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# taz.de -- Weihnachtsgeschichte von Katrin Seddig: Das Kleid
> Es muss nicht immer um Maria und Joseph gehen, wenn eine
> Weihnachtsgeschichte erzählt wird. Frau Lintzel hat ganz andere Probleme.
> Eine Geschichte aus Hamburg.
Bild: „Interessieren Sie sich für das Kleid?“, fragt Frau Lintzel. „Nich…
Hamburg taz | Frau Lintzel läuft durch die Stadt und weiß nicht genau,
wohin und warum, sie hat nur plötzlich ihren Mantel nehmen und losgehen
müssen, vielleicht wegen des Schnees. Vor einem Schaufenster stehen eine
Frau und ein Mann. Der Mann sieht aus, als käme er aus einer anderen Zeit,
aus der Zeit um 1950, als die Männer immer so aussahen, jedenfalls in den
Filmen, mit Hut und Mantel, so elegant, und ihr Haar immer feucht nach
hinten gekämmt trugen. Sein Mantelkragen ist hochgestellt, sie kann ihn,
vor dem erleuchteten Schaufenster, nur als Silhouette sehen.
Die Frau neben ihm ist dick, trägt einen Kunstpelz, eine Brille, und auf
dem Kopf einen Häkelhut. Beide also mit Hut, einer groß und schlank, eine
klein und dick. Beide betrachten das Schaufenster. Im Schaufenster stehen
Schaufensterpuppen ohne Kopf und ohne Beine. Ihre Körper stecken auf
Stielen und sie tragen zarte Kleider aus Tüll und Seide, gerafft und
gerüscht. Manche tragen im Ausschnitt eine Brosche, manche ein glitzerndes
Collier am kopflosen Hals. In den Taillen sind Schildchen festgesteckt, auf
denen Namen aufgeschrieben sind, Rosemarie, Helga, Elisabeth, Jenny und
Zarah.
Frau Lintzel sieht sich um. Der Himmel ist düster, aber die Stadt glüht in
Millionen von Lichtern und brennt vor Geschäftigkeit. Auf der Fahrbahn
schmatzt der nasse Schnee unter den Reifen der Autos. Alles ist nass vom
tauenden Schnee und überall glitzert und blinkt und klingt es, überall
Sterne und Engel und Weihnachtsmänner, Straßenmusiker, Bettler, Leute mit
Einkaufstüten, eilend oder bummelnd.
Nur der Laden mit den Kleidern, mit den kopflosen, beinlosen Puppen, der
ist nicht geschmückt. Neben dem Schaufenster führt links eine kleine Treppe
vier Stufen hoch in den Laden hinein. An der Ladentür hängt ein Schild:
„Nehmen Sie sich Zeit!“
Frau Lintzel würde sich gern Zeit nehmen, aber Frau Lintzel hat keine. Frau
Lintzel bleibt trotzdem immer noch stehen und betrachtet den
Silhouettenmann, der von hinten so elegant aussieht, wie Rock Hudson zum
Beispiel, wie er mit Doris Day telefoniert. Die Frau interessiert Frau
Lintzel auch, denn die Frau sieht zwar nicht schön aus und auch nicht
elegant, aber die Frau sieht so starr und so traurig in das Licht mit den
Kleidern, als bliebe ihr nichts anderes übrig. Und gehört sie, überlegt
sich Frau Lintzel, gehört sie zu dem eleganten Mann?
Frau Lintzel geht näher an das Schaufenster heran, denn wenn zwei Menschen
so reglos auf etwas starren, dann muss es etwas geben, etwas Interessantes,
etwas, das sich lohnt. Ist doch die ganze Straße voll hübscherer
Schaufenster, alle sind geschmückt und weihnachtlich gestaltet, und in
manchen Schaufenstern bewegt sich sogar etwas, im Apothekenfenster fährt
eine kleine Eisenbahn um einen kleinen Kirchturm herum.
