# taz.de -- Neue Bücher zur Buchmesse: Ava, wir sollten heiraten | |
> Katrin Seddigs großartiges Buch "Eheroman" ist nüchtern und zugleich nah | |
> dran an seiner Protagonistin. Sie will den Abnutzungen des Alltags | |
> widerstehen. | |
Bild: Für immer und ewig aneinander gebunden. | |
Was braucht man zum Leben und was zum Lieben? Wie bastelt man sich aus all | |
den Erwartungen etwas, das auch richtig groß ist und schimmernd vor dem | |
kleinen, fiesen Alltag steht, der alles stumpf macht? Und wie kriegt man es | |
hin, dass man selbst schimmert? Von all diesen Fragen handelt Katrin | |
Seddigs „Eheroman“, von Liebe, Beziehung, Freundschaft, Kindern, dem | |
Altern, dem Wegwollen und doch Dranhängen. Und von der Sehnsucht, etwas | |
Besonderes zu sein. | |
Denn Ava Grünebach, benannt nach dem Hollywoodstar Ava Gardner, kann diesen | |
Vornamen doch nie und nimmer umsonst haben, er ist doch ein Auftrag, eine | |
Gewissheit. Ava ist die Hauptfigur in diesem wunderbaren Buch, dem zweiten | |
der 43-jährigen Hamburger Autorin nach „Runterkommen“. | |
Es ist Avas Blick, ihr Leben, dem der Leser folgt wie einer Kamera. | |
Sechzehn ist sie zu Beginn, um die Vierzig am Ende der gut 400 Seiten des | |
Romans. Zu nah lässt Ava immer alles an sich ran, die anderen, sich selbst, | |
das Leben. Damit geht sie auch dem Leser nah. | |
Erschöpft, angetan, ratlos, aufgewühlt, genervt, verzaubert ist der im | |
Laufe der Lektüre, der Illusion und der Romantik beraubt – und beides | |
findet er doch wieder. Und das ohne Kitsch, ohne Pathos. Die Normalität ist | |
der größte Schock. Keine Dramen, keine Katastrophen. | |
## Morgen bist du tot | |
Denn nach außen kriegt Ava alles hin, den Job, ihre Beziehung, das mit den | |
Kindern. Aber erst einmal ist sie 16, irgendwo auf dem Land an der Elbe, | |
ihr Vater, der ihr den Namen gab, ist im Dorf als seltsam verschrien, weil | |
er zu viel grübelt und Rotwein trinkt statt Bier. Die Mutter nimmt es mal | |
mehr, mal weniger verständnisvoll hin. Ava macht es manchmal wütend, weil | |
sie fürchtet, ihm zu ähneln. „Ich stell mir immer zu viel vor“, sagt sie | |
einmal. | |
Dort, am Anfang also, sieht sie mit ihrer Schulfreundin Sabine ins | |
Osterfeuer hinein und in die Sterne hinauf und sagt: „Die Wolken ziehen so | |
irre schnell dahin, so schnell, so rasend irre, wie dein Leben. Und jetzt | |
ist es schon wieder vorbei. Jetzt bist du eine andere, und morgen bist du | |
tot.“ Aufhalten müsste man alles, und gerade, als es zu sehr rast in ihr, | |
ist da plötzlich dieser Junge, der ihr die Hand auf den Kopf legt wie zum | |
Trost, sie an der Hand nimmt und wegführt. | |
## Heiratsantrag auf Seite 258 | |
Danilo ist erst zwölf, mit großer Brille, Adlernase und Haaren wie eine | |
Pelzmütze. Er ist aus Kroatien, neu im Dorf, seinen Vater gibt es nur als | |
Nachbau im Schuppen, eine Kleiderpuppe, den Kopf aus Wachs hat seine Mutter | |
geformt. Danilo ist überzeugt, zu wissen, was Liebe ist, dass er liebt – | |
und zwar sie. Danilo kann sie zu etwas Besonderem machen. Sie und er, das | |
ist die Ehe im Roman, auch wenn der Heiratsantrag erst auf Seite 258 kommt. | |
Ava will weg aus der Provinz, bloß nie wie die Eltern werden. Sie geht nach | |
Hamburg, macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, verliebt sich in den | |
Assistenzarzt, über den sie sagt: „Mit kuscheln meint er bumsen, aber er | |
kann Sachen einfach nicht so aussprechen, wie sie heißen.“ Und später: | |
„Andreas? Stimmt es noch, dass du mich liebst? Auch wenn wir uns streiten?“ | |
„Es stimmt immer“, sagte er. „Dann ist es gut.“ Er nickt und greift in … | |
Chipstüte, aber in der Chipstüte ist nichts mehr drin. | |
Das Leben passiert so, man kann das traurig finden oder auch nicht. Sie | |
trifft Danilo wieder. So endet der erste von fünf Teilen des Buches. Bis | |
zum nächsten Teil passiert Entscheidendes, doch der Leser muss es sich | |
denken, die Zwangsläufigkeit berührt. | |
