# taz.de -- Die Wahrheit: Die ermordete Mutter | |
> Delinquentes Verhalten in der Nachbarschaft entsteht auch dank | |
> Vermeidungsstrategien von Menschen, die im selben Haus wohnen. | |
Bild: Der dienstälteste Layouter der taz: Richard Noebel | |
Ich kannte mal einen Mann, der später seine Mutter ermordet hat. Er wohnte | |
zwei Stockwerke über uns unterm Dach, als ich elf oder zwölf war. Sein Name | |
war Manfred. Die Nachbarschaft munkelte, Manfred sei ein schwerer Trinker. | |
Ich kannte ihn nur aus dem Hausflur. Er begegnete mir dort immer | |
freundlich, war mir aber dennoch unheimlich: weil er komisch roch, mit | |
hinterlistigem Tonfall Selbstgespräche führte und einen irren Blick hatte. | |
Abends hörte man oft lauten Streit von oben, schrille Schreie der Mutter, | |
laute Flüche von Manfred und Gepolter und manchmal wurde gar die Polizei | |
alarmiert. Die konnte aber nie etwas ausrichten, weil weder Mutter noch | |
Sohn jemals einen Streit zugeben wollten. Manfred war um die vierzig. Die | |
Mutter kam mir vor wie mindestens tausend Jahre alt. | |
Einmal traf ich Manfreds Mutter unten an der Haustür. Sie war sehr | |
gebrechlich und hatte zwei schwere Einkaufstüten dabei. Als wohlerzogenes | |
Mädchen schleppte ich ihr die Einkäufe nach oben – und war zum ersten Mal | |
in der Wohnung. | |
Unheimlich war es dort, düster und muffig. Die schrägen Fenster waren mit | |
Alufolie verklebt, und statt Schränken gab es nur graue Vorhänge. Die alte | |
Frau zog sich die Schuhe aus, legte sich auf ein verschlissenes Sofa und | |
begann sofort vom Dreißigjährigen Krieg oder so etwas zu erzählen. Woran | |
ich mich bis heute noch erinnere ist, dass ihre Füße vom Frost verkrüppelt | |
waren und dass sie als junges Mädchen auch mal Läuse gehabt hatte. | |
Gefühlte vier Stunden hörte ich ihren Geschichten zu. Dann bekam ich das | |
Gefühl, ich müsste mich mal wieder bei meiner Familie blicken lassen. | |
Manfreds Mutter schenkte mir zwei Mark, ich bedankte mich artig und ging | |
nach unten. | |
Zu Hause drehte dann meine Mutter fast durch! „Wo warst du so lange?“ Ich | |
erzählte es ihr. „Du warst wo?!“ Meine Mutter fing an zu weinen. Sie fragte | |
mich, ob ich mir denn keine Gedanken gemacht hätte, dass Manfred dort hätte | |
auftauchen können, was dann alles hätte passieren können. Ich fühlte mich | |
total ungerecht behandelt, fing auch an zu weinen, ging in mein Zimmer und | |
schleuderte das Zweimarkstück aus dem Fenster auf das Wintergartendach | |
unserer Vermieter, weil ich es nicht mehr haben wollte. | |
Etwas später wollte ich es aber doch wiederhaben und versuchte, es mit | |
einem Staubsauger zurückzubekommen, wobei sich eins der Saugerrohre löste | |
und laut scheppernd auf das Dach fiel und dort einen gewaltigen Sprung im | |
Glas verursachte. | |
Ich baute dann aus einem Stock, den ich eigentlich zu einem Indianerspeer | |
hatte schnitzen wollen, und einer Handvoll zusammengeklumptem Tesafilm eine | |
Vorrichtung, mit der ich sowohl Staubsaugerrohr als auch Geldstück bergen | |
wollte. Was ich aber erreichte, war nur, dass jetzt auch noch ein Klumpen | |
Tesafilm auf dem Dach lag. | |
Nicht lange danach zogen wir woanders hin. Kaum waren wir weg, erschlug | |
Manfred tatsächlich seine Mutter im Streit. Der Schuft! Hoffentlich ging es | |
nicht um die zwei Mark. | |
21 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
## TAGS | |
Nachbarschaft | |
Kriminalität | |
Kindheit | |
Pippi Langstrumpf | |
Musik | |
Wohngemeinschaft | |
Piraten | |
Katholische Kirche | |
Anekdoten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Pippis Papagei | |
Kürzlich traf in Karlsruhe ein besonders schräger Vogel ein: Rosalinda | |
alias Douglas aus dem Taka-Tuka-Land in der schwedischen Südsee. | |
Die Wahrheit: Champagner mit Rudi Carrell | |
Wenn einem Musik fast gar nichts bedeutet, kann das mitunter zu dem einen | |
oder anderen peinlichen Missverständnis führen. | |
Die Wahrheit: Die geheime Wohngemeinschaft | |
Wenn plötzlich Einrichtungsgegenstände verschwinden, ist oft ein | |
verstecktes Wurmloch verantwortlich. Dann ist Vorsicht geboten. | |
Die Wahrheit: Die Piraten von Penzance | |
Wo der Jolly Roger weht: Wer den Mumm besitzt ein Boot zu kapern, ist vor | |
Pest und Skorbut auf hoher See nicht gefeit. | |
Die Wahrheit: In der Kirche des Wenzel Storch | |
Der beste Regisseur der Welt macht Theater in Dortmund. Dort begibt er sich | |
auf die Reise zu Heuschrecken und Pornokrokodilen. | |
Die Wahrheit: „Eine Herde wilder Pferde ..." | |
Zum Abschied des großen taz-Layouters Richard Noebel: Die schönsten | |
Anekdoten über den unverwüstlichen Zeitungsgestalter. |