| # taz.de -- Kriegsverbrechen im syrischen Madaja: Der Tod kommt leise | |
| > Den Syrern in Madaja droht der Hungertod. Die Bevölkerung auszuhungern | |
| > und zu beschießen ist verboten, aber gängige Praxis. | |
| Bild: Vom Hungertod bedroht: „Rettet Madayas Kinder!“ fordern Frauen in Bei… | |
| Die Schreckensnachrichten aus der seit Juli 2015 von syrischen | |
| Regierungstruppen und libanesischen Hisbollah-Milizen belagerten Stadt | |
| Madaja können nicht überraschen. Der Hungertod von Menschen, die seit | |
| vielen Monaten eingeschlossen und von jeglicher humanitärer Versorgung | |
| abgeschnitten sind, war absehbar und wurde mehrfach vorausgesagt. In dieser | |
| Zeitung bereits vor drei Jahren. Denn schon 2012 begannen in Syrien die | |
| Kriegsparteien aller Seiten mit der Belagerung von Städten und Dörfern | |
| sowie mit dem Aushungern und gezielten Beschuss der Zivilbevölkerung. | |
| Das sind gängige militärische Praktiken, seit es Kriege gibt. Mit diesem | |
| Hinweis versuchten auch die politischen und militärischen Führer des | |
| Naziregimes das bis heute größte Kriegsverbrechen dieser Art zu | |
| rechtfertigen: die 900-tägige Belagerung von Leningrad durch die deutsche | |
| Wehrmacht. Ihr fielen zwischen 1941 und 1944 rund 1,2 Millionen russische | |
| Zivilisten zum Opfer – die meisten durch Hungertod. | |
| „Vom schaurigsten Stadtdrama, das sich hier entwickelt“, schrieb selbst | |
| Joseph Goebbels in seinem Tagebuch. Das bereits in der Haager | |
| Landkriegsordnung von 1899/1907 vereinbarte und auch vom Deutschen Reich | |
| ratifizierte völkerrechtliche Verbot dieser „gängigen Kriegspraktiken“ | |
| hatte sich als wirkungslos erwiesen. | |
| Ebenso wenig konnten die mit der 4. Genfer Konvention von 1949 verschärften | |
| und präzisierten Bestimmungen zum Schutz von Zivilpersonen Anfang der | |
| 1990er Jahre im bosnischen Bürgerkrieg die Milizen | |
| nationalistisch-faschistischer Serben und Kroaten davon abhalten, mit der | |
| Belagerung Sarajevos und anderer Städte derartige Kriegsverbrechen zu | |
| wiederholen. | |
| ## Drohender Kannibalismus? | |
| „Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill. Unvorstellbares diente als Nahrung. | |
| Und dann kam der Kannibalismus“. So beschrieb vor zwei Jahren der | |
| 95-jährige Daniil Granin, Überlebender von Leningrad vor dem Bundestag | |
| seine Erfahrungen. | |
| Über 1.500 Fälle von Kannibalismus wurden seinerzeit in Leningrad | |
| dokumentiert. Kannibalismus droht jetzt auch in Madaja und anderen | |
| eingeschlossenen zivilen Wohngebieten in Syrien, wenn nicht endlich die | |
| humanitäre Versorgung der lebensbedrohten Menschen oberste und | |
| bedingungslose Priorität erhält. | |
| Auch dafür liefert die Geschichte Beispiele. Etwa die vom Internationalen | |
| Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) vermittelten und überwachten neutralen | |
| Zonen in Madrid im Spanischen Bürgerkrieg (1936) sowie in Jerusalem während | |
| des Palästina-Konflikts von 1948. Oder die nach ihrem Initiator benannte | |
| „Jaquinot-Zone“ in Schanghai im chinesich-japanischen Krieg 1937. | |
| In Syrien sind bislang fast alle Bemühungen des IKRK und der UNO-Vermittler | |
| gescheitert, die humanitäre Versorgung und das Überleben der bedrohten | |
| Zivilbevölkerung zu sichern. Die angebliche Zusage der Regierung Assad, | |
| jetzt endlich Hilfskonvois nach Madaja zu lassen, ist an die Bedingung | |
| einer entsprechenden Versorgung zweier von Rebellen belagerter Dörfer | |
| gebunden. | |
| ## Abstecken des Schlachtfeldes | |
| Auch die Evakuierungen von Zivilisten aus umkämpften Ortschaften und die | |
| Verlegung von oppositionellen wie regierungstreuen Kämpfern in die | |
| Nachbarländer Türkei und Libanon, die seit Anfang vergangener Woche | |
| stattgefunden haben, waren jeweils Ergebnis politischer Gegengeschäfte. | |
| Offensichtlich ging es den an diesen Geschäften beteiligten Kriegsakteuren | |
| vor allem darum, im Vorfeld der ab 25. Januar geplanten Genfer | |
| Verhandlungen zwischen der Regierung und Opposition das militärische | |
| Schlachtfeld abzustecken und sich auf dem politischen Schachbrett besser | |
| aufzustellen. | |
| Alle Kriegsakteure könnten diesen Verdacht entkräften, indem sie jetzt | |
| sofort, einseitig, bedingungslos und dauerhaft überall in Syrien | |
| Belagerungen beenden, die Waffen ruhen lassen und die ungehinderte | |
| humanitäre Versorgung der notleidenden Bevölkerung zulassen. | |
| 9 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Zumach | |
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