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# taz.de -- Gastbeitrag von Linken-Chefin Kipping: Flüchtlinge, dem Amt ausgel…
> „Das Staatsversagen ist nicht erkennbar, denn die Freiwilligen gleichen
> es aus“ – über die Arbeit der Helfer vor dem Lageso in Berlin.
Bild: Warten und frieren: Flüchtlinge vor dem Lageso in der Turmstraße in Ber…
Bangladesch, Türkei, China, die Etiketten der Kinderbekleidung, die ich
nach Größen sortieren soll, haben eine weite Reise hinter sich und dabei
viele Grenzen überschritten. Eine halbe Stunde später helfe ich Menschen
beim Anprobieren, die eine ebenso weite Reise hinter sich haben. Für sie
sind die überwundenen Grenzen, anders als für die T-Shirts und Pullover,
kräftezehrende Hürden. Vielen sieht man die Strapazen noch an. Sie alle
warten am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf ihre
Registrierung oder sind gerade registriert worden.
Wartende werden mit warmen Getränken, mit Hygieneartikeln und Informationen
versorgt. Im Nebengebäude behandeln überwiegend ehrenamtliche Ärzt*innen
Krankheiten. Nicht zuletzt solche, die sich Geflüchtete durch die ewigen
Wartezeiten vor dem Lageso zugezogen haben. Hebammen kümmern sich um
werdende Mütter.
Ich habe eine Schicht bei den Freiwilligen übernommen, die sich hier um so
ziemlich alles kümmern. Schon lange wollte ich einmal eintauchen in die
Arbeit der Freiwilligen und meinen bescheidenen praktischen Beitrag zur
Solidarität mit Geflüchteten leisten – Ende Oktober ist es endlich so weit.
Mit fünf anderen helfe ich bei der Ausgabe und Sortierung von gespendeter
Kleidung, die dem Wetter angemessen ist. Nacheinander gehen die
Geflüchteten durch den Raum, dürfen sich Dinge, die sie benötigen, selbst
auswählen. Wir helfen aussuchen und einschätzen, was im beginnenden Winter
insbesondere die durch den Raum wuselnden Kinder halbwegs warm halten soll.
## Verständigungshilfe
Andere Freiwillige besorgen Kinderwägen. Die sind Mangelware, viele
Familien müssen ihre Kinder den ganzen Tag tragen – und immer wieder wird
nach Dolmetscher*innen gerufen. Arabisch, Farsi, Bosnisch, ganz oft braucht
es Verständigungshilfe. Fast immer findet sie sich nach kurzem Warten.
Durch die Eröffnung einer Zweigstelle ist die Lage am Lageso auf den ersten
Blick nicht mehr so katastrophal wie noch vor einigen Wochen. Tausende
Leute standen manchmal tagelang im Regen auf dem schlammigen Vorplatz.
Übergriffe durch Security-Mitarbeiter beschäftigten erst jüngst das
Abgeordnetenhaus. Heute sind immer noch einige hundert Menschen auf dem
Platz, aber immerhin gibt es ein paar Zelte, die Schutz bieten.
Auf den zweiten Blick fällt auf, was sich alles nicht verändert hat. Ich
schwanke daher zwischen dem Respekt vor der Leistung der Freiwilligen und
der Fassungslosigkeit darüber, wie die Freiwilligen derartig alleingelassen
werden und Arbeiten übernehmen, die sonst Menschen ausüben, die dafür
jahrelang ausgebildet wurden und bezahlt werden müssten.
Nicht, dass die Helfenden nicht professionell arbeiten würden. Im
Gegenteil. Nicht nur die Logistik ist beeindruckend. Das Staatsversagen ist
nicht erkennbar, denn die Freiwilligen gleichen es aus. Wie schon bei
meinem Besuch in Heidenau und in der Dresdner Zeltstadt: Den ganzen Tag
höre ich von keiner/m der Unterstützer*innen ein harsches Wort, auch nicht
in stressigen Situationen. Stattdessen ein sorgsamer Umgang miteinander und
mit den Angekommenen. Immer wieder wird man gefragt, wie es einem geht. Ob
man eine Pause oder eine Erfrischung brauche.
Manche der Geflüchteten sind nach einigen Tagen selbst zu Freiwilligen
geworden. Sie dolmetschen, ordnen und packen mit an. Mehr als ein
Namensschild an der Jacke und ein Kürzel, welche Sprachen gesprochen
werden, braucht es nicht, um sich in die UnterstützerInnenstrukturen
einzufügen.
Wie wenig selbstverständlich dieser sorgsame Umgang miteinander ist, wird
mir noch einmal in der Pause klar. Maria (Name geändert), die mit mir in
der Kleiderkammer arbeitet, spricht davon, wo sich das Fehlen
professioneller Strukturen für sie bemerkbar macht. Neben der
organisatorischen Arbeit ist sie mit Schicksalen von Menschen konfrontiert,
die einen selbst dann überfordern können, wenn man sie nicht selbst erlebt
hat, sondern sie eben nur aus Erzählungen erfährt.
Unter den Ankommenden sind Menschen, die Kinder, Partner und Freund*innen
im Mittelmeer ertrinken sahen. Es sind Menschen unter ihnen, die Gewalt
erfahren und erlebt haben, die man sich in Deutschland kaum vorstellen
kann. Und es sind Menschen, die in einer Situation ankommen, in der sie
halbwegs sicher sind, aber noch lange nicht souveräne Gestalter*innen ihres
Lebens und ihres Alltags sind. Wartende, deren Leben von der
Wartenummernanzeige des Lageso strukturiert wird. Diese Fluchtschicksale
und das Ausgeliefertsein beschäftigen und belasten auch die
Unterstützenden. Sie nehmen dies mit nach Hause.
In stressigen Situationen bleibt wenig Zeit, Missverständnisse auszuräumen.
Maria, die selbst eine Mediationsausbildung hat, meint: Es kann nicht sein,
dass es bei so einer wichtigen Arbeit keine professionelle Supervision
gibt. Verantwortungslos findet sie das, gegenüber den Freiwilligen, aber
auch gegenüber den Geflüchteten. Recht hat sie.
## Kein akzeptabler Zustand
Auch mehrere Monate nachdem die angebliche „Flüchtlingskrise“ ausgerufen
worden ist, ist die oft beschworene Überforderung der Unterstützer*innen
nicht eingetreten. Die Lücken, die das beginnende Semester reißt, weil
viele Studierende wieder in die Seminare müssen, schließen andere. Anders
geht es auch nicht, ich will mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie
nicht da wären. Ein akzeptabler Zustand ist das nicht.
Die Freiwilligen wollen eigentlich das tun, was ein Staat in dem Maße nicht
leisten kann: persönliche Unterstützung, den Ankommenden helfen.
Stattdessen müssen sie sich damit beschäftigen, das Existenznotwendige
bereitzustellen.
5 Nov 2015
## AUTOREN
Katja Kipping
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