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# taz.de -- Kommentar Terrorismusbekämpfung: Schwer zu fassen
> Alle bisherigen Erklärungen des Terrorismus sind gefällig – und falsch.
> Man muss stattdessen über Geld und Finanzierung reden.
Bild: Französische Soldaten patrouillieren vor der Kathedrale Notre Dame in Pa…
Noch stehen die Ermittlungen ganz am Anfang, noch ist bedrückend wenig über
den Hintergrund und das Netzwerk der Attentäter von Paris bekannt. Aber in
einer Hinsicht herrscht fast vollständige Übereinstimmung in ganz Europa:
Dass nämlich die Anschläge ein Angriff auf unser Wertesystem, unseren
Lebensstil und die Freiheitsrechte des Westens waren.
Diese Erklärung stärkt das Gemeinschaftsgefühl und die Bereitschaft zur
Gegenwehr auf dem Kontinent. Aber sie ist vermutlich falsch. Leider. Der
Kampf gegen den Terrorismus wäre leichter zu führen, wenn sie richtig wäre.
In der vergangenen Woche starben 43 Menschen bei Bombenanschlägen auf ein
Einkaufszentrum in Beirut, 18 Todesopfer forderte ein Angriff auf eine
Moschee in Bagdad während einer Beerdigung. (Nein, derlei gehört selbst in
Bagdad nicht zum normalen Alltag, wie auch immer man sich in Deutschland
die Verhältnisse dort vorstellt.)
Gut zwei Wochen ist es her, dass ein russischer Ferienflieger in Ägypten
abstürzte, vermutlich, weil ein Sprengsatz an Bord geschmuggelt worden war.
Zu allen Gewalttaten hat sich der „Islamische Staat“ (IS) bekannt, ebenso
wie zu den Massakern in Paris.
## Nicht nur der Westen ist Ziel
Wenn man überhaupt ein geografisch abgrenzbares Etikett auf die
Terrororganisation kleben will, dann passt noch am ehesten, dass sie
gegenwärtig vor allem um die Vorherrschaft in der Levante ringt.
Bisher waren alle größeren Angriffe außerhalb dieser Region – also auch in
Europa – gegen Staaten gerichtet, die sich dort militärisch engagiert
haben. Aber selbst diese Zuschreibung ist wackelig, seit der IS Verbündete
wie Boko Haram im weit entfernten Nigeria akzeptiert hat.
Keine Frage: Der westliche Lebensstil missfällt den Religionskriegern,
ebenso wie der Kanon der Menschenrechte. Das Massaker in der Redaktion des
Satiremagazins Charlie Hebdo richtete sich eindeutig gegen die
Meinungsfreiheit.
Aber kann man daraus jetzt – wie geschehen – schließen, dass auch die
Anschläge in Paris vor allem gegen Ziele gerichtet waren, in denen der
westliche Lebensstil gefeiert wurde? Das ist ziemlich gewagt. Vielleicht
ging es einfach darum, möglichst viele Opfer gleichzeitig zu treffen.
## Kampf der Klassen?
Sogar Dschihadisten müssen übrigens gelegentlich einkaufen. Die Attentate
auf ein Einkaufszentrum in Beirut scheinen sich – zumindest hinsichtlich
des Orts – nicht für eine weltanschauliche Begründung zu eignen.
Handelt es sich beim Terror vielleicht in Wahrheit um einen Kampf der
Klassen und nicht um einen der Religionen? Auch das wäre eine erfreuliche
Erklärung – weil es wenigstens eine Erklärung wäre. Aber selbst diese
Analyse hilft nicht recht weiter.
Attentäter von al-Qaida und dem IS, der sich erst 2013 von der
Mutterorganisation abgespalten hat, stammten aus fernen Ländern oder sind
dort aufgewachsen, wo sie ihre Anschläge verübten. Sie gehörten zur
Mittelschicht oder – wie Osama bin Laden – zur Oberschicht oder zur
chancenlosen Unterschicht der Vorstädte.
