| # taz.de -- Eine Silvester-Erzählung: Das Gute ist das Leben, das man kennt | |
| > Silvester mit alten Freunden in einem Haus auf dem Land: Das kann | |
| > grauenhaft schief gehen. Vor allem, wenn plötzlich der kranke Ex-Freund | |
| > auf der Matte steht. | |
| Bild: Viele Leben: Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie… | |
| Nach Weihnachten fängt es an zu stinken. Nora riecht an ihrer Wolldecke. | |
| Die Decke riecht ein bisschen nach Wolle und Muff, aber nicht schlimm. | |
| Schlimm fängt im Flur an, schlimm wird schlimmer, wenn sie die Treppe | |
| hinuntersteigt und am schlimmsten wird der Geruch im Wohnzimmer, in dem sie | |
| sich irgendwann alle versammeln. | |
| Sie ist die einzige ohne Partner und das wäre kein so großes Problem, wenn | |
| sie nicht vor kurzem auch noch einen gehabt hätte. Nun schläft sie in einem | |
| Bett, das für zwei gedacht war, ein Bett, in dem der Partner fehlt, nicht | |
| ihr, aber grundsätzlich, in der Aufstellung. | |
| An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingen und aßen und vor allem | |
| tranken, hatten sie häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um ihn | |
| herum und um sie herum. Sie gewannen beide in Gegenwart anderer, auch für | |
| sich selbst. Sie waren attraktiv im Vergleich. Allein, für sich zu zwein, | |
| waren sie das nicht mehr. Die Attraktivität von ihnen beiden zerbrach an | |
| der Einsamkeit. Dass sie überhaupt einsam waren, wenn sie zusammen waren, | |
| lag auch daran, dass sie so gut zusammen passten, sie waren zu zweit wie | |
| einer. | |
| Es hatte eine Störung gegeben, er hatte zum Arzt gemusst, es gab | |
| Untersuchungen und es konnte, möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte | |
| lieb gelächelt und ihre Hand genommen, als sie gemeinsam vom Arzt nach | |
| Hause liefen, winzig kleine Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit, | |
| und die Feuchtigkeit in ihren Augen war gar nicht seiner Krankheit gezollt. | |
| ## Er wollte kämpfen, um sie und um seine Gesundheit | |
| Am selben Abend sagte sie ihm, dass es vorbei sei, mit ihrer Liebe zu ihm. | |
| „Es tut mir leid“, sagte sie, „aber ich kann nichts dafür, es ist einfach | |
| so gekommen.“ | |
| Er trug es mit einer zarten Verzweiflung, aber mit einem tapferen Lächeln | |
| im Gesicht. Er wolle kämpfen, sagte er, um seine Gesundheit und ihre Liebe. | |
| „Du bist überfordert“, sagte er auch und sie stellte es nicht richtig. | |
| Er legte sich auf die Couch und sah sich „Friends“ auf DVD an, während die | |
| Flocken an das Fenster taumelten und in der Küche der Geschirrspüler | |
| summte. Sie setzte sich in den Sessel und sie sahen die ganze Nacht die | |
| alten „Friends“, eine Folge nach der anderen, und während sich Ross und | |
| Rachel liebten und trennten, schien ihr das Lieben und das Trennen nur Teil | |
| eines großen albernen Zwanges, aber sie konnte nicht von dem Sessel | |
| aufstehen und ins Bett gehen, sie musste es sich alles ansehen, obwohl sie | |
| es alles schon mehr als einmal gesehen hatte. | |
| Das Haus gehört Sebastians Mutter, die in Holland bei ihrer Schwester lebt. | |
| Es ist eine kleine, rote Backsteinvilla mit moosigem Dach, die ein Stück zu | |
| weit vom Meer entfernt steht und zu ungepflegt ist, um gewinnbringend | |
| verkauft zu werden, aber die Luft um das Haus ist so feucht und so salzig | |
| wie das Meer selbst und drumherum gibt es nur Felder und Kühe und einen | |
| diesigen Waldrand. | |
| Sie dreht sich auf ihrer Wolldecke, Regen klatscht gegen das Fenster. | |
| Weihnachten war nicht das Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und | |
| geschenkelos war, das Schlimmste war, wie nett sie alle mit sich waren. | |
| Jonas und Judith, Herrmann und Linda, Jürgen und Sarah, Sebastian und | |
