| # taz.de -- Wahl in Österreichs Hauptstadt: Auf dem Weg ins „Blaue Wien“? | |
| > Bei der Wahl in Wien könnte die rechtspopulistische FPÖ gewinnen – selbst | |
| > im traditionell sozialdemokratischen Karl-Marx-Hof. | |
| Bild: Das andere Österreich demonstriert vor dem Parlament für Flüchtlinge. | |
| Wien taz | Die ersten Kastanien liegen auf dem Rasen, ein paar Kinder | |
| tollen auf dem Spielplatz herum. Frau Hermine* sitzt auf einer Bank und | |
| genießt den milden Oktobertag. | |
| „Ich muss Ihnen ehrlich sagen, es gibt zu viele Flüchtlinge“, legt sie, auf | |
| die Stimmung vor den Wahlen angesprochen, los. „Wissen‘s,nix gegen die | |
| wirklich Verfolgten, aber wir können net alle aufnehmen. Das kostet so viel | |
| Geld. Uns nehmen sie überall was weg, überall wird eing‘spart,aber da ist | |
| genug da“, klagt sie. „Ich bin net ausländerfeindlich, aber wenns‘zu viel | |
| wird, wird’s zu viel.“ | |
| Über ihr Leben kann sie sich nicht beschweren. Sie selbst habe noch keinen | |
| Flüchtling zu Gesicht bekommen. Die Ausländer im Gemeindebau verhielten | |
| sich weitgehend angepasst, „die sind net frech, die sind net ekelhaft. Es | |
| sind auch keine Einbrüche da oder Frauenbelästiger.“ Ihre | |
| 42-Quadratmeter-Wohnung sei groß genug für eine alleinstehende Frau Anfang | |
| 70. | |
| Stolz thront der Karl-Marx-Hof, Wiens größter Gemeindebau, am Rand des | |
| Nobelbezirks Döbling. Mit 1.382 Wohnungen und fast 5.000 Bewohnern hat der | |
| festungsartige Komplex die Größe einer Kleinstadt. Zwei Wäschereien, zwei | |
| öffentliche Bäder, zwei Kindergärten, Mütterberatungsstelle, Jugendheim, | |
| eine Bibliothek, Zahn- und Poliklinik, Apotheke, Postamt, Arztpraxen, | |
| Kaffeehäuser, Räumlichkeiten für politische Organisationen und 25 | |
| Gewerberäume machten dieses Symbol des „Roten Wiens“ bei seiner Eröffnung | |
| 1930 zu einem proletarischen Mikrokosmos. | |
| Trotzdem, so Frau Hermine, habe die FPÖ bei den Nationalratswahlen 2013 | |
| hier 38 Prozent erzielt. Bei den Gemeinderatswahlen am Sonntag rechnet sie | |
| mit einer blauen Mehrheit. Auch ihre Stimme, so gibt sie zu, gibt sie | |
| FPÖ-Chef Heinz Christian Strache. Was würde er besser machen? „Des waaß i | |
| net. Aber als Bürgemeister könnt ich mir ihn vorstelln.“ | |
| ## Ein Viertel aller WienerInnen lebt in Gemeindewohnungen | |
| Dejan B., OP-Assistent und Familienvater mit serbischem | |
| Migrationshintergrund, hat keine Angst vor Flüchtlingen. Für die | |
| Wendestimmung hat er aber eine Erklärung: „Der Strache sagt das, was den | |
| Leuten auf der Seele liegt.“ Er glaubt zwar nicht an einen Umschwung – aber | |
| seine Stimme gibt der bisherige SPÖ-Wähler diesmal dem Herausforderer | |
| Strache. Trotz aller Zweifel: „Ich weiß nicht, was er ändern könnte. Ich | |
| lass mich einfach überraschen.“ | |
| Noch heute ist Wien mit 220.000 Wohnungen und 1,8 Millionen EinwohnerInnen | |
| weltweit die Großstadt mit dem höchsten Anteil staatlicher Wohnbauten: Ein | |
| Viertel aller WienerInnen lebt in Gemeindewohnungen. Die Mieten liegen | |
| deutlich unter den marktüblichen Preisen und sind nicht nur niedriger als | |
| in München, London oder Paris, sondern auch als in Innsbruck und Salzburg. | |
| Nach dem Ersten Weltkrieg war vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn nur der | |
| deutschsprachige Westen übriggeblieben, eine katholisch geprägte | |
| Alpenregion, in der die multikulturelle Millionenstadt Wien wie ein | |
| Fremdkörper wirkte. Geprägt haben die Stadt einerseits jüdische | |
| Intellektuelle und andererseits proletarische Zuwanderer aus allen Teilen | |
| der Monarchie, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Ausländern wurden. Die | |
| Metropole war zugleich Sitz konservativer Bundesregierungen und | |
| Experimentierfeld roter Bürgermeister. | |
| ## Das Symbol der Sozialisten | |
| Österreichs Sozialdemokratie war damals eine revolutionäre Bewegung: Die | |
| von ihr gegründeten Arbeitersportvereine, Bibliotheken und öffentlichen | |
| Bäder verschafften dem Proletariat Selbstbewusstsein. Für die | |
| Arbeiterfamilien wurden Gemeindebauten erreichtet. | |
| Diese waren nicht nur weltweit beachtete Hochburgen des sozialen | |
| Wohnungsbaus, sondern auch ästhetisch ansprechende Komplexe, die dem | |
