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# taz.de -- Gerichtsprozesse gegen SS-Wachleute: Vier Greise auf der Anklagebank
> SS-Wachleute waren die Rädchen im System, die das Morden in den
> Vernichtungslagern möglich machten: Jetzt sind vier von ihnen angeklagt.
Bild: Die Auschwitz-Überlebende Erzsebet Broth hält ein Foto von ihrer Famili…
Da ist Reinhold H. Der Mann ist 93 Jahre alt und lebt in Lage in
Nordrhein-Westfalen.
Dann gibt es Hubert Z. Der 95-Jährige bewohnt ein Einfamilienhaus in einem
kleinen Dorf im Norden des Landes Brandenburg. Bis zu seiner Verrentung
arbeitete er in einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft in der
DDR. Er hat vier Söhne.
In Neumünster, Schleswig-Holstein, wohnt eine 91-jährige Frau namens Helma
M. Und in der Nähe des hessischen Hanau geht es um den 92-jährigen Ernst
T., der lange als Maurer und Landwirt tätig gewesen ist.
Alle vier haben jahrzehntelang ein unauffälliges Leben in Deutschland
geführt. Aber allen vier ist gemeinsam, dass ihnen in diesem Jahr ein
Prozess bevorsteht. Sie sind verdächtig, vor mehr als 70 Jahren im
Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz am Mord von Juden beteiligt
gewesen zu sein. Die Anklagen lauten auf Beihilfe zum Mord.
Voraussagen, mit dem in Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilten Oskar
Gröning habe im vergangenen Jahr der letzte Prozess gegen alte Nazis
stattgefunden, haben sich als voreilig entpuppt. Zwar werden die letzten
mutmaßlichen Täter an Lebensjahren immer älter – doch die Ermittler finden
neue Namen.
## Angestellte der Mordfabrik
Auschwitz, diese furchtbarste Mordfabrik in der Geschichte der Menschheit
mit ihren etwa 1,1 Millionen Ermordeten, will einfach nicht in den
Geschichtsbüchern verschwinden. Die Täter haben Namen, und noch leben
einige wenige von ihnen. Sie mussten Greise werden, bevor die Justiz
endlich so weit war, zu ermitteln. Jetzt aber macht sie das penibel.
Die Verfahren gründen auf eine Liste von 30 Personen, die die Zentrale
Stelle zur Ermittlung von nationalsozialistischen Verbrechen in Ludwigsburg
2014 erstellt hat. Durch Datenabgleiche war es der Behörde gelungen, die
Namen von SS-Wachmännern und -frauen in Auschwitz zu recherchieren, die bis
dahin unbehelligt geblieben waren. Nach Abschluss dieser Vorermittlungen
gingen die Informationen an die zuständigen Staatsanwaltschaften in ganz
Deutschland.
Einige der 30 Verdächtigen waren kurz zuvor verstorben. Andere galten als
verhandlungsunfähig. Und dann gab es noch jene, die als unschuldig gelten,
so wie die zwei Männer aus Nordrhein-Westfalen, die nur kurzfristig in
Auschwitz gewesen waren, um dort neue Kleidungsstücke zu empfangen.
Übrig geblieben sind jene vier Personen, gegen die Anklage erhoben worden
ist. Keine von ihnen sitzt in Untersuchungshaft. Es besteht keine
Fluchtgefahr.
## Keine Ahnung vom Morden
Reinhold H. wird sich ab Mitte Februar vor dem Landgericht Detmold
verantworten müssen. Er war laut Anklage als SS-Unterscharführer vom Januar
1943 bis Juni 1944 als Wachmann in Auschwitz eingesetzt. Er ist der
Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen angeklagt. H. hat seine
Anwesenheit in Auschwitz eingeräumt, will aber von den Morden nichts
mitbekommen haben. Eine Hausdurchsuchung bei ihm blieb laut
Oberstaatsanwalt Andreas Brendel ergebnislos.
H.s Verteidigung machte zunächst geltend, dass er verhandlungsunfähig sei.
Ein fachärztliches Gutachten kam aber im Auftrag des Gerichts zu der
Feststellung, dass eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit vorliege und
H. zwei Stunden täglich einem Prozess folgen könne. Das Gericht hat das
Hauptverfahren eröffnet, der Prozess soll Mitte Februar beginnen. Den
genauen Termin will das Landgericht Detmold in den nächsten Tagen bekannt
geben.
Für den Prozess sind die Räumlichkeiten des Landgerichts zu klein.
Verhandelt wird angesichts des großen öffentlichen Interesses in der
Industrie- und Handelskammer der Kleinstadt. 19 Nebenkläger –
Auschwitz-Überlebende oder deren Nachkommen – sind bereits zugelassen,
weitere 13 haben sich bisher gemeldet. Zwei Verteidiger werden H.
vertreten, Dutzende Pressevertreter aus dem In- und Ausland werden
erwartet.
Der Brandenburger Hubert Z., seit 1942 SS-Rottenführer, zum 1. Juli 1944
zum Unterscharführer befördert, soll in der Sanitätsstaffel der SS in
Auschwitz gearbeitet haben. Er war vom 15. August bis zum 14. September
1944 in dem Lager und ist der Beihilfe zum Mord an mindestens 3.681
Menschen angeklagt – die Zahl ergibt sich, wie auch bei den anderen
Verdächtigen, aus den Menschen, die während dieses Zeitraums mit den
Deportationszügen in Auschwitz eintrafen und ermordet wurden. Die Anklage
wirft Z. vor, durch seine Tätigkeit dazu beigetragen zu haben, dass die SS
handlungsfähig war und die Massenvernichtungen durchführen konnte.