| Christina. Jürgen und Sarah hatten sich nichts geschenkt, weil sie nach | |
| Island fahren wollten, im nächsten Jahr, das war das Geschenk gewesen. Die | |
| Anderen hatten sich auch kaum was geschenkt, es war eigentlich gar kein | |
| Problem der Geschenke gewesen, sie wusste eigentlich nicht, was das Problem | |
| gewesen war. Das Problem war vielleicht, wie der Baum ausgesehen hatte, so | |
| vollgehängt mit Kugeln, und dass sie überhaupt einen Baum hatten, wie eine | |
| Familie und dass sie Weihnachtslieder sangen, Jimmy hatte „Jingle Bells“ | |
| gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Sie hatte auf dem Teppich | |
| gesessen und etwas kaltes Fleisch aus dem Kühlschrank gegessen, während die | |
| Anderen ihr Papier falteten und sich küssten. | |
| Wenn sie doch jetzt „Friends“ sehen könnte, hatte sie gedacht. Keiner von | |
| ihnen war so witzig wie Phoebe oder Ross oder so süß wie Rachel. Das war | |
| ihr aufgefallen und auch, dass sie gemein war. Sie hatte überhaupt keine | |
| Gefühle mehr in sich drin, für irgendjemanden aus der Runde, sie sah sie | |
| alle ganz kalt und ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber | |
| „Friends“ geguckt. | |
| Da fing es mit dem Geruch an. Der Geruch war erst nur schwach, und sie | |
| hatte sich gefragt, ob er von einem einzelnen von ihnen ausging, von | |
| Hermann vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich war, inkontinent, | |
| kränklich? Aber mit der Zeit fiel es ihr auf, dass der Geruch sich in den | |
| Nuancen unterschied und dass er von jedem einzelnen von ihnen anders | |
| ausging. | |
| ## Der Geruch jedes einzelnen vervielfacht sich | |
| Da ist der nussartige, talgige Geruch der Kopfhaut von Jonas, der | |
| säuerliche, leicht ranzige Geruch von den Achseln von Judith, der beißende | |
| Geruch der Urintröpfchen, die in der Luft bleiben, wenn Jimmy die Toilette | |
| verlässt, der Geruch von faulenden Essensresten in den Räumen zwischen den | |
| Zähnen von Sarah, dazu der Geruch von Verdautem, Darmgase, alter Rauch in | |
| der Kleidung von Jürgen und Haut und Atem und kreisende Flüssigkeiten wie | |
| Blut und Speichel. Sie nimmt es alles einzeln war und dann verdoppelt es | |
| sich und vervielfacht es sich ins Unerträgliche. Sie begegnet dem mit | |
| Trinken. | |
| „Wie geht es Christian?“, fragt Judith, während sie am Tisch grüne Bohnen | |
| schneidet. | |
| Nora hockt am Kamin, auf ihren Knien, starrt in die Flammen, das Glas | |
| Rotwein in der Hand und müht sich, nicht ins Feuer zu kippen, obwohl sie | |
| sich angezogen fühlt. Der Rotwein hängt wie alter Belag auf ihrer Zunge und | |
| den Zähnen und lähmt sie. | |
| „Wie du weißt …“, hier legt sie eine längere Pause ein, um einen Schluck | |
| Wein zu trinken, einen neuen einzugießen, und auch, ein wenig, um die | |
| Spannung zu steigern, „ist er krank.“ | |
| Dann zündet sie sich eine Mentholzigarette an, obwohl sie gar nicht raucht | |
| und das gar nicht erlaubt ist im Haus. Wer raucht, Jürgen zum Beispiel, in | |
| seiner alten, blauen Daunenjacke, aus der die kleinen Daunen einzeln | |
| rauspieksen und davonschweben, als würde er sich ganz langsam verlieren und | |
| im alten, feuchten Haus verteilen, der tut das Rauchen trampelnd, mit | |
| hochgezogenen Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke. Er kneift | |
| dabei die Augen zusammen, und manchmal redet er mit sich selbst. Manchmal | |
| fällt ihm die Asche von der Zigarette, weil er vergisst zu ziehen. Manchmal | |
| steht er da, als wollte er steif frieren, reglos und in seinen kleinen, | |
| zarten alten Federchen. | |
| Sie zieht tief durch und der Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen, so | |
| brennt es in ihrer Lunge. | |
| Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und sieht nur kurz rüber, ganz | |
| nett sogar. Judith riecht nach ihren Achseln. Und nach Bohnen. Und nach | |
| Küche. | |
| ## Stimmt mit ihr etwas nicht? | |
| Nora drückt die Zigarette auf dem Unterteller mit den Mandarinenschalen | |
| aus. Sie kann gar nicht rauchen. Sie kann nicht trinken. Sie ist kein | |
| Rebell, in gar nichts ist sie rebellisch, sie hat nur aus Furcht ihre | |
| Beziehung beendet. Ihr kommt der Gedanke, dass mit ihr etwas nicht stimmt. | |
| Vielleicht stinken die Menschen irgendwie, aber normal ist es, den Geruch | |
| seiner Freunde in die Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen und zu | |
| erkennen als das Gute. Das Gute stinkt nicht. Das Gute ist das Leben, das | |
| man kennt. | |
| Judith lächelt wieder auf ihre vorsichtige Art. Judith hat so Augen von | |
| denen man sagt, dass sie Pünktchen in sich drin haben. Judith hat auch eine | |
| Stupsnase und Sommersprossen. | |
| „Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles.“ | |
| Sie fragt sich, was sie damit meint. | |
| „Was wird?“, fragt sie und analysiert Judiths Geruch, Judith riecht wie | |
| dürre, ausgetrocknete Frauen riechen, wenn sie zu wenig trinken und essen, | |
| wenn die Haut sich faltet und ihr Körper sich von innen nach außen reckt | |
| und um ein Tröpfchen Ölung giert. Judith ist so schlank wie ein Reh im | |
| eisigen Winter. Und hat Augen mit Pünktchen. Geschmack und Witz. | |
| „Das Leben ist halt kompliziert“, sagt Judith und zwinkerte mit ihren | |
| Pünktchen und zwinkert noch mal. | |
| „Neinneinneinnein“, sagte Nora. Sie spürte, wie der Text, diese ’Ns‘ u… | |
| ’Ns‘ sie hin und her wiegen, „Das Leben ist … ganz einfach.“ | |
| Und obwohl sie ein bisschen betrunken ist, und gar nicht mal so wenig, | |
| kommt es ihr wirklich so vor, als wenn sie was ganz Wichtiges erkannt | |
| hätte, eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie nur eine Tür | |
| geöffnet, hinter der das Einfache sich endlich offenbart, als Gemeinheit. | |
| Eine große Klarheit nähert sich ihren Gedanken, Gegenstände und Gerüche und | |
| Möbel und Melodien drum herum aufgereiht. Es ist alles einfach, wenn man | |
| die Nettheit von Judith weglässt. | |
| „Christan ist krank, ja?“, sagt Nora in ausgewählter Langsamkeit. Dazu hat | |
| sich indessen Herrmann gesellt. | |
| „Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann hat immer etwas | |
| Schmuddeliges an sich, obwohl er sehr gepflegt ist. Gepflegt, immer neue | |
| Sachen, feines Wollhaar, Schuhe, so schön wie ein vergangenes Jahrhundert. | |
| „Er ist vielleicht krank, ja?“, wiederholt sie. | |
| Vier Augen blickten sie an. Zwei Pünktchenaugen, zwei braune Brillenaugen. | |
| „Ich wollte ihn nicht pflegen.“ | |
| Sie nicken. Sie lassen sich nicht provozieren. Sie sehen sich an, sie | |
| tauschen irgendwas aus, aber sie sagen gar nichts. Sie nicken nur. | |
| „Ich hätte es gekonnt, aber ich wollte es nicht.“ | |
| „Das kann man ja verstehen“, sagt Herrmann. Er nimmt die Bohnen nicht in | |
| die Hand. Er kocht nicht. Er kann nichts, was Geschicktheit verlangt. Er | |
| legt seine breiten, weichen Hände nur auf den Tisch und müht sich um Ruhe | |
| und Gerechtigkeit. | |
| „Findest du?“, fragt sie. „Ich finde ...“ Sie weiß gar nicht, was sie | |
| findet. Sie steht der Krankheit von Christian ganz neutral gegenüber. Mit | |
| ihr hat das gar nichts zu tun. | |
| „Wir bemühen uns wirklich, dich zu verstehen. Wir wissen nicht, was | |
| zwischen euch passiert ist, aber niemand verurteilt dich. Wirklich. Du | |
| musst deinen eigenen Weg gehen.“ | |
| Sie nickt. Ihren eigenen Weg gehen. | |
| Am Abend vor Silvester ist ihr schlecht von den Gerüchen und sie bricht in | |
| die gelbliche Toilettenschüssel. Christian ruft an, er will mit ihr reden, | |