| barocken Wien einen neuen Charakter gaben. Es wurde mit Gemeinschaftsküchen | |
| experimentiert, die die Frauen von der Hausarbeit entlasteten. Und die | |
| Männer waren angehalten, ihre Partnerinnen bei Kindererziehung und | |
| Reinigungsarbeit zu unterstützen. | |
| In Wien tobte ein Kulturkampf, der zu rabiaten Reaktionen des Klerus | |
| führte. Während des Bürgerkriegs 1934 wurde der Karl-Marx-Hof vom | |
| Bundesheer unter Artilleriebeschuss genommen – das Symbol der Sozialisten | |
| war den konservativen Militärs ein Dorn im Auge. Das austrofaschistische | |
| Regime unter Engelbert Dollfuss taufte ihn Ende der Dreißiger in | |
| „Biedermannhof“ und später in „Heiligenstädter Hof“ um. Das Kaffeehaus | |
| wurde zur katholischen Kapelle. Und die in den Schulräumen abgehängten | |
| Kruzifixe kamen wieder an ihren Platz. | |
| ## Um eine Viertelmillion Menschen gewachsen | |
| Seit 1945 wird Wien wieder sozialdemokratisch regiert, der Karl-Marx-Hof | |
| trägt wieder seinen ursprünglichen Namen. Doch vom Aufbruch des | |
| Proletariats ist heute nur noch wenig zu spüren. Die Gemeindebauten, die | |
| seit den 1950er Jahren errichtet wurden, sind seelenlose Wohnkästen, deren | |
| Ästhetik mit den Modellen der Zwischenkriegszeit nicht zu vergleichen ist. | |
| Auf Spielplätze, Grünanlagen und Begegnungsstätten wurde aus Kostengründen | |
| weitgehend verzichtet. | |
| In den vergangenen 15 Jahren ist die Stadt um eine Viertelmillion Menschen | |
| gewachsen – vor allem durch Zuwanderung aus den Bundesländern, der EU und | |
| Drittstaaten. Der weitgehend liberalisierte Wohnungsmarkt hat Menschen mit | |
| schmaler Börse wenig zu bieten. Die Mieten sind überproportional gestiegen | |
| und auf eine günstige Gemeindewohnung müssen junge Familien jahrelang | |
| warten. Deswegen war bezahlbares Wohnen das beherrschende Thema des | |
| Vorwahlkampfes – bis die Flüchtlingskrise begann. | |
| Heute zerfällt Wien in zwei Teile: die hippen Bezirke innerhalb des | |
| Gürtels, wo der grüne Lifestyle das Leben prägt. Die von der grünen | |
| Vizebürgermeisterin gegen den Widerstand von Geschäftsleuten und | |
| Autofahrerlobby durchgesetzte Fußgängerzone in der Mariahilfer Straße – | |
| einer Shopping-Meile, die den Westbahnhof mit der Innenstadt verbindet – | |
| ist mit vegetarischen Restaurants und Ethno-Food wenige Wochen nach ihrer | |
| Fertigstellung schon eine Erfolgsgeschichte. | |
| ## Wien ist eine weltoffene und hervorragend verwaltete Stadt | |
| Jenseits des Gürtels, vor allem in den Flächenbezirken Simmering, Favoriten | |
| und Floridsdorf, dominieren Döner-Stuben und Schnitzelhäuser, Billigketten | |
| und Branntweinstuben. Hier sind Heinz Christian Straches Auftritte | |
| Heimspiele. Wo Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne den Alltag prägen, ist es | |
| nicht schwer, die Regierenden für alle Missstände verantwortlich zu machen. | |
| In Zeiten der Krise will man den Sozialdemokraten auch nicht mehr | |
| nachsehen, dass sie in den Jahrzehnten an der Macht einen unerträglichen | |
| Filz geschaffen haben, dass sie Millionen an Steuergeldern für Inserate | |
| ausgeben, mit denen sie in den Boulevard- und Gratisblättern eine | |
| freundliche Berichterstattung erkaufen und alle Vorwürfe mit arroganten | |
| Gesten vom Tisch wischen. | |
| Trotzdem: Wien ist eine weltoffene, bunte und hervorragend verwaltete | |
| Stadt. Der öffentliche Verkehr funktioniert zuverlässig, das U-Bahn-Netz | |
| wird ständig erweitert. Parks und Grünflächen bieten Erholung auch für die, | |
| die nichts ausgeben können oder wollen. Das Kulturangebot ist so reich, | |
| dass man nicht hinterherkommt. Und dank kommunaler Subventionen gedeihen | |
| auch schräge Festivals, experimentelle Theatergruppen und selbst verwaltete | |
| Kulturzentren, von denen sich die meisten für Flüchtlinge und gegen | |
| Fremdenfeindlichkeit engagieren. | |
| Sie wären wahrscheinlich die Ersten, denen es an den Kragen ginge, wenn das | |
| Rathaus von der FPÖ umgekrempelt würde. Dagegen hätte Frau Hermine nichts | |
| einzuwenden. Denn für die „Gutmenschen“, die auf der Ringstraße | |
| demonstrieren, hat sie kein Verständnis. | |
| * Name auf Wunsch geändert | |
| 10 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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