# taz.de -- Terrorismusexperte über IS: „Gefahr höher als jemals zuvor“ | |
> Mit den Anschlägen in Beirut und Paris lenkt der IS von seiner | |
> militärischen Schwäche in Syrien ab, sagt Terrorismusexperte Peter | |
> Neumann. | |
Bild: Geschwächt? Luftbild eines russischen Angriffs auf die IS-Hochburg Rakka… | |
taz: Herr Neumann, waren Sie überrascht über die Anschläge in Paris? | |
Peter Neumann: Ich war nicht überrascht darüber, dass es Anschläge in Paris | |
gab. Wohl aber über das Ausmaß und die Tatsache, dass der Islamische Staat | |
schon dazu in der Lage zu sein scheint, aus Syrien gesteuerte, komplexe | |
Operationen in Europa durchzuführen. Ich dachte, dass das bisherige Muster, | |
nach denen der IS zu Anschlägen aufruft, Einzeltäter diese dann auf eigene | |
Faust durchführen, noch eine Weile weitergeht. | |
Gibt es Belege dafür, dass die IS-Zentrale in Syrien die Anschläge | |
tatsächlich geplant hat? | |
Der französische Premierminister hat das am Montagmorgen bekannt gegeben. | |
Es spricht auch vieles dafür: Die Attentäter haben sich sehr routiniert und | |
geschickt verhalten, das deutet auf eine Form von militärischen Training | |
hin. Dass die Gruppe offensichtlich aus verschiedenen Ländern kam – | |
Frankreich, Belgien, Syrien –, deutet darauf hin, dass es nicht um typische | |
Homegrown-Terroristen geht, die sich schon aus der Schule kennen und | |
gemeinsam radikalisiert haben. Das sieht aus, als sei hier ein Team mit | |
unterschiedlichen Kompetenzen zusammengestellt worden: Wer kennt sich mit | |
Sprengstoff aus? Wer spricht Französisch und so weiter. Das alles deutet | |
darauf hin, dass es gesteuert wurde – aus Syrien. | |
Einer der Attentäter ist als Flüchtling über Griechenland gekommen, wie die | |
Überprüfung seiner Fingerabdrücke zeigt. | |
Das ist für die Diskussion in Europa eine ganz problematische Entwicklung. | |
Man sollte die zwei Herausforderungen Terrorismus und Flüchtlinge nicht | |
vermengen, aber das wird jetzt noch schwieriger. Populisten werden das | |
ausschlachten und gegen Flüchtlinge Stimmung machen. Für ihre Aufnahme eine | |
Lösung zu finden, wird in Europa noch schwieriger. Man muss aber sagen: Es | |
gibt jetzt diesen einen Fall in Paris, es gibt aber keinerlei Indizien für | |
eine massenhafte Einschleusung von IS-Kämpfern über die Flüchtlingsroute. | |
Keine weiterer Verdachtsfall hat sich erhärtet. Es geht also höchstens um | |
eine sehr kleine Zahl. Zudem gab es schon vor der Flüchtlingswelle für den | |
IS die Möglichkeit, Leute mit gefälschten Pässen nach Europa zu bringen. | |
Neben den Anschlägen in Paris hat sich der IS auch zum Absturz des | |
russischen Passierflugzeugs auf dem Sinai und dem Attentat in Beirut | |
bekannt. Gibt es einen Strategiewechsel beim IS? | |
Das muss man abwarten. Klar ist, dass der IS in seinem Kerngebiet in Syrien | |
und im Irak mächtig unter Druck steht. Er hat viele Gebiete, die er letztes | |
Jahr erobert hat, wieder verloren oder steht kurz davor. Die Anschläge in | |
Paris, Scharm al-Scheich und Beirut lenken davon ab. Im Internet kann man | |
beobachten, dass viele der Unterstützer des IS, die vor einem Monat noch | |
etwas deprimiert und zweifelnd waren, jetzt wieder begeistert sind. Wenn | |
das so beabsichtigt ist, ist das eine clevere Strategie. | |
Heißt das zugespitzt: Je erfolgreicher der IS in seinem Kerngebiet bekämpft | |
wird, desto mehr Anschläge wird es außerhalb dessen geben? | |
Man weiß aus der Geschichte terroristischer Organisationen, dass, wenn sie | |
unter Druck stehen, meistens die schlimmsten Anschläge verübt werden, wie | |
1995 der Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn. | |
Übernimmt der IS also die alte Strategie von al-Qaida: mit gut geplanten, | |
komplexen Anschlägen den fernen Feind treffen? | |
Es gibt diese Tendenz. Ich gehe trotzdem davon aus, dass die größere Zahl | |