| er klingt nett und vernünftig. | |
| „Silvester geh ich mit Ingbert essen. Er sagt, es war notwendig, dass du | |
| dich von mir getrennt hast, wir waren in einer Sackgasse und es war eine | |
| Art von Distanzierung, die notwendig war, für dich, für uns. Damit du dich | |
| abspalten und wieder du selbst sein konntest. Die Krankheit, also meine | |
| Krankheit, hätte dich sonst ganz in unser ’Wir‘ gezogen. Aber ich denke, | |
| wenn wir das erkennen, dann haben wir eine Chance. Wir können doch einen | |
| Schnitt machen, einen sauberen Schnitt und dann haben wir doch eine ganz | |
| neue Chance?“ | |
| „Sicher“, sagt sie, aber ihre Stimme sagt fast gar nichts. Sie fragt sich, | |
| wie neu und groß die Chancen sind, für ein ’Wir‘, wenn einer von dem ’W… | |
| vielleicht ganz schlimm krank ist und der Andere nur sich selbst noch | |
| riechen kann. | |
| Am Silvestermorgen ist es ihr klar, dass alle ihre Freunde stinken. | |
| Sie geht hinaus in die Kälte, es ist trocken und eisig und es liegt auch | |
| kein einziges Fitzelchen Schnee. Die Farben sind klar. Die Himmel ist blau, | |
| winzige Federn aus Jürgens alter Jacke haben sich zum Horizont hin weißlich | |
| verdichtet. Die Felder sind schwarz und der Boden und die alten Stoppeln in | |
| ihrer Form erstarrt. Die Bäume stehen kahl in der Landschaft herum. Jedes | |
| Blatt ist hartgefroren, jeder einzelnen roten Beere haftet ein farbliches | |
| Drama an und über allem liegt eine Schicht von kaltem Glitzer. Sie geht | |
| ganz allein, sie hat zu Judith gesagt, „Nein, ich möchte lieber allein.“ | |
| Judith wäre mitgekommen, obwohl sie sich immer krümmt in der Kälte und ganz | |
| entsetzlich friert mit ihrer Magerkeit und in ihrer dünnen Haut. | |
| ## Betrogen ums Weihnachtsfest | |
| Ihr Atem dampft vor ihr her, es bimmelt aus der Erinnerung, ein | |
| weihnachtliches Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das | |
| Weihnachtsfest fehlt ihr plötzlich, als wäre sie drum betrogen worden. Die | |
| Kindheit fehlt ihr plötzlich, die Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich | |
| etwas zu erhoffen. Das Leben ist ganz einfach, kommt es ihr wieder in den | |
| Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die sich auf den Weg setzen, Schritt | |
| für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und Grashalme zerbrechen. Der | |
| Geruch der Draußenwelt ist angenehm, ist sauber und kalt wie der Tod. | |
| Als sie zurückkommt, ist er da. Er sitzt in der Küche, trinkt warme Milch, | |
| und ist einfach da, ganz normal. Linda sitzt bei ihm, hält ihren Kopf | |
| schräg geneigt und hört ihm zu, wie er von der Krankheit erzählt. Nora | |
| bleibt in der Tür stehen, er bemerkt sie, er hat ein kleines, schlechtes | |
| Gewissen, sieht sie. | |
| „Wo willst du denn jetzt schlafen?“, fragt sie, als wäre das das größte | |
| Problem, während die Hitze und die Küchengerüche sie angreifen. | |
| Er zuckt mit den Schultern. Er kramt nur mit letzter Mühe ein Fünkchen | |
| Humor noch heraus. Aus den Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen Flitter | |
| und kein Gold. | |
| „Wer will denn hier schlafen?“, sagt er und bemüht sich um ein Lächeln. | |
| Seine Lippen sehen ganz spröde aus und ein Mundwinkel ist eingerissen. | |
| „Was machst du denn hier?“, fragt sie weiter und ohne auf ihn einzugehen. | |
| Unfähig, nett zu sein. Der Geruch von Mensch strömt in ihre eisig kalten | |
| Nasenlöcher. | |
| „Nora!“, ermahnt Linda sie, sie hat ein bisschen echten Hass in den hübsch | |
| geschminkten Augen. | |
| „Du wolltest doch nicht kommen!“, Nora kann nicht aufhören, sie weint fast | |
| vor Wut. | |
| Er schüttelt den Kopf. Linda legt ihren Arm um ihn, auf seinem Stuhl, wo er | |
| sitzt, gekrümmt, mit Blick auf seine Schuhe. Seine Schuhe sind schon | |
