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# taz.de -- Eine Silvester-Erzählung: Das Gute ist das Leben, das man kennt
> Silvester mit alten Freunden in einem Haus auf dem Land: Das kann
> grauenhaft schief gehen. Vor allem, wenn plötzlich der kranke Ex-Freund
> auf der Matte steht.
Bild: Viele Leben: Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie…
Nach Weihnachten fängt es an zu stinken. Nora riecht an ihrer Wolldecke.
Die Decke riecht ein bisschen nach Wolle und Muff, aber nicht schlimm.
Schlimm fängt im Flur an, schlimm wird schlimmer, wenn sie die Treppe
hinuntersteigt und am schlimmsten wird der Geruch im Wohnzimmer, in dem sie
sich irgendwann alle versammeln.
Sie ist die einzige ohne Partner und das wäre kein so großes Problem, wenn
sie nicht vor kurzem auch noch einen gehabt hätte. Nun schläft sie in einem
Bett, das für zwei gedacht war, ein Bett, in dem der Partner fehlt, nicht
ihr, aber grundsätzlich, in der Aufstellung.
An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingen und aßen und vor allem
tranken, hatten sie häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um ihn
herum und um sie herum. Sie gewannen beide in Gegenwart anderer, auch für
sich selbst. Sie waren attraktiv im Vergleich. Allein, für sich zu zwein,
waren sie das nicht mehr. Die Attraktivität von ihnen beiden zerbrach an
der Einsamkeit. Dass sie überhaupt einsam waren, wenn sie zusammen waren,
lag auch daran, dass sie so gut zusammen passten, sie waren zu zweit wie
einer.
Es hatte eine Störung gegeben, er hatte zum Arzt gemusst, es gab
Untersuchungen und es konnte, möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte
lieb gelächelt und ihre Hand genommen, als sie gemeinsam vom Arzt nach
Hause liefen, winzig kleine Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit,
und die Feuchtigkeit in ihren Augen war gar nicht seiner Krankheit gezollt.
## Er wollte kämpfen, um sie und um seine Gesundheit
Am selben Abend sagte sie ihm, dass es vorbei sei, mit ihrer Liebe zu ihm.
„Es tut mir leid“, sagte sie, „aber ich kann nichts dafür, es ist einfach
so gekommen.“
Er trug es mit einer zarten Verzweiflung, aber mit einem tapferen Lächeln
im Gesicht. Er wolle kämpfen, sagte er, um seine Gesundheit und ihre Liebe.
„Du bist überfordert“, sagte er auch und sie stellte es nicht richtig.
Er legte sich auf die Couch und sah sich „Friends“ auf DVD an, während die
Flocken an das Fenster taumelten und in der Küche der Geschirrspüler
summte. Sie setzte sich in den Sessel und sie sahen die ganze Nacht die
alten „Friends“, eine Folge nach der anderen, und während sich Ross und
Rachel liebten und trennten, schien ihr das Lieben und das Trennen nur Teil
eines großen albernen Zwanges, aber sie konnte nicht von dem Sessel
aufstehen und ins Bett gehen, sie musste es sich alles ansehen, obwohl sie
es alles schon mehr als einmal gesehen hatte.
Das Haus gehört Sebastians Mutter, die in Holland bei ihrer Schwester lebt.
Es ist eine kleine, rote Backsteinvilla mit moosigem Dach, die ein Stück zu
weit vom Meer entfernt steht und zu ungepflegt ist, um gewinnbringend
verkauft zu werden, aber die Luft um das Haus ist so feucht und so salzig
wie das Meer selbst und drumherum gibt es nur Felder und Kühe und einen
diesigen Waldrand.
Sie dreht sich auf ihrer Wolldecke, Regen klatscht gegen das Fenster.
Weihnachten war nicht das Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und
geschenkelos war, das Schlimmste war, wie nett sie alle mit sich waren.
Jonas und Judith, Herrmann und Linda, Jürgen und Sarah, Sebastian und
Christina. Jürgen und Sarah hatten sich nichts geschenkt, weil sie nach
Island fahren wollten, im nächsten Jahr, das war das Geschenk gewesen. Die
Anderen hatten sich auch kaum was geschenkt, es war eigentlich gar kein
Problem der Geschenke gewesen, sie wusste eigentlich nicht, was das Problem
gewesen war. Das Problem war vielleicht, wie der Baum ausgesehen hatte, so
vollgehängt mit Kugeln, und dass sie überhaupt einen Baum hatten, wie eine
Familie und dass sie Weihnachtslieder sangen, Jimmy hatte „Jingle Bells“
gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Sie hatte auf dem Teppich
gesessen und etwas kaltes Fleisch aus dem Kühlschrank gegessen, während die
Anderen ihr Papier falteten und sich küssten.
