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# taz.de -- Gipfeltreffen EU-Türkei: Das große Draußen
> Für syrische Flüchtlinge gehen die Grenzen europaweit zu. Am Sonntag
> verhandelt die EU mit der Türkei über einen Flüchtlingsstopp.
Bild: Vor Lesbos: spanische Freiwillige helfen Geflüchteten. Das Boot kam von …
Istanbul taz | „Tief in der Nacht überquerten wir die Grenze zur Türkei, 21
Flüchtlinge und der Schmuggler. Wir marschierten eine halbe Stunde,
begleitet von Gewehrfeuer. Dann plötzlich laute Rufe und Schüsse direkt in
unserer Nähe. Alle rannten weg. Ich dagegen hatte einen Freund dabei, der
nur schlecht laufen konnte, er war bei einem Luftangriff in Syrien verletzt
worden.
Die Polizisten schnappten uns gleich. Einer schlug mir in den Rücken und
auf den Kopf. Dann rammte er mir das Gewehr in die Rippen. Als ich auf dem
Boden lag, trat mich ein anderer vor den Kopf, meine Brille zerbrach. Warum
attackierten sie mich dermaßen? Hielten sie mich für einen Schmuggler?
Keine Ahnung. Am Ende brachten sie uns zurück zur Grenze, richteten ihre
Gewehre auf uns und schrien, wir sollten abhauen, zurück nach Syrien.“
Das sind die Worte eines Mannes aus Daara, die zeigen, wie streng die
Türkei ihre Grenze zu Syrien inzwischen abschottet. Seine Geschichte ist
kein Einzelfall. 51 Syrer, denen irgendwie doch noch die Flucht in die
Türkei gelungen ist, hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
(HRW) in der zweiten Oktoberhälfte befragt. Alle berichteten, dass die
türkischen Polizisten und Soldaten seit mehreren Monaten keine Flüchtlinge
mehr über die Grenze lassen.
Die einzige Möglichkeit, die es noch gebe, sei, es nachts mit einem
Schmuggler durch das hüglige Gelände am westlichen Ende der Grenze, bei
Idlib und Latakia, zu versuchen. Mehrere Tausend Flüchtlinge warteten Nacht
für Nacht in den Hügeln auf syrischer Seite auf die Chance, die Grenze zu
überqueren. Wer geschnappt wird, kommt in ein Militärlager und wird nach
einigen Tagen in Haft oft in Gruppen zu Hunderten wieder abgeschoben. Wer
Pech hat wird geschlagen und gequält, bevor man ihn zwingt, wieder nach
Syrien zurückzulaufen.
## Rückwirkungen auf die Grenze
Vom Horror an der syrischen Grenze bekommt man in Europa nichts mit, und
auch türkische Medien berichten so gut wie gar nicht darüber. Doch die
gewaltsamen Zurückweisungen der vor Luftangriffen und den Terrormilizen des
IS fliehenden syrischen Zivilisten sind auch ein Ergebnis der europäischen
Politik. Die Forderung nach einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen, einem
Flüchtlingsstopp gar, hat Rückwirkungen bis auf die syrisch-türkische
Grenze.
Die Türkei, so HRW, verdient Respekt und Anerkennung dafür, dass sie in den
letzten drei Jahren mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge
aufgenommen und versorgt hat. „Trotzdem ist sie nach den Regeln der Genfer
Flüchtlingskonvention verpflichtet, weiterhin ihre Grenze für Asylsuchende
Syrer offen zu halten“, schreibt die Menschenrechtsorganisation in ihrem
Report. Doch das ist längst nicht mehr der Fall und könnte auch bald an der
türkisch-griechischen Grenze zu Ende sein. Rund 420.000 syrische
Flüchtlinge sind allein in diesem Jahr über die Türkei nach Griechenland
gereist. Damit soll jetzt Schluss sein.
Am Sonntag treffen sich die Chefs der EU-Staaten in Brüssel mit dem
türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoğlu, um ein umfassendes Abkommen
zur Regelung der Flüchtlingsfrage mit der Türkei abzuschließen. In der
letzten Fassung der in Brüssel vorbereiteten Vereinbarung steht, die „EU
und die Türkei werden ihre Zusammenarbeit mit dem Ziel verstärken, eine
illegale Einreise in die EU zu verhindern“. Darüber hinaus soll verhindert
werden, dass Flüchtlinge überhaupt erst „irregulär“ in die Türkei komme…
HRW fordert die EU Staaten deshalb auf, bei den Verhandlungen festzulegen,
dass die türkischen Grenzer auch weiterhin Asyl suchende Syrer ins Land
lassen.
