| # taz.de -- Debatte Terrorbekämpfung in Frankreich: Unangebrachte Rhetorik | |
| > Mit dem Ausnahmezustand geht Frankreich gegen marginalisierte Jugendliche | |
| > in den Banlieues vor. Der wahre Feind ist ein anderer. | |
| Bild: Das Paris Viertel Drancy. Die Zukunft sieht grau aus. | |
| Dass – als Reaktion auf das schreckliche Attentat radikal-islamischer | |
| Terroristen aus dem Umkreis des „Dschihad“ vom 13. November 2015 im | |
| Bataclan in Paris – die sozialistische Regierung von François Hollande den | |
| Ausnahmezustand über ganz Frankreich verhängt hat, ist angesichts des | |
| Ausmaßes an Bestürzung, Trauer und Angst vor weiteren Attentaten dieses | |
| Typs verständlich; schon weniger allerdings, dass er sogleich auf drei | |
| Monate (!) verlängert wurde. | |
| Denn „Ausnahmezustand” bedeutet ja konkret, dass unter diesen Bedingungen, | |
| die denjenigen des „Belagerungszustands” (Etat de siège) ähneln, die | |
| Polizei Sondervollmachten erhält, die es ihr etwa erlaubt, ohne | |
| gerichtliche Erlaubnis Hausdurchsuchungen durchzuführen und Verdächtige zu | |
| verhaften, auch wenn es dafür keinerlei konkreten Anhaltspunkt oder | |
| Schuldbeweis gibt. Gerechtfertigt wird dies seitens der Regierung mit dem | |
| „Kriegszustand”, in dem das Land sich jetzt befinde. | |
| Hier aber beginnt das Problem. „Krieg”. Ist Frankreich wirklich – wie | |
| Staatspräsident Hollande in seinen Fernsehansprachen unterstreicht – im | |
| Krieg? Ist Krieg der richtige Terminus für das, was da augenblicklich | |
| vorgeht? Ist die jetzige Situation Frankreichs wirklich vergleichbar mit | |
| der politischen Situation von Ende Juli/Anfang August 1914, als Frankreich | |
| die allgemeine Mobilmachung ausrief und damit in den 1. Weltkrieg zog? Ist | |
| Terroristenbekämpfung durch die Polizei und die Gendarmerie, deren | |
| Legitimität niemand bestreiten kann, dem die Erhaltung des Rechtsstaats am | |
| Herzen liegt, identisch mit Krieg? Kann der „Krieg gegen den Terrorismus” | |
| wirklich gleichgesetzt werden mit dem „klassischen Krieg” der Nationen, | |
| also der militärischen Konfrontation zweier feindlicher Heere? | |
| Offensichtlich liegt hier etwas vor, was mit den klassischen Definitionen | |
| des Kriegs eigentlich nicht mehr richtig erfasst werden kann. „Der Krieg | |
| ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln” sagte Clausewitz. Auf | |
| die aktuelle Situation übertragen bedeutet dies jedoch, dass es sich hier | |
| um eine mit militärisch-polizeilichen Mitteln ausgetragene Konfrontation | |
| gegen radikal-islamische Terroristen und „Dschihadisten” im Landesinnern | |
| handelt, die an die militärische Intervention Frankreichs gegen den IS in | |
| Syrien und im Irak gekoppelt ist. | |
| ## „Islamisierung der Radikalität” | |
| Die Terroristen vom Bataclan und auch dem Anschlag auf die | |
| Satirezeitschrift Charlie Hebdo hatten alle, da in Frankreich geboren, die | |
| französische Staatsangehörigkeit. Sie gehören, wie etwa der Politologe | |
| Olivier Roy in seinem Artikel in der Zeitung Le Monde (24. 11. 2015) | |
| unterstreicht, mehrheitlich der „zweiten Generation” der islamischen | |
| Emigration in Frankreich an, die sich marginalisiert und diskriminiert | |
| fühlt (und es objektiv ja auch ist), die mit ihrem Elternhaus auf Kriegsfuß | |
| stehen und die sich zugleich aus Verblendung und Frustration in eine | |
| „nihilistische Revolte” gegen die moderne Konsumgesellschaft und die | |
| Wertordnung des mit dem Kolonialismus identifizierten Westens | |
| hineingesteigert haben. | |
| Diese soziologische Erklärung rechtfertigt natürlich nicht im Geringsten | |
| diese kaltblütig ausgeführten terroristischen Attentate und Massaker. Das | |
| gesellschaftliche Phänomen, um das es hier geht, ist jedoch nicht etwa eine | |
| „Radikalisierung des Islam”, sondern vielmehr die „Islamisierung der | |
| Radikalität”, wie Olivier Roy es bezeichnet. | |
| Gerade deshalb aber ist es so schwierig, gegen diesen „Feind im Inneren” | |
| anzukommen; denn um das Übel dieses Terrorismus an der Wurzel zu packen und | |
| auszumerzen, hätten sich die französischen Regierungen (und das gilt | |
| gleichermaßen für Chirac, Sarkozy und Hollande) schon vor Langem etwas mehr | |
| um die prekäre und zugleich dramatische Situation dieser | |
| Out-cast-Jugendlichen in den Banlieues, den großen öden Vorstädten von | |
| Paris, kümmern müssen, die zum Zentrum der alltäglichen Gewalt, und des | |
| Drogenhandels geworden sind, in denen die Arbeitslosigkeit auf eine | |
| Rekordhöhe geklettert ist und die in den vergangenen zehn Jahren nachgerade | |