Wenn sie doch jetzt „Friends“ sehen könnte, hatte sie gedacht. Keiner von
ihnen war so witzig wie Phoebe oder Ross oder so süß wie Rachel. Das war
ihr aufgefallen und auch, dass sie gemein war. Sie hatte überhaupt keine
Gefühle mehr in sich drin, für irgendjemanden aus der Runde, sie sah sie
alle ganz kalt und ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber
„Friends“ geguckt.
Da fing es mit dem Geruch an. Der Geruch war erst nur schwach, und sie
hatte sich gefragt, ob er von einem einzelnen von ihnen ausging, von
Hermann vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich war, inkontinent,
kränklich? Aber mit der Zeit fiel es ihr auf, dass der Geruch sich in den
Nuancen unterschied und dass er von jedem einzelnen von ihnen anders
ausging.
## Der Geruch jedes einzelnen vervielfacht sich
Da ist der nussartige, talgige Geruch der Kopfhaut von Jonas, der
säuerliche, leicht ranzige Geruch von den Achseln von Judith, der beißende
Geruch der Urintröpfchen, die in der Luft bleiben, wenn Jimmy die Toilette
verlässt, der Geruch von faulenden Essensresten in den Räumen zwischen den
Zähnen von Sarah, dazu der Geruch von Verdautem, Darmgase, alter Rauch in
der Kleidung von Jürgen und Haut und Atem und kreisende Flüssigkeiten wie
Blut und Speichel. Sie nimmt es alles einzeln war und dann verdoppelt es
sich und vervielfacht es sich ins Unerträgliche. Sie begegnet dem mit
Trinken.
„Wie geht es Christian?“, fragt Judith, während sie am Tisch grüne Bohnen
schneidet.
Nora hockt am Kamin, auf ihren Knien, starrt in die Flammen, das Glas
Rotwein in der Hand und müht sich, nicht ins Feuer zu kippen, obwohl sie
sich angezogen fühlt. Der Rotwein hängt wie alter Belag auf ihrer Zunge und
den Zähnen und lähmt sie.
„Wie du weißt …“, hier legt sie eine längere Pause ein, um einen Schluck
Wein zu trinken, einen neuen einzugießen, und auch, ein wenig, um die
Spannung zu steigern, „ist er krank.“
Dann zündet sie sich eine Mentholzigarette an, obwohl sie gar nicht raucht
und das gar nicht erlaubt ist im Haus. Wer raucht, Jürgen zum Beispiel, in
seiner alten, blauen Daunenjacke, aus der die kleinen Daunen einzeln
rauspieksen und davonschweben, als würde er sich ganz langsam verlieren und
im alten, feuchten Haus verteilen, der tut das Rauchen trampelnd, mit
hochgezogenen Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke. Er kneift
dabei die Augen zusammen, und manchmal redet er mit sich selbst. Manchmal
fällt ihm die Asche von der Zigarette, weil er vergisst zu ziehen. Manchmal
steht er da, als wollte er steif frieren, reglos und in seinen kleinen,
zarten alten Federchen.
Sie zieht tief durch und der Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen, so
brennt es in ihrer Lunge.
Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und sieht nur kurz rüber, ganz
nett sogar. Judith riecht nach ihren Achseln. Und nach Bohnen. Und nach
Küche.
## Stimmt mit ihr etwas nicht?
Nora drückt die Zigarette auf dem Unterteller mit den Mandarinenschalen
aus. Sie kann gar nicht rauchen. Sie kann nicht trinken. Sie ist kein
Rebell, in gar nichts ist sie rebellisch, sie hat nur aus Furcht ihre
Beziehung beendet. Ihr kommt der Gedanke, dass mit ihr etwas nicht stimmt.
Vielleicht stinken die Menschen irgendwie, aber normal ist es, den Geruch
seiner Freunde in die Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen und zu
erkennen als das Gute. Das Gute stinkt nicht. Das Gute ist das Leben, das
man kennt.
Judith lächelt wieder auf ihre vorsichtige Art. Judith hat so Augen von
denen man sagt, dass sie Pünktchen in sich drin haben. Judith hat auch eine
Stupsnase und Sommersprossen.
„Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles.“
Sie fragt sich, was sie damit meint.
„Was wird?“, fragt sie und analysiert Judiths Geruch, Judith riecht wie
dürre, ausgetrocknete Frauen riechen, wenn sie zu wenig trinken und essen,
wenn die Haut sich faltet und ihr Körper sich von innen nach außen reckt
und um ein Tröpfchen Ölung giert. Judith ist so schlank wie ein Reh im
eisigen Winter. Und hat Augen mit Pünktchen. Geschmack und Witz.