| aufgebunden, als wollte er sie ausziehen und hat es dann doch nicht getan, | |
| weil er sich nicht sicher war. | |
| „Nora, hör doch auf!“, fleht Linda. | |
| „Du wolltest doch mit Ingbert essen gehen. Du hast gesagt, meine | |
| Distanzierung war notwendig.“ | |
| „Ich hätte nicht kommen sollen.“ Er senkt den Kopf noch tiefer. Er ist | |
| eigentlich ganz erledigt und gar nicht so klug und auch gar nicht so | |
| ausgeglichen, wie er sie das am Telefon hat glauben lassen. | |
| ## Der Wohlgeruch von Hund | |
| Sie geht am Wohnzimmer vorbei, die Treppe hoch in ihr Zimmer und legt sich | |
| auf die Decke. Sie steckt die Nase in die alte Wolle und schnüffelte am | |
| alten Wollstaub. Ein Hund würde gut riechen, denkt sie. Ein Schaf auch. | |
| Hühner. Schweine, Schweine riechen nach Schwein. Pferde. Sie weiß ganz | |
| genau, wie Pferde riechen, wie sie am Hals riechen, wie ein Hund aus dem | |
| Maul riecht, wie Katzenpipi riecht, all das kennt sie und es würde gut sein | |
| und nicht eklig, selbst wenn es stank. | |
| „Hallelujah, hallelujah!“, schreit unten jemand. Dann klopft es an ihre | |
| Tür. Herrmann. | |
| Sie bleibt liegen, dreht nur kurz den Kopf zurück, ihm ihren Hintern | |
| zuwendend, aufgestützt auf ihren Arm, aus dem kleinen Fenster sehend, auf | |
| das Feld und die schwarzen Bäume hinten am Horizont, der rot wird und | |
| glüht, als stände es alles in Flammen. | |
| „Ich möchte wirklich wissen, was mit dir los ist“, sagt Herrmann. | |
| „Ich auch. Ich möchte das auch wissen“, sagt sie. | |
| „Das ist ja immerhin was“, sagt Herrmann und schweigt eine Weile. In der | |
| Stille hört sie sein Schnaufen, das ihn immer begleitet. Er hat sich eine | |
| Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der Freak, der am wenigsten | |
| Attraktive in der Gesellschaft auserwählter Freunde rund herum um einen | |
| Sohn mit Depression. Er hat kaum Humor. Er ist nicht mal besonders | |
| intelligent. | |
| „Christian, es geht ihm nicht gut. Und wir sind … sind seine Freunde.“ | |
| „Sind – sind“, äfft sie ihn nach. „Dann gehe ich eben.“ | |
| „Das musst du nicht.“ | |
| „Ich hätte gar nicht kommen sollen.“ | |
| Und als er nichts sagt, fügt sie hinzu, „Es riecht.“ | |
| „Hier, im Zimmer?“ | |
| „Ja, aber noch mehr auf der Treppe. Und am allermeisten …“ Sie schweigt, | |
| sie findet es unerhört, was sie sagt. | |
| „Am allermeisten?“, fragt er. | |
| „Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir ist schon ganz schlecht von eurem | |
| Gestank.“ | |
| „Ich denke, dann solltest du wirklich besser …“, sagte er und schließt | |
| leise die Tür, bevor sie den Schluss hören kann. | |
| „Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie sollte wirklich | |
| unbedingt gehen. Sie ist diejenige, die nicht zurechtkommt. Sie werden | |
| Christian in ihre Arme nehmen und ihn wiegen, bis er schläft. Sie sind alle | |
| ganz gute Menschen, verhältnismäßig, und gar nicht so besonders egoistisch. | |
| Sie sind klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis, alles was man | |
| erwarten kann und sogar noch ein bisschen mehr. | |
| Sie packt ihre Sachen zusammen und schleicht sich raus. Draußen steht ihr | |
| Auto neben all den anderen Autos, große und kleine, wie die Verhältnisse so | |
| sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen steht auch Jürgen in seinen alten | |
| Daunen und ascht in die Vogeltränke. Er hebt die Hand. „Fährst du?“, ruft | |
| er. | |
| Sie nickt. | |
| „Warum?“ | |
| „Ich muss weg.“ | |
| ## Das Problem mit dem besten Zeitpunkt | |
| Silvesterabend, denkt sie, nicht der beste Zeitpunkt, um abzuhauen. Wenn | |
| jemand krank ist, dann ist das nicht der beste Zeitpunkt, um ihn zu | |
| verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischt man nur selten, deshalb wird es | |
| alles immer so schief, so gar nicht besonders, wie in „Friends“, wo zum | |
| besten Zeitpunkt immer das passiert, was dann alle zum Weinen bringt oder | |
| zum Lachen, aber so kann man leider nicht leben. Sie fährt den Feldweg | |
| runter, ruckelt über die hartgefrorenen Treckerspuren, dem Mond entgegen, | |
| denn draußen steht schon der weiße Mond über dem Feld, über dem Dorf und | |
| über der Landstraße. | |
| Dann ist da was, zwei Leuchtpunkte, und als sie bremst, sind die Punkte | |
| schon unter ihr verschwunden, von ihrem Auto verschluckt, sie stemmt sich | |
| mit aller Kraft weiter auf die Bremse, obwohl sie weiß, dass sie | |
| vernünftiger bremsen sollte, dass es sowieso schon zu spät ist, weil sie | |
| schon drüber ist, sie schliddert und rutscht, sie hört das Quietschen, sie | |
| kann gar nichts machen, nur sich innerlich klammern und beben und hoffen, | |
| und dann steht sie still an einem Baum, den Gurt hart an den Rippen, sie | |
| ist an einen Baum gefahren, nicht schlimm, nur ein bisschen, sie steigt aus | |
| und sie sucht mit den Augen die Straße ab. | |
| Auf der Straße liegt ein dunkler Klumpen Tier. Sie zittert ein bisschen, | |
| sie nähert sich dem Klumpen, ein Wiesel, eine Katze oder ein kleiner Hund, | |
| langgestreckt, auf den Boden gekauert. Sie nähert sich, sie nähert sich | |
| recht unentschlossen, die Muskeln tun ihr weh vom Zittern, die Luft riecht | |
| nach verbrannten Reifen, irgendwo weit weg knallt es, Lichter steigen auf, | |
| über den Bäumen und dem Feld, in rot grün blau, sie geht ganz dicht heran, | |
| da bewegt sich was, da bewegt sich der Schwanz, die Katze steht auf. | |
| Die Katze steht auf. | |
| Die Katze steht auf, als wäre nicht eben ein Auto über sie gefahren. Sie | |
| steht auf und der Mond scheint auf die Katze und neue Lichter explodieren | |
| am Himmel, in grün und silber und die Katze macht, „mau“. Dann geht sie | |
| weg. Langsam, majestätisch, ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh, | |
| das jede Menge Leben hat. Nora geht zurück, ihr Auto steht am Baum, es ist | |
| verbeult, aber es brummt leise, von drinnen strömt ihr die Wärme entgegen, | |
| sie setzt sich auf ihren Sitz, fasst das Lenkrad, betrachtet den Baumstamm | |
| vor ihrer Frontklappe und das Leben kehrt langsam und freundlich in sie | |
| zurück. Vorsichtig legt sie den Rückwärtsgang ein und vorsichtig drückt | |
| sich ihr Wagen aus dem Baum heraus. | |
| 31 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
| ## TAGS | |
| Erzählungen | |
| Silvester | |
| Hamburg | |
| Silvester | |
| Silvester | |
| Silvester | |
| Silvester | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Weihnachtsgeschichte von Katrin Seddig: Das Kleid | |
| Es muss nicht immer um Maria und Joseph gehen, wenn eine | |
| Weihnachtsgeschichte erzählt wird. Frau Lintzel hat ganz andere Probleme. | |
| Eine Geschichte aus Hamburg. | |
| Vorsätze für 2014: Das neue Jahr ist eine Bitch | |
| Erst mal einen Kaffee trinken. Dann kehrt vielleicht das Drama der letzten | |
| Nacht zurück in die Erinnerung – falls die Buchstaben nicht mehr | |
| verschwimmen. | |
| Silvester-Bilanz in Berlin: Krach, Bum, Bäng | |
| Berlin feiert das neue Jahr – und alle sind glücklich. Da kann 2014 | |
| eigentlich nur gut werden, oder? | |
| Silvester-Sause in Berlin: Die Eine-Million-Menschen-Frage | |
| Wahrscheinlich feiern ganz offiziell wieder eine Million Menschen am | |
| Brandenburger Tor. Diese Zahl ist falsch: Für so viele reicht der Platz gar | |
| nicht. | |
| Gepflegt Feiern in Berlin: „Zu Silvester passt Champagner“ | |
| Stefan Weber und Beate Hindermann, Betreiber und Bartenderin der Victoria | |
| Bar, über Berliner Bars und die Poesie der Trunkenheit. |