Das wird wohl kaum passieren. Die Regierungschefs und Präsidenten der
EU-Staaten, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben im Moment ganz
andere Prioritäten. Der massenhafte Zuzug von Flüchtlingen in diesem Jahr
droht die EU in ihren Grundfesten zu erschüttern und die Bundesregierung
vor eine Zerreißprobe zu stellen. Zwar will Merkel nach wie vor die
Fluchtursachen bekämpfen, [1][doch erst einmal muss die Zahl der
Flüchtlinge drastisch sinken], und zwar schnell. Der Druck, rasch zu
Ergebnissen zu kommen, erweist sich als enorme Bürde.
## Ständiger Pendelverkehr
Denn im Gegensatz zur EU hat die türkische Regierung vergleichsweise viel
Zeit. Im ständigen Pendelverkehr zwischen Brüssel und Ankara hat der
Holländer Frans Timmermans, der erste von sieben Vizepräsidenten der
EU-Kommission, in den letzten Wochen geradezu verzweifelt versucht, ein
Abkommen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der
türkischen Regierung auf den Weg zu bringen. Doch wenn die EU-Spitzen am
Sonntag mit Ahmet Davutoğlu zusammenkommen, ist noch gar nichts klar,
geschweige denn liegt ein unterschriftsreifes Papier auf dem Tisch.
Das fängt schon beim scheinbar einfachsten Punkt an, dem Geld. Die
EU-Kommission bietet der Türkei für die Unterstützung der 2,2 Millionen
syrischen Flüchtlinge, die bereits im Land sind, drei Milliarden Euro an,
verteilt auf die kommenden drei Jahre.
Abgesehen davon, dass das Geld noch längst nicht zusammen ist – die
Kommission will 500.000 Euro bereitstellen, den Rest sollen die
Mitgliedsländer aufbringen, doch außer Deutschland hat sich noch kein
weiterer Zahler gefunden –, hat die türkische Regierung da ganz andere
Vorstellungen. Drei Milliarden ja, aber jedes Jahr, also neun Milliarden in
drei Jahren. Schließlich hat die Türkei bis jetzt alleine bereits 7,5
Milliarden Dollar für die Flüchtlinge ausgegeben, ohne große Hilfe aus
Europa, wie Erdoğan und Davutoğlu zu Recht betonen.
Zweitens will die EU der Türkei einen „Neustart“ in den
Beitrittsverhandlungen, die seit Jahren auf Eis liegen, anbieten. In der
Türkei glaubt das niemand, denn Merkel und Hollande sind jetzt so wenig
bereit, dem Land eine echte Beitrittsperspektive anzubieten, wie Merkel und
der damalige Präsident Sarkozy es vor neun Jahren waren.
## Die Zeit vor und nach Paris
Bleibt als Letztes die türkische Forderung nach der Aufhebung der
Visumpflicht für die Einreise in die EU, die bei anderen
Beitrittskandidaten nach Beginn der Verhandlungen auch zur Geltung kam.
Gerade Deutschland hat sich lange dagegen gesträubt, doch unter dem Druck
der „Flüchtlingswelle“ schien Merkel zuletzt bereit, umzusteuern und dem
Anliegen zuzustimmen. Doch das war vor Paris.
Jetzt die Visumpflicht für knapp 80 Millionen Türken aufzuheben dürfte
wesentlich schwieriger werden, als es das vor den Terroranschlägen war.
Ohne Aufhebung der Visumpflicht ist die Türkei aber nicht bereit, ein
Abkommen zu unterzeichnen, mit dem sie sich verpflichtet, illegal nach
Griechenland eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Das aber ist das
Kernelement, um den Zuzug in die EU zu stoppen.
Kommt es jedoch zu keiner Vereinbarung mit der Türkei, wird es wohl an der
griechisch-türkischen oder bulgarisch-türkischen Grenze ähnliche Szenen
geben wie schon an der türkischen Grenze zu Syrien: gewaltsame
Zurückweisungen von Flüchtlingen mit allen hässlichen Begleiterscheinungen,
die dazugehören. Denn die Sicherung der EU-Außengrenze, so betont auch
Kanzlerin Merkel in letzter Zeit immer wieder, ist die unbedingte
Voraussetzung, um die bereits gekommenen Flüchtlinge integrieren und die
innere Freizügigkeit aufrechterhalten zu können.
28 Nov 2015
## LINKS
[1] /Bundestagsdebatte-zur-Fluechtlingspolitik/!5251939/
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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