| zum „idealen Nährboden” für die Entstehung dieser neuen islamistischen | |
| Radikalität geworden sind, die jetzt so brutal, so unberechenbar und so | |
| grausam in geradezu blinder Mordwut zugeschlagen hat. | |
| ## Unsichtbarer Feind | |
| So aber wurden die in diesem Milieu aufgewachsenen marginalisierten | |
| muslimischen Jugendlichen sich selbst überlassen, wodurch sie sehr leicht | |
| in jene „dschihadistischen“ Clans hineingezogen werden konnten. Es ist | |
| evident, dass dem allein mit den Mitteln der polizeilichen Repression (der | |
| rechtspopulistische Front National fordert sogar schon Internierungslager) | |
| nicht beigekommen werden kann. | |
| Deshalb ist auch die Kriegsrhetorik des französischen Staatspräsidenten | |
| problematisch – denn es geht hier ja offensichtlich wesentlich um die | |
| Bekämpfung eines unsichtbaren Feinds im Landesinneren, der im Untergrund | |
| operiert und jederzeit – ohne jegliche Vorwarnung – durch Attentate und | |
| blutige Terroranschläge zuschlägt, dessen Positionen jedoch äußerst schwer | |
| auszumachen und folglich auch schwer unschädlich zu machen sind. Das | |
| verunmöglicht im Grunde genommen jegliche Kriegsführung im traditionellen | |
| Sinn. | |
| Dies bedeutet folglich nicht mehr und nicht weniger, als dass die Regierung | |
| Hollande sich gezwungen sieht, in Anbetracht dieser dramatischen Situation | |
| einen „Zweifrontenkrieg” zu führen: einen nach innen (über die Verhängung | |
| des Ausnahmezustands, die massiven Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und | |
| Hausarreste – bis jetzt 1.800 Hausdurchsuchungen – und einen nach außen in | |
| der Form der gezielten Bombardierung der gesamten Logistik sowie des | |
| Machtbereichs und Verwaltungsapparats des IS. | |
| Gleichzeitig aber birgt der Krieg gegen den „inneren Feind”, das heißt die | |
| „Dschihadisten“ und potentiellen beziehungsweise reellen Terroristen in den | |
| Banlieues, auch die Gefahr einer Aushöhlung des Rechtsstaats und | |
| letztendlich auch der Grundrechte in sich, die unseligerweise an frühere | |
| Zeiten erinnert, wie zum Beispiel den Algerienkrieg. Ein Patriotic Act à la | |
| française wäre daher nicht der richtige Weg zur Besiegung des Terrorismus | |
| und zur Wiederherstellung normaler innenpolitischer Verhältnisse. | |
| 16 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Münster | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| Paris | |
| Ausnahmezustand | |
| Terrorismus | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Kolonialismus | |
| Paris | |
| Paris | |
| Schwerpunkt Rassemblement National | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nach Tod in Polizeigewahrsam: Krawalle nördlich von Paris | |
| Ein junger Mann starb in Polizeigewahrsam. Seitdem gibt es jede Nacht | |
| gewaltsame Proteste in Beaumont-sur-Oise nördlich von Paris. | |
| Kolumne Afrobeat: Kinder des weißen Terrors | |
| Kein marokkanischer oder algerischer Rentner heißt die Anschläge in Paris | |
| und Brüssel gut. Aber der Terror hat eine Verbindung zu den | |
| Kolonialkriegen. | |
| Nach den Anschlägen in Paris: Reine Staatswillkür | |
| In Frankreich gilt der Ausnahmezustand – mit einer fragwürdigen Bilanz. | |
| Jetzt will die Regierung ihn in der Verfassung verankern. Das ist | |
| alarmierend. | |
| Paris nach den Anschlägen: Reale und irreale Bedrohung | |
| In Paris scheint das Leben wieder seinen normalen Lauf zu nehmen. Doch in | |
| der lukrativen Vorweihnachtszeit haben sich die Verkäufe verringert. | |
| Sozialdemokratie ist europaweit am Ende: Helmut Kohls Traum | |
| Der FN konnte nur mit einer demokratischen Allianz geschwächt werden. Was | |
| bedeutet das für Deutschland? Und vor allem: für die SPD? | |
| Anschläge in Paris: Dritter Bataclan-Attentäter identifiziert | |
| Foued Mohammed Aggad soll ebenfalls am Massaker in der Pariser Konzerthalle | |
| Bataclan beteiligt gewesen sein. Der 23-Jährige aus Straßburg reiste 2013 | |
| nach Syrien. | |
| Kolumne Gefühlte Temperatur: Ausnahmslos Ausnahmezustand | |
| Das Café Bonne Bière in Paris, wo beim Terror im November fünf Menschen den | |
| Tod fanden, ist wieder geöffnet. Die Polizisten blieben. | |
| Paris im Ausnahmezustand: Mehr als 2.000 Razzien | |
| Nach den Anschlägen in Paris haben französische Polizisten mehr als 2.000 | |
| Razzien durchgeführt. Über 200 Personen wurden abgeführt. | |
| Debatte Terror und Klima: Im Ausnahmezustand | |
| Nur zwei Wochen nach den Anschlägen beginnt die Klimakonferenz in Paris. | |
| Was der Terror mit der weltweiten Klimakatastrophe zu tun hat. |