# taz.de -- Nigerianische Flüchtlinge: Es geht nicht nur um Boko Haram | |
> 2,1 Millionen Nigerianer sind auf der Flucht vor der islamistischen | |
> Terrorgruppe. Auf den Weg nach Europa machen sich die wenigsten von | |
> ihnen. | |
Bild: Händler versprechen geflüchteten Frauen Jobs in Europa. | |
ABUJA UND AGADEZ taz | Wer nigerianische Flüchtlinge fragt, warum sie ihre | |
Heimat verlassen haben, bekommt fast immer dieselbe Antwort: Boko Haram – | |
und das europäische Kopfkino fängt an zu rattern. Es zeigt Bilder von | |
entführten Mädchen, die vergewaltigt, zwangsverheiratet und zu | |
Attentäterinnen ausgebildet werden, von brennenden Kirchen und Moscheen | |
sowie brutalen Anschlägen auf Wochenmärkte und Busbahnhöfe. | |
„Hier ist Boko Haram nicht“, sagt der junge magere Mann, der sich Alabama | |
nennt und es bis in die Migrantenhochburg Agadez im Nachbarland Niger | |
geschafft hat. Es ist Sonntagnachmittag, Alabama und zwei Freunde sitzen in | |
einer Bar am Stadion und trinken Bier und Cola. Aus Alabamas Handy tönt | |
laute Musik. Untereinander sprechen sie Pidginenglisch und Yoruba, da alle | |
aus der Nähe von Lagos im Südwesten Nigerias stammen. Die Gegend, in der | |
Boko Haram wütet, haben sie nie auch nur besucht. | |
Trotzdem nennen sie die Terrorgruppe als Fluchtgrund – wie so viele | |
Nigerianer, die in Agadez gestrandet sind. Die meisten sind Igbo und | |
stammen aus dem Südosten, wo sie als Händler bekannt sind. In der | |
Wüstenstadt, die auf dem Weg nach Libyen liegt, bewohnen sie ein eigenes | |
Viertel. In den Bars gibt es Okra oder Pepper Soup. Auf den Tischen stehen | |
leere Bierflaschen, und im Fernsehen scheinen nur zwei Programme zu laufen: | |
schlechte Nollywood-Streifen und die Endlosgottesdienste nigerianischer | |
Prediger. Haussa, die Verkehrssprache des Nordens, spricht hier kaum | |
jemand. | |
Auch Americana nicht, der Alabama und seine Kumpels in der Bar trifft. Er | |
ist kahl rasiert, trägt ein sorgfältig gebügeltes Hemd, dunkle Jeans und | |
eine große Gürtelschnalle. Ständig hängt er an einem seiner Telefone, bis | |
er irgendwann von drei Mädchen spricht, die bald in Agadez ankommen sollen. | |
Seine Leute – junge Männer wie Alabama – werden sie in Empfang nehmen, sich | |
kümmern und Handlangerdienste verrichten. Damit überleben sie in Agadez. | |
## Zwangsprostitution für Reisekosten | |
Ankommen werden nicht die Frauen, die vor Boko Haram flüchten, sondern | |
Mädchen aus der Hochburg des nigerianischen Menschenhandels, der Region um | |
Benin City im Südosten Nigerias. Händler versprechen ihnen eine | |
Schulausbildung in Europa, später Jobs und nennen „Mithilfe in Haushalten“ | |
als Gegenleistung. | |
Tatsächlich landen die Frauen auf dem Strich – in Italien, Deutschland oder | |
den Niederlanden. Doch schon auf dem Weg dorthin werden sie zur | |
Prostitution gezwungen, um – so sagen es die Schlepper – ihre Reisekosten | |
zu finanzieren. Auch in Agadez leben Dutzende dieser Frauen. Sie sind zwar | |
nicht im Zentrum der Stadt zu sehen, aber jeder weiß von ihnen. | |