„Das Leben ist halt kompliziert“, sagt Judith und zwinkerte mit ihren
Pünktchen und zwinkert noch mal.
„Neinneinneinnein“, sagte Nora. Sie spürte, wie der Text, diese ’Ns‘ u…
’Ns‘ sie hin und her wiegen, „Das Leben ist … ganz einfach.“
Und obwohl sie ein bisschen betrunken ist, und gar nicht mal so wenig,
kommt es ihr wirklich so vor, als wenn sie was ganz Wichtiges erkannt
hätte, eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie nur eine Tür
geöffnet, hinter der das Einfache sich endlich offenbart, als Gemeinheit.
Eine große Klarheit nähert sich ihren Gedanken, Gegenstände und Gerüche und
Möbel und Melodien drum herum aufgereiht. Es ist alles einfach, wenn man
die Nettheit von Judith weglässt.
„Christan ist krank, ja?“, sagt Nora in ausgewählter Langsamkeit. Dazu hat
sich indessen Herrmann gesellt.
„Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann hat immer etwas
Schmuddeliges an sich, obwohl er sehr gepflegt ist. Gepflegt, immer neue
Sachen, feines Wollhaar, Schuhe, so schön wie ein vergangenes Jahrhundert.
„Er ist vielleicht krank, ja?“, wiederholt sie.
Vier Augen blickten sie an. Zwei Pünktchenaugen, zwei braune Brillenaugen.
„Ich wollte ihn nicht pflegen.“
Sie nicken. Sie lassen sich nicht provozieren. Sie sehen sich an, sie
tauschen irgendwas aus, aber sie sagen gar nichts. Sie nicken nur.
„Ich hätte es gekonnt, aber ich wollte es nicht.“
„Das kann man ja verstehen“, sagt Herrmann. Er nimmt die Bohnen nicht in
die Hand. Er kocht nicht. Er kann nichts, was Geschicktheit verlangt. Er
legt seine breiten, weichen Hände nur auf den Tisch und müht sich um Ruhe
und Gerechtigkeit.
„Findest du?“, fragt sie. „Ich finde ...“ Sie weiß gar nicht, was sie
findet. Sie steht der Krankheit von Christian ganz neutral gegenüber. Mit
ihr hat das gar nichts zu tun.
„Wir bemühen uns wirklich, dich zu verstehen. Wir wissen nicht, was
zwischen euch passiert ist, aber niemand verurteilt dich. Wirklich. Du
musst deinen eigenen Weg gehen.“
Sie nickt. Ihren eigenen Weg gehen.
Am Abend vor Silvester ist ihr schlecht von den Gerüchen und sie bricht in
die gelbliche Toilettenschüssel. Christian ruft an, er will mit ihr reden,
er klingt nett und vernünftig.
„Silvester geh ich mit Ingbert essen. Er sagt, es war notwendig, dass du
dich von mir getrennt hast, wir waren in einer Sackgasse und es war eine
Art von Distanzierung, die notwendig war, für dich, für uns. Damit du dich
abspalten und wieder du selbst sein konntest. Die Krankheit, also meine
Krankheit, hätte dich sonst ganz in unser ’Wir‘ gezogen. Aber ich denke,
wenn wir das erkennen, dann haben wir eine Chance. Wir können doch einen
Schnitt machen, einen sauberen Schnitt und dann haben wir doch eine ganz
neue Chance?“
„Sicher“, sagt sie, aber ihre Stimme sagt fast gar nichts. Sie fragt sich,
wie neu und groß die Chancen sind, für ein ’Wir‘, wenn einer von dem ’W…
vielleicht ganz schlimm krank ist und der Andere nur sich selbst noch
riechen kann.
Am Silvestermorgen ist es ihr klar, dass alle ihre Freunde stinken.
Sie geht hinaus in die Kälte, es ist trocken und eisig und es liegt auch
kein einziges Fitzelchen Schnee. Die Farben sind klar. Die Himmel ist blau,
winzige Federn aus Jürgens alter Jacke haben sich zum Horizont hin weißlich
verdichtet. Die Felder sind schwarz und der Boden und die alten Stoppeln in
ihrer Form erstarrt. Die Bäume stehen kahl in der Landschaft herum. Jedes
Blatt ist hartgefroren, jeder einzelnen roten Beere haftet ein farbliches
Drama an und über allem liegt eine Schicht von kaltem Glitzer. Sie geht
ganz allein, sie hat zu Judith gesagt, „Nein, ich möchte lieber allein.“
Judith wäre mitgekommen, obwohl sie sich immer krümmt in der Kälte und ganz
entsetzlich friert mit ihrer Magerkeit und in ihrer dünnen Haut.