## Direkt an der Rampe
Schon kurz nach dem Krieg ist Z. in Polen zu einer vierjährigen Haftstrafe
verurteilt worden. Das dürfte in dem Verfahren eine wichtige Rolle spielen.
In ersten Vernehmungen in Deutschland soll Z. behauptet haben, niemals in
Auschwitz gewesen zu sein. Später gab er seine Anwesenheit zwar zu, will
aber nichts von Deportationen, Morden und Gaskammern gewusst haben.
Z. wurde zunächst Verhandlungsunfähigkeit wegen seniler Demenz attestiert.
Doch das Oberlandesgericht Rostock hob diesen Beschluss Ende November 2015
auf und eröffnete das Hauptverfahren. Z. sei eingeschränkt
verhandlungsfähig und das Gericht könne durch Pausen in der Verhandlung und
wiederholte Fragen seinen gesundheitlichen Zustand berücksichtigen. Der
Prozess soll im Frühjahr vor dem Landgericht Neubrandenburg starten,
mindestens drei Auschwitz-Überlebende wollen als Nebenkläger auftreten.
Derzeit wird nach Angaben eines Gerichtssprechers die Reisefähigkeit des
Angeklagten überprüft. Sein Heimatdorf liegt rund 50 Kilometer von
Neubrandenburg entfernt.
Wahrscheinlich muss sich 2016 auch der 92-jährige Ernst T. vor dem
Landgericht Hanau verantworten. Dem Ungarndeutschen und gelerntem Maurer
wirft die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vor, von November 1942 bis
zum Juni 1943 als Freiwilliger des SS-Totenkopfsturmbannes in Auschwitz
Wache gestanden zu haben – möglicherweise auch direkt an der Rampe, wo die
Deportationszüge ankamen und SS-Ärzte die Selektion zwischen denjenigen,
die sofort durch Zyklon B ermordet wurden, und denen, die zunächst als
Arbeitssklaven schuften mussten, vornahmen.
Auch der frühere SS-Schütze und SS-Sturmmann ist der Beihilfe zum Mord
angeklagt – aus juristischen Gründen „nur“ in mindestens 1.075 Fällen. …
zuständige Kammer hat seine Verhandlungsfähigkeit festgestellt, eine
Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens wird in den nächsten
Wochen erwartet, sagte eine Gerichtssprecherin. Schon jetzt haben sich drei
Nebenkläger beim Gericht gemeldet.
## Jugendstrafrecht für Greis
Zur Tatzeit war der Angeklagte 19 bzw. 20 Jahre alt. Deshalb wird das
Verfahren gegen den Greis paradoxerweise voraussichtlich unter
Jugendstrafrecht stattfinden, bei dem der Erziehungscharakter der Strafe im
Mittelpunkt steht.
Noch keine Entscheidung hat die Jugendkammer des Landgerichts Kiel über die
Zulassung der Anklage gegen die 91 Jahre alte Helma M. getroffen, die vom
April bis Juli 1944 als Funkerin der Kommandantur von Auschwitz gearbeitet
hat. Ihr wird deshalb Beihilfe zum Mord in mehr als 260.000 Fällen zur Last
gelegt. Kommt es zum Prozess, wollen in Kiel mindestens 12 Nebenkläger
auftreten. Derzeit lässt das Gericht die Verhandlungsfähigkeit der Frau
überprüfen. „Ich hatte niemals Gelegenheit, das mindeste Verbrechen zu
begehen, denn ich habe nur am Funkgerät gesessen“, wird die Angeklagte
zitiert.
Doch darum geht es nicht. Der Nachweis eines individuellen Mordes ist nach
neuerer Rechtsprechung für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht
mehr notwendig. Vielmehr reicht die Anwesenheit und Unterstützung der
Mordaktionen in einem Vernichtungslager für eine Verurteilung aus. Pate
dafür standen die Urteile gegen John Demjanjuk in München und Oskar Gröning
im letzten Jahr in Lüneburg. Sie hatten in Sobibor bzw. Auschwitz Dienst
getan.
So kommt es, dass quasi in letzter Minute noch Angehörigen der
Wachmannschaft von Auschwitz der Prozess gemacht wird, obwohl in den
Jahrzehnten zuvor lediglich etwa 700 der dort eingesetzten mehr als 6.000
Männer und Frauen jemals zur Rechenschaft gezogen worden sind – viele von
ihnen wegen Verbrechen in anderen Lagern. Die Fälle der Wachmannschaften
galten ohnehin lange als minder schwer und nicht strafverfolgungswert, weil
sie nur kleine Rädchen im Getriebe des Massenmords gewesen seien.
## Fragwürdige Atteste
Doch auch viele Haupttäter entgingen einer Verurteilung, und sei es durch
ärztliche Atteste, die ihnen eine Verhandlungsunfähigkeit bescheinigten und
die nicht in Frage gestellt wurden. Es hat Fälle gegeben, in denen
mutmaßliche Massenmörder wegen angeblicher Herzschwäche um einen Prozess
herumkamen, aber anschließend noch mehr als 20 Jahre gesund und munter
blieben.
Die Auschwitz-Angeklagten von 2016 haben das Glück, so alt geworden zu
sein. Und sie haben das Pech, dass sie sich nun deswegen vor Gericht
verantworten müssen – während das Gros der Täter niemals vor Gericht
gestellt worden ist.
Aber sollte das ein Grund dafür sein, sie nicht zu belangen?
8 Jan 2016
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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