Die Vorstellung, in Europa ein gesichertes Einkommen finden zu können, ist | |
für viele junge Nigerianer verlockend. Ihr Heimatland ist zwar Afrikas | |
größter Öllieferant und war nach der Unabhängigkeit 1960 für sein gutes | |
Bildungssystem und traditionsreiche Universitäten bekannt. Während des | |
Ölbooms der 70er Jahre zogen bis zu eine Million Ghanaer nach Nigeria. | |
Doch wer heute nicht aus einer wohlhabenden Familie stammt und über ein | |
Netzwerk einflussreicher Kontakte verfügt, hat es schwer, an Jobs mit | |
annehmbarer Bezahlung zu kommen. Vor allem gibt es kaum Chancen für einen | |
sozialen Aufstieg. Im Juni sagte Vizepräsident Yemi Osinbajo, dass mehr als | |
100 Millionen Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze leben. | |
Zu den Ärmsten gehören derzeit die mehr als 2,1 Millionen Nigerianer, die | |
vor Boko Haram auf der Flucht sind. So lautet die jüngste Schätzung der | |
Internationalen Organisation für Migration (IOM). Allein im Bundesstaat | |
Borno, der die Hochburg der Terrorgruppe ist, haben 1,65 Millionen Menschen | |
ihre Heimatdörfer verlassen, sagt Stéphanie Daviot, die für die Erfassung | |
der Flüchtlinge zuständig ist. | |
## Heimkehr als größter Wunsch | |
Wenn Boko Haram nach Angaben von nigerianischen Sicherheitskräften auch auf | |
dem Rückzug ist, so gelingt es den IOM-Mitarbeitern doch nach wie vor | |
nicht, alle betroffenen Gebiete zu besuchen. „Deshalb ist es gut möglich, | |
dass die tatsächliche Zahl noch höher ist“, schätzt Daviot. | |
Auf nach Europa machen sich die Betroffenen in aller Regel jedoch nicht. | |
Stattdessen fliehen sie in die Provinzhauptstädte wie Maiduguri oder Yola | |
(Bundesstaat Adamawa), eventuell in die Vororte der Hauptstadt Abuja oder | |
in die Grenzregionen der Nachbarländer Niger und Kamerun. Die Flucht | |
geschieht meist sehr spontan. Wenn die Terroristen ein Dorf überfallen oder | |
neue Anschläge verüben, bleiben oft nur wenige Stunden Zeit. | |
Viele der Betroffenen sind Farmer, die kein Englisch sprechen. Haben sie | |
ihren Heimatort verlassen, dann gibt es für viele häufig nur einen Wunsch: | |
so schnell wie möglich zurückzukehren. In den Flüchtlingscamps spricht | |
niemand von Deutschland, Schweden oder Italien. | |
In Europa spricht hingegen kaum jemand davon, dass die Terrorgruppe nur in | |
einem kleinen Teil des Landes verankert ist. Betroffen sind neben Borno vor | |
allem die Bundesstaaten Adamawa und Yobe. Ab und zu kommt es zwar auch an | |
anderen Orten in Nord- und Zentralnigeria zu Anschlägen, doch das ist die | |
Ausnahme. Schon vor zwei Jahren kritisierte Imam Muhammad Ashafa, einer der | |
Gründer des weltweit bekannten Interfaith Mediation Centre in Kaduna, dass | |
die Situation in seiner Heimat oft falsch dargestellt werde. „Es ist nicht | |
so, dass der ganze Norden brennt. Boko Haram betrifft nur einen kleinen | |
Teil des Landes.“ | |
Alabama jedoch bleibt bei seinem Fluchtgrund. Als er sein zweites Bier | |
getrunken hat, sagt er allerdings: „Vielleicht will ich gar nicht bis nach | |
Europa. Hier kann ich auch Geld verdienen.“■Die Serie:Vor dem Teil IV zu | |