## Betrogen ums Weihnachtsfest
Ihr Atem dampft vor ihr her, es bimmelt aus der Erinnerung, ein
weihnachtliches Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das
Weihnachtsfest fehlt ihr plötzlich, als wäre sie drum betrogen worden. Die
Kindheit fehlt ihr plötzlich, die Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich
etwas zu erhoffen. Das Leben ist ganz einfach, kommt es ihr wieder in den
Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die sich auf den Weg setzen, Schritt
für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und Grashalme zerbrechen. Der
Geruch der Draußenwelt ist angenehm, ist sauber und kalt wie der Tod.
Als sie zurückkommt, ist er da. Er sitzt in der Küche, trinkt warme Milch,
und ist einfach da, ganz normal. Linda sitzt bei ihm, hält ihren Kopf
schräg geneigt und hört ihm zu, wie er von der Krankheit erzählt. Nora
bleibt in der Tür stehen, er bemerkt sie, er hat ein kleines, schlechtes
Gewissen, sieht sie.
„Wo willst du denn jetzt schlafen?“, fragt sie, als wäre das das größte
Problem, während die Hitze und die Küchengerüche sie angreifen.
Er zuckt mit den Schultern. Er kramt nur mit letzter Mühe ein Fünkchen
Humor noch heraus. Aus den Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen Flitter
und kein Gold.
„Wer will denn hier schlafen?“, sagt er und bemüht sich um ein Lächeln.
Seine Lippen sehen ganz spröde aus und ein Mundwinkel ist eingerissen.
„Was machst du denn hier?“, fragt sie weiter und ohne auf ihn einzugehen.
Unfähig, nett zu sein. Der Geruch von Mensch strömt in ihre eisig kalten
Nasenlöcher.
„Nora!“, ermahnt Linda sie, sie hat ein bisschen echten Hass in den hübsch
geschminkten Augen.
„Du wolltest doch nicht kommen!“, Nora kann nicht aufhören, sie weint fast
vor Wut.
Er schüttelt den Kopf. Linda legt ihren Arm um ihn, auf seinem Stuhl, wo er
sitzt, gekrümmt, mit Blick auf seine Schuhe. Seine Schuhe sind schon
aufgebunden, als wollte er sie ausziehen und hat es dann doch nicht getan,
weil er sich nicht sicher war.
„Nora, hör doch auf!“, fleht Linda.
„Du wolltest doch mit Ingbert essen gehen. Du hast gesagt, meine
Distanzierung war notwendig.“
„Ich hätte nicht kommen sollen.“ Er senkt den Kopf noch tiefer. Er ist
eigentlich ganz erledigt und gar nicht so klug und auch gar nicht so
ausgeglichen, wie er sie das am Telefon hat glauben lassen.
## Der Wohlgeruch von Hund
Sie geht am Wohnzimmer vorbei, die Treppe hoch in ihr Zimmer und legt sich
auf die Decke. Sie steckt die Nase in die alte Wolle und schnüffelte am
alten Wollstaub. Ein Hund würde gut riechen, denkt sie. Ein Schaf auch.
Hühner. Schweine, Schweine riechen nach Schwein. Pferde. Sie weiß ganz
genau, wie Pferde riechen, wie sie am Hals riechen, wie ein Hund aus dem
Maul riecht, wie Katzenpipi riecht, all das kennt sie und es würde gut sein
und nicht eklig, selbst wenn es stank.
„Hallelujah, hallelujah!“, schreit unten jemand. Dann klopft es an ihre
Tür. Herrmann.
Sie bleibt liegen, dreht nur kurz den Kopf zurück, ihm ihren Hintern
zuwendend, aufgestützt auf ihren Arm, aus dem kleinen Fenster sehend, auf
das Feld und die schwarzen Bäume hinten am Horizont, der rot wird und
glüht, als stände es alles in Flammen.
„Ich möchte wirklich wissen, was mit dir los ist“, sagt Herrmann.
„Ich auch. Ich möchte das auch wissen“, sagt sie.
„Das ist ja immerhin was“, sagt Herrmann und schweigt eine Weile. In der
Stille hört sie sein Schnaufen, das ihn immer begleitet. Er hat sich eine
Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der Freak, der am wenigsten
Attraktive in der Gesellschaft auserwählter Freunde rund herum um einen
Sohn mit Depression. Er hat kaum Humor. Er ist nicht mal besonders
intelligent.