Frau Lintzel tritt also heran und da riecht sie das Rasierwasser des
Mannes, der, das kann sie sehen, weil sie ihn rasch von der Seite her
ansieht, ganz anständig rasiert ist, der ein kantiges Kinn hat. Schnell,
bevor er merkt, dass sie sein Gesicht betrachtet, starrt sie wieder nach
unten, auf seine Hände, die in Lederhandschuhen stecken. Ungewöhnlich,
denkt sie, und sie gruselt sich sogar ein bisschen, aber nur ein bisschen.
Die dicke Frau auf ihrer anderen Seite schickt sich offensichtlich an zu
gehen, aber dann bleibt sie doch wieder stehen, wendet ihr rosiges Gesicht
Frau Lintzel zu und sagt: „Dat sind ja man dolle Rüschenkleider!“
„Interessieren Sie sich dafür?“, fragt Frau Lintzel.
„Nicht direkt“, sagt die Frau und kneift ihre Augen hinter der Brille
zusammen. Sie mustert Frau Lintzel.
„Ich dachte nur“, sagt Frau Lintzel.
„Geht ja kein’was an“, sagt die Frau.
„Natürlich nicht“, sagt Frau Lintzel.
Da sagt der Mann. „Ich finde so was ganz hübsch.“
„Wer’s tragen kann“, sagt Frau Lintzel.
„Ich würd’in so was nicht aussehen“, sagt die dicke Frau und keiner
widerspricht ihr.
„Überlegen sie, eines zu kaufen?“, fragt Frau Lintzel den Mann und
erschrickt ein wenig über ihre eigene Kühnheit.
Der Mann antwortet nicht und sie denkt, sie ist zu weit gegangen. Man fragt
Männer nicht nach solchen Sachen. Wer könnte so ein Kleid schon tragen? Auf
der Straße? Es geht einfach nicht. Es passt auch nicht mal am Abend. Sie
sind alle zu rüschig und zu unpraktisch. Sie sehen eigentlich gar nicht mal
richtig elegant aus, eher unnütz und eher wie Vergangenheit, wie
Puppenkleider oder wie Feenkleider, so was in der Art, denkt Frau Lintzel.
Hinter ihnen hupt ein Auto und sie drehen sich alle gleichzeitig um und im
Licht, das auf ihn fällt, sieht Frau Lintzel, wie schön der Mann ist. Er
ist ein ausgesprochen schöner Mann aus einer ganz anderen, vergangenen
Welt. Und deshalb, denkt Frau Lintzel, gefallen ihm auch solche Kleider.
„Waren sie schon mal drinnen?“, fragt Frau Lintzel die Frau.
„Nee, ich warte nur auf den Bus“, sagt die Frau.
„So?“, fragt der Mann. „Fährt denn hier ein Bus?“
„Nicht direkt hier“, sagt die Frau, „aber da.“ Sie hebt den Arm und mac…
eine etwas unbestimmte Armbewegung.
„Ich wüsste nicht, dass dort ein Bus fährt“, sagt der Mann.
„Ach, hören sie“, sagt die Frau, „ich weiß es wohl.“
Frau Lintzel steigt die Treppe hoch. Sie liest „Nehmen Sie sich Zeit!“ laut
vor, obwohl sie es schon vorher gelesen hat. Sie erhofft sich nur jetzt
einen Kommentar, aber keiner sagt was dazu.
„Zeit“, sagt sie deshalb selber und dreht sich zu den anderen um, „hat ja
auch keiner mehr.“
„Ich schon“, sagt die Frau.
„Weil sie auf den Bus warten“, sagt der Mann.
„Sehr richtig“, sagt die Frau.
„Wann kommt denn Ihr Bus?“, fragt der Mann.
„Bald“, sagt die Frau.
„Dann warten Sie also bis bald“, sagt der Mann.
