikalen Kirchen an Einfluss gewinnen. Zudem | |
ist Brasilien rassistisch geprägt. Leider kommen afrobrasilianische | |
Rhythmen im Mainstream zu kurz. | |
Warum? | |
Allein acht Songs in den Top Ten zählen zum Sertanejo-Genre, der | |
einheimischen Version von Country-Musik. Gleichzeitig ist das | |
Selbstwertgefühl der Afrobrasilianer gewachsen und damit auch der Bezug auf | |
die eigenen Wurzeln. | |
Wie zeigt sich das? | |
Bei Volkszählungen schätzen sich heute weit mehr Brasilianer als | |
Afrobrasilianer ein. In der Mode gibt es einen Hype um Afro-Frisuren. | |
Die regierende Arbeiterpartei PT ist wegen Korruptionsskandalen in der | |
Defensive. Dazu macht dem Land eine Wirtschaftskrise zu schaffen. Wie | |
empfinden Sie den Alltag? | |
Mir kommt es vor, als befinde sich Brasilien politisch in einer | |
Schockstarre. 2013 gab es eine starke Protestbewegung – jetzt bemühen sich | |
alle, halbwegs heil durch die Krise zu kommen. | |
Sie leben an der Copacabana Rios am Rande einer Favela. Greift Ihrer | |
Meinung nach die Strategie, Favelas zu „befrieden“, indem Polizeieinheiten | |
vor Ort stationiert sind? | |
Es wird immer klarer, dass die sogenannte Befriedung der Favalas nicht | |
funktioniert. Es ist vor allem ein Prestigeprojekt, bei dem Rio de Janeiro | |
das Image einer gewalttätigen Stadt loswerden möchte. Doch so einfach geht | |
es nicht, die Dominanz bewaffneter Banden zu brechen. 2015 wurden in Rio | |
mehr Polizisten in „befriedeten“ Favelas bei Schießereien getötet als in | |
anderen Stadtteilen. | |
In Rio gibt es die Redensart: „Se o morro desce ...“ Wenn die von den | |
Favelas auf den Hügeln herunterkommen würden, ja, dann könnte es zu einer | |
Revolte kommen. Sieht es denn danach aus, dass die Favelados in die | |
bürgerlichen Viertel herabsteigen? | |
2013 sind Menschen ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und | |
verschiedenster Lebensstile gemeinsam auf die Straße gegangen. Zurzeit | |
herrscht Apathie, gerade bei den Armen – auch weil sie stärker von der | |
Krise betroffen sind. Dass Funk Carioca weitgehend unpolitisch ist, stimmt | |
in diesem Zusammenhang umso trauriger. Denn er ist ein Musikstil, der viele | |
erreicht. | |
17 Jan 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://soundcloud.com/tropkillaz%20https://www.youtube.com/watch?v=XmJH4sSJ… | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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