Man kommt um die deprimierende Erkenntnis offenbar nicht herum: Attentäter
von IS wie auch von al-Qaida sind Chamäleons, die ihre Begründungen jeweils
dem anpassen, was für einen Anschlag im Einzelfall besonders überzeugend zu
sein scheint.
## Grenzen der Überwachung
Auch im Hinblick auf den möglichen Kreis von Terroristen sind Dienste nicht
zu beneiden, die mögliche „Gefährder“ zu identifizieren suchen. Wenn sich
bewahrheitet, dass 15-Jährige an den Anschlägen in Paris beteiligt waren –
dann kann man jede Hoffnung auf die Erfolge langfristiger Überwachung
fahren lassen. Oder will man künftig 7-jährige Abc-Schützen aus
muslimischen Familien routinemäßig überwachen?
Es gibt, allen bisherigen Erkenntnissen zufolge, im Zusammenhang mit der
Suche nach dschihadistischen Attentätern vor allem zwei Probleme: Zum
einen, dass sie sich weder regional noch sozial auf einen bestimmten
möglichen Kreis hin eingrenzen lassen.
Zum anderen, dass Fanatismus, der nicht auf eine Verbesserung der
Verhältnisse im Diesseits abzielt, besonders schwer zu bekämpfen ist. Wenn
Jugendliche gern sterben wollen, weil sie auf Lohn für ihre Taten im
Jenseits hoffen, dann sind sie – jedenfalls kurzfristig – nicht mit
Überzeugungsarbeit erreichbar.
## Alarmierend gut organisiert
Der IS ist eine moderne Organisation. Er nutzt das Internet zur
Rekrutierung, und er arbeitet effizient über Grenzen von Ländern und
Kontinenten hinweg. Anders ausgedrückt: Er nutzt die Mechanismen der
Globalisierung zum eigenen Vorteil.
Vor diesem Hintergrund wirken alle Versuche, die Anschläge geografisch oder
auf Wertesysteme hin einzugrenzen, bestenfalls hilflos. Oder eurozentrisch.
Man könnte auch sagen: altmodisch.
Im Zusammenhang mit den Attentaten in Paris ist der wirklich alarmierende
Faktor, wie gut die Terroristen offenbar organisiert waren. Die Frage
danach, ob wirklich „alle“ Gewalttäter tot sind, ist albern. Für eine
derart sorgfältig vorbereitete Aktion werden Dutzende von Mittätern
gebraucht. Und Geld. Und Ortskenntnisse. Und Erfahrung. Und noch vieles
andere. Natürlich gibt es Drahtzieher der Anschläge, die untergetaucht
sind.
## IS wirtschaftlich bekämpfen
Was also tun? Zweierlei. Zum einen wird man sich – so schrecklich das auch
ist – in Europa so wie im größten Teil des Rests der Welt daran gewöhnen
müssen, dass wir alle jederzeit gefährdet sind. Einen vollständigen Schutz
vor Anschlägen gegen „weiche“ Ziele wie Restaurants, Sportstadien und
Konzerthallen gibt es nicht. Nicht einmal bei Einrichtung eines
Polizeistaats.
Zum anderen aber kann und sollte man jenseits jeder Kriegsrhetorik die
Organisation dort treffen, wo es ihr am meisten weh tut: beim Geld. Die
Finanzierung des IS durch Ölverkäufe, durch das Verscherbeln von
Antiquitäten, durch die Erpressung von Lösegeld – all das muss, soll und
kann sich verhindern lassen.
Es wird teuer, weil Rüstungskonzerne viel Geld verlieren, wenn
Waffenexporte in bestimmte Länder endlich verboten werden. Es wird
außenpolitisch schwierig, weil – vermeintliche – Verbündete des Westens
sich wehren werden. Aber es gibt keine Alternative, jedenfalls keine, die
Erfolg verspricht.
16 Nov 2015
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
Schwerpunkt Islamistischer Terror
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CIA
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