„Christian, es geht ihm nicht gut. Und wir sind … sind seine Freunde.“
„Sind – sind“, äfft sie ihn nach. „Dann gehe ich eben.“
„Das musst du nicht.“
„Ich hätte gar nicht kommen sollen.“
Und als er nichts sagt, fügt sie hinzu, „Es riecht.“
„Hier, im Zimmer?“
„Ja, aber noch mehr auf der Treppe. Und am allermeisten …“ Sie schweigt,
sie findet es unerhört, was sie sagt.
„Am allermeisten?“, fragt er.
„Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir ist schon ganz schlecht von eurem
Gestank.“
„Ich denke, dann solltest du wirklich besser …“, sagte er und schließt
leise die Tür, bevor sie den Schluss hören kann.
„Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie sollte wirklich
unbedingt gehen. Sie ist diejenige, die nicht zurechtkommt. Sie werden
Christian in ihre Arme nehmen und ihn wiegen, bis er schläft. Sie sind alle
ganz gute Menschen, verhältnismäßig, und gar nicht so besonders egoistisch.
Sie sind klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis, alles was man
erwarten kann und sogar noch ein bisschen mehr.
Sie packt ihre Sachen zusammen und schleicht sich raus. Draußen steht ihr
Auto neben all den anderen Autos, große und kleine, wie die Verhältnisse so
sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen steht auch Jürgen in seinen alten
Daunen und ascht in die Vogeltränke. Er hebt die Hand. „Fährst du?“, ruft
er.
Sie nickt.
„Warum?“
„Ich muss weg.“
## Das Problem mit dem besten Zeitpunkt
Silvesterabend, denkt sie, nicht der beste Zeitpunkt, um abzuhauen. Wenn
jemand krank ist, dann ist das nicht der beste Zeitpunkt, um ihn zu
verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischt man nur selten, deshalb wird es
alles immer so schief, so gar nicht besonders, wie in „Friends“, wo zum
besten Zeitpunkt immer das passiert, was dann alle zum Weinen bringt oder
zum Lachen, aber so kann man leider nicht leben. Sie fährt den Feldweg
runter, ruckelt über die hartgefrorenen Treckerspuren, dem Mond entgegen,
denn draußen steht schon der weiße Mond über dem Feld, über dem Dorf und
über der Landstraße.
Dann ist da was, zwei Leuchtpunkte, und als sie bremst, sind die Punkte
schon unter ihr verschwunden, von ihrem Auto verschluckt, sie stemmt sich
mit aller Kraft weiter auf die Bremse, obwohl sie weiß, dass sie
vernünftiger bremsen sollte, dass es sowieso schon zu spät ist, weil sie
schon drüber ist, sie schliddert und rutscht, sie hört das Quietschen, sie
kann gar nichts machen, nur sich innerlich klammern und beben und hoffen,
und dann steht sie still an einem Baum, den Gurt hart an den Rippen, sie
ist an einen Baum gefahren, nicht schlimm, nur ein bisschen, sie steigt aus
und sie sucht mit den Augen die Straße ab.
Auf der Straße liegt ein dunkler Klumpen Tier. Sie zittert ein bisschen,
sie nähert sich dem Klumpen, ein Wiesel, eine Katze oder ein kleiner Hund,
langgestreckt, auf den Boden gekauert. Sie nähert sich, sie nähert sich
recht unentschlossen, die Muskeln tun ihr weh vom Zittern, die Luft riecht
nach verbrannten Reifen, irgendwo weit weg knallt es, Lichter steigen auf,
über den Bäumen und dem Feld, in rot grün blau, sie geht ganz dicht heran,
da bewegt sich was, da bewegt sich der Schwanz, die Katze steht auf.
Die Katze steht auf.
Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie gefahren. Sie
steht auf und der Mond scheint auf die Katze und neue Lichter explodieren
am Himmel, in grün und silber und die Katze macht, „mau“. Dann geht sie
weg. Langsam, majestätisch, ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh,
das jede Menge Leben hat. Nora geht zurück, ihr Auto steht am Baum, es ist
verbeult, aber es brummt leise, von drinnen strömt ihr die Wärme entgegen,
sie setzt sich auf ihren Sitz, fasst das Lenkrad, betrachtet den Baumstamm
vor ihrer Frontklappe und das Leben kehrt langsam und freundlich in sie
zurück. Vorsichtig legt sie den Rückwärtsgang ein und vorsichtig drückt
sich ihr Wagen aus dem Baum heraus.
31 Dec 2013
## AUTOREN
Katrin Seddig
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