Nigeria erschienen taz-Schwerpunkte über [1][„Fluchtgründe“ aus Syrien], | |
Eritrea und [2][Afghanistan.] | |
12 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] /Gruende-fuer-die-Flucht-aus-Syrien/!5227175/ | |
[2] /Gruende-fuer-die-Flucht-aus-Afghanistan/!5238378/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
## TAGS | |
Boko Haram | |
Nigeria | |
Zwangsprostitution | |
Menschenhandel | |
Nigeria | |
Nigeria | |
Elfenbeinküste | |
Boko Haram | |
Joachim Gauck | |
Afrika | |
Nigeria | |
Tschad | |
Nigeria | |
Handydaten | |
Nigeria | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schweiz will Migranten fernhalten: Abschreckung per Fernsehserie | |
Die Schweiz produziert eine TV-Serie für Nigeria. So sollen Migranten und | |
Flüchtlinge von der Reise nach Europa abgehalten werden. | |
Klimawandel begünstigt Boko Haram: Zwischen Öko-Desaster und Terror | |
Der Tschadsee ist fast tot, und die Terrormiliz herrscht. Den Zusammenhang | |
bemerkt die Welt erst jetzt. | |
Terror in der Elfenbeinküste: Anschlag in Grand-Bassam | |
Mindestens 18 Menschen werden getötet, 23 verletzt. Verantwortlich für die | |
Tat ist offenbar die Terrorgruppe Al-Kaida im Islamischen Maghreb. | |
Anti-Terror-Offensive aus Kamerun: 162 Boko-Haram-Kämpfer getötet | |
Die kamerunische Armee erobert die nigerianische Stadt Goshi zurück. Rund | |
100 Menschen werden befreit. Ihnen droht Diskriminierung und Verfolgung. | |
Bundespräsident in Nigeria: Gauck gegen den Terror | |
Bei den Opfern von Boko Haram in Nigeria kann der deutsche Staatschef wenig | |
tun außer zuhören. Am Freitag geht’s weiter nach Mali. | |
Kriminelle Geschäftsleute aus Nigeria: Schlechter Ruf aus guten Gründen | |
Nigerias Geschäftsleute gelten in afrikanischen Ländern als unehrlich, wenn | |
nicht als kriminell. Das kommt nicht von ungefähr. | |
Meinungsfreiheit in Nigeria: Knast für kritische Tweets | |
In Nigeria könnten kritische Kommentare in Online-Medien bald bestraft | |
werden. Jetzt twittert die Zivilgesellschaft dagegen an. | |
Bomben auf Marktplatz: Rund 30 Tote bei Anschlag im Tschad | |
Auf einem Markt auf der Insel Koulfoua im Tschadsee explodierten drei | |
Bomben. Rund 30 Menschen starben, 80 wurden verletzt. Wer dahintersteht, | |
ist unklar. | |
Boko Haram in Kamerun und Nigeria: Fünf Selbstmordanschläge | |
Fünf junge Frauen haben sich in Kamerun und Nigeria in die Luft gesprengt. | |
Acht Menschen wurden in den Tod gerissen. Boko Haram scheint seine | |
Strategie zu ändern. | |
Flucht in Afrika: Endstation Agadez | |
Die nigrische Stadt Agadez liegt auf der Transitstrecke für Migranten. Die | |
einen wollen nach Europa, die anderen zurück in ihre Heimat. | |
Terrorbekämpfung in Nigeria: Kein Anschlag unter dieser Nummer | |
Afrikas größter Handy-Provider soll in Nigeria mehr als 5 Milliarden Dollar | |
Strafe zahlen. Das hat mit Boko Haram zu tun. | |
Boko-Haram in Nigeria: Selbstmord im Gotteshaus | |
Fast 60 Menschen sterben bei Anschlägen auf Moscheen in Nigeria. | |
Boko-Haram-Kämpfer erobern zudem kurzzeitig eine Stadt im Norden Kameruns. |