| # taz.de -- Die Wahrheit: Land des Baulärms | |
| > Deutschland entdeckt den Katastrophentourismus. Und die Welt fährt mit | |
| > offenen Ohren hinein ins zauberhafte Reich der Großbaustellen. | |
| Bild: Das laute Land begeistert auch jüngste Besucher aus Fernost. | |
| Ist es Größenwahn, ein ganzes Bundesland zur Baustelle zu erklären? | |
| NRW-Verkehrsminister Michael Groschek kündigte an diesem Wochenende stolz | |
| „ein Jahrzehnt der Baustellen“ an. Es ist kein Geheimnis, dass die Straßen, | |
| Brücken und Autobahnen nicht nur in Nordrhein-Westfalen dahinbröckeln und | |
| dringend sanierungsbedürftig sind. Tatsächlich steckt hinter der | |
| Ankündigung des Ministers ein wohlkalkuliertes Konzept der Bundesregierung, | |
| das ganz Deutschland als Reiseziel aufzuwerten soll. | |
| Die Große Koalition will aus einer Not eine Tugend machen: Denn Deutschland | |
| kann keine Großbaustellen. Kölner U-Bahn-Bau, Hamburger Elbphilharmonie, | |
| Stuttgart 21 oder der Flughafen Berlin Brandenburg – sobald etwas Größeres | |
| als ein Reihenhaus gebaut werden soll, kommt es zu Fehlplanungen, | |
| Bauverzögerungen und Kostenexplosionen. Das Wirtschaftsministerium sieht | |
| jedoch großes Potenzial für den Tourismussektor in diesen Großbaustellen. | |
| Es läuft bereits eine Imagekampagne auf internationalen Fachmessen für das | |
| „Land des Baulärms“ mit Pauschalreisen zur „größten Baustelle der Welt… | |
| „Nehmen sie den Flughafen Berlin Brandenburg: Über den lacht doch schon | |
| jetzt die ganze Welt. Das kann man doch hervorragend hier vor Ort machen! | |
| Für ein moderates Eintrittsgeld, versteht sich“, erklärt | |
| Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Das Konzept sei vergleichbar mit einer | |
| „sanften Form des Katastrophen-Tourismus.“ Geplant ist beispielsweise ein | |
| Souvenirshop mit Andenken aus der Brandschutzanlage, wie verschmorten | |
| Kabelstückchen oder unbrauchbaren Entrauchungsventilatoren. | |
| Kleine Besucher dürfen eigene Vorstellungen eines funktionierenden | |
| Flughafens auf die ungeeigneten Brandschutzwände malen. Ein weiterer | |
| „Fun-Factor“ ist die Gepäckförderanlage, die in ein Fahrgeschäft umgebaut | |
| werden soll. Auf YouTube wirbt ein Imagefilm: „Erleben Sie deutsche | |
| Fehlplanung hautnah im actiongeladenen Joyride! Wer kommt als Letzter im | |
| Ziel an?“ | |
| ## Verschmorte Kabelstückchen als Souvenir | |
| Berlins Bürgermeister Michael Müller ist begeistert und denkt weiter: „Wir | |
| diskutieren ja gerade einen Neubau. Wir hätten dann bald zwei | |
| funktionsuntüchtige Flughafengebäude und ergo zwei absolute Touri-Magneten | |
| hier in Berlin!“ | |
| In Baden-Württemberg sind Überlegungen angelaufen, wie die zuletzt | |
| abgeflauten Proteste gegen Stuttgart 21 wieder reaktiviert werden könnten. | |
| „Wir hatten geplant, Besucher einen Tag lang alte Eichen auf dem | |
| Bahnhofsgelände fällen zu lassen. Aber noch suchen wir solvente und | |
| gewaltbereite Demo-Touristen, die gegen Aufpreis auch mal mit Gegenständen | |
| werfen. Sonst macht das Fällen ja keinen Spaß“, erklärt Oberbürgermeister | |
| Fritz Kuhn das Geschäftsmodell der Dauerbaustelle. | |
| Auch die Stadt Köln begrüßt das neue Tourismus-Konzept. Schließlich haben | |
| sich die Rheinländer mit der Erweiterung der Kölner U-Bahn einen | |
| hervorragenden Ruf als Katastrophen-Planer erarbeitet, als sie beinahe die | |
| gesamte Innenstadt im Rheinschlamm versenkten. So sollen noch diesen Herbst | |
| betreute Ferienprojekte in den ungenutzten U-Bahn-Schächten stattfinden. | |
| Kindergruppen können dort „nach Herzenslust buddeln, mit Hämmern auf die | |
| Schachtwände einschlagen oder sich an den Wasserfontänen aus | |
| Grundwasserpumpen erfreuen“, verspricht ein Werbeprospekt. | |
| ## Leuchttürme des Dekonstruktivismus | |
| Zusätzlich will die Stadt weitere „Leuchttürme des Dekonstruktivismus“ | |
| schaffen, wie es Sigfried Schlüter vom Kölner Stadtmarketing formuliert. | |
| „Wir schauen natürlich in erster Linie auf den Kölner Dom. Der ist für sein | |
| Alter noch ein bisschen zu intakt. So was wie in Pisa wäre nicht schlecht.“ | |
| Deshalb planen die Kölner jetzt einen weiträumigen Tiefgaragenbau direkt | |
| unter dem Dom. „Wir graben hier ja unmittelbar in Rheinnähe. Es müsste | |
| schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht irgendwann der Dom absackt“, gibt | |
| sich Schlüter selbstbewusst. | |
| In NRW sind zudem erste Modellprojekte im Straßenbau angelaufen, die | |
| Verkehrsminister Groschek federführend begleitet. Ein chinesischer Tourist | |
| steht schon mitten in einer ungesicherten Dauerbaustelle auf der A1 bei | |
| Hagen und schwenkt eine große rote Fahne. Beinahe wird er von einem | |
| heranrauschenden Lkw erfasst und muss sich kurz sammeln, bevor er in | |
| gebrochenem Englisch seine Motivation erläutert. | |
| Er sei ein großer Bewunderer deutscher Autobahnen, denn hier dürften Autos | |
| so schnell fahren wie nirgendwo sonst auf der Welt. Das wolle er unbedingt | |
| hautnah miterleben. Mit messerscharfem Blick auf den asiatischen Markt hat | |
| Groschek die Tempolimits in Baustellen deswegen aufgehoben und lässt | |
| begeisterte Touristen als Warnschilder aufstellen. | |
| Auf die Frage, ob diese Art von Tourismus nicht lebensgefährlich sei, | |
| erklärt NRW-Verkehrsminister Groschek: „Das ist wie mit dem Mount Everest. | |
| Wenn da ein Bergsteiger draufgeht, kommen hinterher nur noch mehr, die es | |
| erst recht versuchen wollen.“ | |
| 30 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Nico Rau | |
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