der Anschläge auch künftig von Einzeltätern ausgehen wird, wie auf den | |
koscheren Supermarkt in Paris im Januar oder kurz darauf in Kopenhagen. Der | |
IS hat schon aus dem Scheitern al-Qaidas gelernt: Al-Qaida hat ja die | |
ganzen 2000er Jahre versucht, komplexe Anschläge durchzuführen, die | |
meistens gescheitert sind. | |
Der französische Premierminister hat am Montagmorgen gesagt, der IS plane | |
auch Operationen in anderen europäischen Ländern. Kennen Sie die Belege? | |
Nein. Es ist aber nicht auszuschließen. Ich habe bislang nicht gedacht, | |
dass es in Westeuropa große, vom IS gesteuerte Netzwerke gibt, aber der | |
Anschlag in Paris hat gezeigt, dass es so ist. Wenn es davon noch mehr | |
gibt, sind Anschläge durchaus möglich. | |
Halten Sie solche Anschläge auch in Deutschland für möglich, wo die | |
dschihadistische Szene ja deutlich kleiner ist? | |
Die Terrorismusgefahr ist wahrscheinlich höher als jemals zuvor in den | |
letzten 10 bis 15 Jahren. Auch in Deutschland hat sich etwas | |
zusammengebraut mit Auslandskämpfern, mit Unterstützern im Internet und so | |
weiter. Aber die Szene in Deutschland ist wesentlich kleiner als in | |
Frankreich und Belgien, die Anzahl der Ausreisen nach Syrien sind gemessen | |
an der Einwohnerzahl deutlich geringer. Ich glaube, andere Länder sind | |
stärker gefährdet. | |
Wie bei den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt im | |
Januar waren den Sicherheitsbehörden einige der Täter bekannt. Fehlt den | |
Sicherheitsbehörden der nötige Einblick in die Szene? | |
Dass der Anschlagsplan nicht entdeckt wurde, lässt aufhorchen. Ein | |
Anschlagsplan, der wahrscheinlich über Monate hinweg geplant wurde, bei dem | |
sicher Dutzende Leute über Telefon, Mails und WhatsApp miteinander | |
kommuniziert haben. Mehr Verständnis habe ich dafür, was diese einzelnen | |
Attentäter angeht. Die Kapazität der Sicherheitsbehörden ist an ihre Grenze | |
gelangt. Es sind so viele Fälle, da kann nicht jeder weiterverfolgt werden. | |
Da muss ständig abgewogen werden, wie gefährlich jemand ist. Dabei | |
passieren Fehler. | |
Warum sind die dschihadistischen Szenen in Frankreich und Belgien so groß? | |
Meine Erklärung ist, dass in beiden Ländern über Jahrzehnte | |
gesellschaftspolitisch viel versäumt worden ist. Die Marginalisierung und | |
Ghettoisierung der Kinder und Enkel der Einwanderer ist noch viel größer | |
als in Deutschland. Die jungen Menschen, die von Frankreich nach Syrien | |
gehen, sind zwar Franzosen, aber sie haben keine wirkliche Chance, Teil des | |
republikanischen Projekts zu sein. Das macht das Rekrutieren leicht. Ich | |
kenne Dutzende von Geschichten von jungen Männern, die sich im Internet | |
diese Videos von Auslandskämpfern anschauen, die genau wie sie waren. Und | |
jetzt sind es Helden, haben Macht, können ihre Maskulinität ausleben, | |
kämpfen für eine gute Sache. Das ist attraktiv. | |
Unternehmen die europäischen Länder genug, um die Radikalisierung dieser | |
jungen Leute zu stoppen? | |
Mit Sicherheitsmaßnahmen allein werden wir dieses Problem nicht in den | |
Griff kriegen. Wir brauchen viel mehr Prävention, und diese gibt es – 14 | |
Jahre nach 9/11 – weder in Frankreich noch in Deutschland. Und zwar weder | |
in ausreichendem Maß noch ausreichend koordiniert. Wir brauchen dringend | |
eine gut finanzierte nationale Präventionsstrategie. In Deutschland | |
findet zwar Prävention statt, aber es ist Kraut und Rüben. Erfolgreiche | |
Projekte sind absolut unterfinanziert. Ein Beispiel: In Bremen gibt es eine | |
Beratungsstelle für Eltern, deren Kinder sich radikalisieren: Kitab. Sie | |
hat viele Ausreisen verhindert. Kitab ist für ganz Norddeutschland | |
zuständig, hat 150 Fälle und bekommt vom Bundesinnenministerium Geld für | |
zwei halbe Stellen. | |
17 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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