„Sehr richtig“, sagt die Frau noch einmal und holt etwas aus ihrer Tasche,
einen Tannenzapfen, der in Aluminiumpapier gewickelt ist, aber in
pinkfarbenes und nicht in braunes oder goldenes. Sie wickelt ihn aus und
steckt ihn sich in den Mund und kaut.
Der Mann und Frau Lintzel schauen ihr zu. Frau Lintzel fragt sich, wo es
pinkfarbene Tannenzapfen gibt. Sie findet die plötzlich ganz schön und
hätte auch gerne ein paar davon, für die Kinder, wenn die kommen. Aber
vielleicht kommen die auch nicht. Die Kinder sind immer sehr vage in ihren
Ansagen und legen sich nicht gerne fest. Die Kinder gehören ihr ja auch
nicht, es sind ja nur die Kinder vom Ronald, von seiner ersten Frau. Aber
auch, wenn sie mit Ronald gar nichts mehr zu tun hat, kommen die Kinder
manchmal zu ihr, aus Gewohnheit. Und weil sie sie anruft und ihnen sagt,
sie sollen es tun.
Sie backt was für die Kinder und kauft was ein, wenn sie Geburtstag haben,
oder wenn Weihnachten ist oder Ostern. Dann ruft sie die Kinder an und
sagt, sie sollen vorbeikommen und sollen sich die Sachen abholen, und die
Kinder sagen dann, ja, vielleicht kommen sie vorbei, bestimmt, und sie
sagen: „Du bist so lieb, Tante Hermchen.“
Frau Lintzel geht die Treppenstufen wieder runter, denn sie weiß ja nicht,
was sie in dem Laden soll. Sie hat gar keinen Grund, in den Laden zu gehen.
Sie möchte sich kein Kleid kaufen und schon gar nicht, möchte sie sich so
ein Kleid kaufen. Sie steht nur hier, sie weiß es auch nicht, warum.
Es schneit stärker. Die Flocken sind nass und fallen auf ihr Gesicht und
tauen dort. Die Autos fahren jetzt langsamer. Die Reifen rollen durch den
nassen Matsch und es schmatzt und spritzt und die Leute laufen auch
langsamer, weil sie vielleicht fürchten, hinzufallen. Das Hinfallen bei
einem solchen Wetter ist nicht angenehm. Man sieht gleich ganz eingesaut
aus. Wenn es richtiger Schnee wäre, wenn er liegenbliebe und wenn eine
Menge Schnee läge, dann würde das Hinfallen nur nass ausfallen, aber so,
denkt sie.
Frau Lintzel stellt sich wieder zwischen dem Mann und die Frau und besieht
sich die Kleider. Sie würde eigentlich ganz gerne einen Blick zwischen den
Kleiderpuppen in den Laden hineinwerfen. Aber hinter den Schaufensterpuppen
hängt eine Gardine. Sie ist cremeweiß oder auch nur mit der Zeit etwas gelb
geworden und ist in so gleichmäßige Falten gelegt, als wäre dies alles ein
Relief.
„Warten Sie auch auf den Bus?“, fragt die dicke Frau sie plötzlich und da
ist es jetzt so, dass sie beide, die dicke Frau mit dem Häkelhut und der
elegante Mann, sie interessiert ansehen, sie, Frau Lintzel. Und jetzt muss
sie einen Grund bringen, warum sie hier vor dem Schaufenster steht, so
einen Grund, wie wenn sie auf einen Bus warten würde oder wenn sie zum
Beispiel sich ernsthaft für eines der Kleider interessieren würde und würde
sich nur noch nicht überwinden können, in den Laden zu treten, für den man
sich immerhin Zeit nehmen soll, wie es am Eingang steht.
„Ich interessiere mich für das Kleid“
„Für welches?“, fragen der Mann und die Frau fast gleichzeitig.
Wie es weiter geht, lesen Sie in der gedruckten Ausgabe der taz.nord oder
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24 Dec 2015
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Katrin Seddig
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