## Immer suchend, umherblickend | |
Die Geschichte packt einen, weil man es so kennt. Und Nähe stellt vor allem | |
auch Katrin Seddigs Sprache her. Sezierend, detailliert, bodenständig, | |
lakonisch ist sie, nie jammernd, nie oberflächlich, immer suchend, | |
umherblickend. Manchmal dahingeworfen, wie man es bei einem Ausbruch sagen | |
würde. All die Widersprüche, die Umwege, die unsinnigen Details und die | |
tiefen Dinge, die man in einer Minute fühlen, denken, verkörpern kann, sind | |
in einem Satz erfasst: die Kleidung, die Luft, Avas Wertung, eine Frage, | |
eine Erinnerung, Körpergefühl, ein bisschen Enttäuschung. Erkenntnis. | |
So nüchtern der Roman geschrieben ist, er hat große Zärtlichkeit für die | |
Figuren und entwickelt einen Sog, der den Leser nah heranzieht an Ava. Die | |
folgende Stelle zeigt schön, warum das nicht pures Glück sein kann zwischen | |
ihr und Danilo, obwohl sie sich gerade sehr nahe waren: „Er denkt über | |
Dinge nach, die sie längst nicht mehr betreffen. Er ist sich seiner Liebe | |
gewiss, sie steht wie ein Baum, wie etwas in ihn Gepflanztes, das keiner | |
Grübeleien mehr bedarf. Aber sie, sie liegt da, wie ein feuchter Lappen und | |
weiß bereits, dass Dinge sich ändern, immer und stets.“ | |
Danilo hat eine Vorstellung von ihr, das reicht ihm für die Liebe. Frau, | |
Kinder, Magisterarbeit, „Ava, wir sollten heiraten“, also los. Hochzeit im | |
Altonaer Rathaus. „Auf dem glatten, glänzenden Boden liegt ein abgerissener | |
Blütenkopf von der vorherigen Braut.“ Ava erwartet von Danilo, dass er sie | |
zu was Besonderem macht. Zum Schütteln passiv ist sie, er muss das Drehbuch | |
und sie zum Star schreiben. Manchmal, wenn das nicht reicht, holt sie sich | |
Nebendarsteller. | |
Liebe und Film, das gehört für Ava zusammen, früher sah sie sich mit ihrem | |
Vater immer die Filme der Gardner an, übte ihren Blick. Als sie mit Stulle, | |
dem Lkw-Fahrer, nach Portugal abhaut, fühlt sie „das Leben, das gerade | |
richtig da ist, als wäre es ein Film mit Ava Gardner, wo das Leben immer | |
gerade richtig da ist und immer Dinge passieren, die wichtig und von | |
Bedeutung und dramatisch sind“. | |
## Ist da ein Graustich? | |
Die Nebendarsteller in Avas Leben sind Spiegel und Gegenschnitte zugleich. | |
Die Frauen: Petra, die Schwester, die nie weg wollte; Beate, die Kollegin, | |
die das Besondere in vielen neuen Typen sucht; Merve, die Freundin, die das | |
Miese zulässt. Und die Männer, die Ava sich nimmt, wenn sie etwas spüren | |
möchte: Bosheit, Nähe durch Mitleid, Begehrtwerden, Kontrolle. Da ist | |
Lkw-Fahrer Stulle, der immerhin einen Traum hat, Danilos bester Freund | |
Fadil, der immer fröhlich ist, immer lieb. Und Konstantin Bodenegg, fast | |
70. | |
Das Älterwerden spielt eine große Rolle, der Weißabgleich fürs | |
Besonderssein: Ist da ein Graustich, ein Vergilben? „Alles ist sofort zum | |
Altwerden, von Anfang an“, denkt sie. Jeans, Wände, Liebe. Und | |
seltsamerweise scheinen ihre Eltern, denen sie nie ähneln wollte, sich | |
etwas zu bewahren vom großen Gefühl. | |
Ist es Avas eigene Schuld, wenn es nicht schön ist? Sind sie nicht eine | |
ganz normale Familie, reicht es nicht, dass man sich nicht hasst? Wie lebt | |
es sich in der Desillusion? Es kann nur noch bergab gehen, das ist gewiss. | |
Und trotzdem verliert man den Glauben nicht bei der Lektüre. Katrin Seddigs | |
„Eheroman“ ist ein großartiges Buch über die Liebe, aber auch über die | |
Sehnsucht, als Hauptdarsteller das eigene Leben noch etwas zum Schillern zu | |
bringen, bevor es allzu schnell vorbei ist. Und wenn es nicht gelingt, ist | |
es vielleicht gar nicht so schlimm. Und das ist gerade schlimm. | |
Katrin Seddig: „Eheroman“. Rowohlt Berlin, Berlin 2012, 448 Seiten, 19,95 | |
Euro | |
15 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Daniela Zinser | |
Daniela Zinser | |
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