# taz.de -- „Über … Menschen“ von den Fehlfarben: Ungewohnte Weltumarmung | |
> Das neue Werk der Fehlfarben ist grundsympathisch. „Über … Menschen“ i… | |
> schnittig im Postpunksound und zaudernd in den Lyrics. | |
Bild: Aus der Zeit gefallen und trotzdem alert: Peter Hein (M.) mit den Fehlfar… | |
In Berlin gibt es eine Gruppe, die nennt sich „Haus Bartleby – Zentrum für | |
Karriereverweigerung“. Hätten die jungen Theoriehipster historisches | |
Bewusstsein, müssten sie Fehlfarben-Sänger Peter Hein zum Ehrenpräsidenten | |
ernennen. Der hatte 1981 den Prototypen der „Karriereverweigerung“ | |
geliefert. Als seine Band nach ihrem Debütalbum „Monarchie und Alltag“ | |
hätte durchstarten sollen, stieg Hein aus. | |
Das sorgt bei vielen bis heute für melancholische Verstimmung. „Mensch, der | |
hätte Deutschlands wahrer Popstar werden können“, sagen nicht nur Fans. Und | |
Janie, wie sich Hein in Jugendtagen nach dem The-Clash-Song „Janie Jones“ | |
benannt hatte, gibt mit jeder Geste zu verstehen: „I don‘t don‘tcare.“ | |
Seit einiger Zeit sind die Fehlfarben wieder vereint, von ein paar | |
personellen Änderungen abgesehen. Thomas Schwebel, der nach Heins Rückzug | |
den Gesangspart übernahm, ist nicht mehr dabei, und auf dem neuen Album | |
ersetzt Thomas Schneider Uwe Jahnke an der Gitarre. | |
Hein lebt immer noch von seiner etatmäßigen Bockigkeit und will sich nur | |
nicht lockermachen. Allerdings ahnt er, dass sich dieser Habitus | |
aufbrauchen könnte. „Hör mal, ich brech doch keinen Streit vom Zaun / Mit | |
Generationen, die sich nichts trau’n / Ich alter Sack hab doch nicht in der | |
Hand / Von wem ich genervt bin / Das ist der Dinge Stand“, heißt es in „Der | |
Dinge Stand“, dem energetischen Hit des neuen Albums. | |
## Platzangst und Zuversicht | |
Seit Hein Ende der Siebziger im Düsseldorfer „Ratinger Hof“ nach der Schule | |
seine Hausaufgaben machte, hat sich die Welt immer schneller weitergedreht, | |
und der inzwischen auf die sechzig Zugehende hat sich eher widerwillig | |
mitgedreht. Jetzt fragt er mal wieder den Sachstand ab und sucht nach | |
Orientierung. Atmosphärisch entfaltet sich auf „Über … Menschen“ eine | |
eigenartige Mischung aus Fehlfarben-typischer Platzangst und grundloser | |
Zuversicht. | |
Eine ungewohnt versöhnliche Note kommt ins Spiel, wenn in „Sturmwarnung“ | |
die Vielfalt der Natur besungen wird oder Hein in der tollen | |
Barockpop-Miniatur „Wir allein“ an seiner alten Rolle zweifelt (“Manchmal | |
möchte ich gar nicht mehr schreien“), um dann mit dem Ausstieg aus allem zu | |
liebäugeln: „Lass uns ganz alleine sein / Lass den Dreck einmal nicht | |
herein.“ | |
Dringlichkeit war gestern, so könnte man das verstehen. Wandelt Peter Hein | |
etwa auf den Pfaden seines großen Fans Jochen Distelmeyer und sucht Trost | |
in der Schönheit der Welt? „Was Besseres als hier / Wo soll es das geben?“, | |
fragt Hein in „Schmerz Wut Genuss Mut“. Die Weltumarmungen auf „Über … | |
Menschen“ klingen so ungewohnt, dass man sich fragt, ob der legendäre | |
Miesepeter einen Positiv-denken-Workshop besucht hat. | |
Immer wieder gibt es subkutane Reminiszenzen, in „So hatten wir uns das | |
nicht vorgestellt“ ist das Saxofon der allerersten Fehlfarben-Single | |
„Abenteuer & Freiheit“ zu hören und das „Testbild“ aus dem gleichnamig… | |
Song der Fehlfarben-Vorgängerband Mittagspause taucht auf. | |
Wirklich berührend ist „Der Mann, den keiner kennt“, ein Lied über eine | |
Type, wie sie in jeder subkulturellen Szene vorkommt: die Nachtleben-Muse, | |
die immer dabei war und andere inspirierte, ohne selbst kulturelles Kapital | |
anzuhäufen. „Hat zu vielen zu viel gegeben / Darum konnten sie ihm alles | |
nehmen“, mit dieser Zeile gedenkt Hein dieses vergessenen Verlierers der | |
Geschichte, einer, wenn man so will, Walter-Benjamin-haften Figur. | |
## Overdubs wie eine angedickte Glasur | |
Die Lyrics schwanken zwischen Optimismus, Melancholie und Zickigkeit, eine | |
gewisse Unentschlossenheit bestimmt auch die Musik. Der Sound wechselt | |
zwischen verhallt und schnittig, zwischen Mucker-Postpunk und | |
unprätentiösem Funkpunk. Timo Blunck von Palais Schaumburg und den | |
Zimmermännern hat das Album gemischt und es dabei mit den Overdubs | |
stellenweise übertrieben. Die klingen oft aufgepfropft, wie eine angedickte | |
Glasur, durch die man sich hindurchhören muss, um zum „Eigentlichen“ der | |
Band vorzudringen. | |
Das mag jetzt eine puristische Kritik sein, doch stand einst auf dem Cover | |
von „Monarchie und Alltag“ nicht das John-Lennon-Zitat „I always liked | |
simple Rock“? Schade, dass dieser Sinnspruch ein bisschen in Vergessenheit | |
geraten ist. Ganz sicher echauffieren werden sich die wahren Puristen über | |
die Minimal-House-Beats, die sich ebenfalls auf dem Album finden. Dabei | |
sind in den Stücken, bei denen sich der für die Dancefloor-Effekte | |
zuständige Tastenmann Kurt „Pyrolator“ Dahlke austoben darf, viele schöne | |
und zeitgenössische Momente zu finden. | |
Ein Zaudern und Zweifeln zieht sich durch das Album, textlich wie | |
musikalisch. Texter und Sänger Peter Hein mag nicht recht entscheiden, ob | |
er sich ins Geschehen hineinwerfen oder sich auf die Position des | |
distanzierten Alltagsphänomenologen zurückziehen soll. Er repräsentiert so | |
viele der Zweifel und Widersprüche, die das Älterwerden des | |
Popsozialisierten prägen. Man fällt aus der Zeit und versucht doch | |
irgendwie dranzubleiben. | |
Weil es diese Ambivalenz auf den Punkt bringt, ist das neue | |
Fehlfarben-Album ein grundsympathisches Werk. Und die sogenannten jungen | |
Leute können hier sicher mehr über Körper und Geist im Kapitalismus | |
erfahren als etwa in den Liedern der Neosexisten von Wanda. „Wenn die Welt | |
nicht so wär, wie sie wär / Hätten alle ein Leben oder auch mehr“, ruft | |
Hein in „Wenn die Welt“ unverzagt. Der stramme Bass treibt das Stück voran, | |
immer weiter und weiter, so als sollte klargestellt werden: Wir werden | |
niemals das Handtuch werfen. Richtig so. | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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