Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Smarties für alle
> Betroffene verhandeln mit Blick auf den drohenden neuen Kita-Streik jetzt
> selbst – getreu der Punkparole: „If the kids are united.“
Bild: Ist dieser Aktivist bald von Aussperrung betroffen?
Der Kita-Tarifstreit hat für frustrierte Erzieherinnen, genervte Eltern und
verständnislose Kommunen gesorgt. Ver.di droht jetzt erneut mit Streiks.
Doch die wichtigste Gruppe in diesem Tarifkonflikt hat ab sofort die
Schnauze voll: Die Kinder. „Die Erwachsenen reden immer so viel. Wir wollen
lieber spielen“, erklärt der fünfjährige Matti prägnant. Der schlaksige
Junge mit dem Wuschelkopf ist so etwas wie der Sprecher dieser noch jungen
Bewegung. Matti besucht die Kindertagesstätte Villa Loca im Kölner
Stadtteil Nippes.
Die Kita-Kinder sind hier nicht gerade zimperlich vorgegangen. Seit die
letzte Gesprächsrunde zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft ergebnislos
beendet wurde, haben Matti und seine Mitstreiter die Erzieherinnen und
Küchenhilfen der Einrichtung vor die Tür gesetzt. Die Kinder führen die
Kita nun nach basisdemokratischen Prinzipien, wie Sprecher Matti auf
Nachfrage eifrig nickend bejaht. Er verstehe zwar nicht, was der „komische
Mann von der Zeitung“ da rede, aber das Wort finde er „ganz lustig“.
Jedes Kita-Kind übernimmt für je eine Woche nach dem Rotationsprinzip eine
der vielen Aufgaben, die in der Einrichtung anfallen. Matti ist diese Woche
nach eigener Auskunft „ein böser Ritter“. Während die dreijährige Melissa
als Ärztin gerade eine Puppe auf Lebenszeichen untersucht – offenbar
ergebnislos, denn die Puppe landet mit einem kräftigen Wurf in der
Kissenecke. Sollten sich beide Kinder nächste Woche noch daran erinnern,
werden sie ihre Rollen tauschen.
Lucy, vier Jahre, übernimmt für diese Woche den Küchendienst. Sie ist, wie
alle anderen Kita-Kinder, Autodidaktin. Kocherfahrung habe sie kaum, gibt
sie freimütig zu und zieht eine freche Grimasse, nur um dann vertraulich zu
flüstern: „Einmal mit der Oma, da habe ich einen Kuchen gemacht. Oma ist
ganz schlecht geworden.“ Lucy zeigt dem Reporter stolz eine angebrochene
Packung Smarties, die offenbar das heutige Mittagessen für die
Selbstorganisierer darstellt.
## Infragestellen der Konzepte
Seit ihrer Machtübernahme stellen die Kinder die bewährten pädagogischen
Konzepte infrage und setzen ganz auf ihre eigenen Ansätze. Sprecher Matti
will beispielsweise Haustiere in den Kita-Alltag integrieren. Er möchte
statt der „doofen Frau Gilbert“, die immer „so blöd und streng“ zu ihm…
lieber einen Tiger in der Kita haben. Der beschütze ihn dann immer.
Nicht alle Kinder der Villa Loca sind von der neuen Form der Organisation
begeistert. Der siebenjährige Jonathan, der eigentlich längst eingeschult
werden müsste, sitzt schmollend in der Ecke. Seit Kita-Köchin Anneliese
Berendt nicht mehr zum Dienst erscheinen darf, ist der korpulente Junge mit
dem Mondgesicht in einen unbefristeten Sitzstreik getreten. „Ich hasse
Smarties! Und ich hasse Lucy!“, kommentiert Jonathan und drückt sein
Gesicht in ein großes Kissen.
Familienministerin Manuela Schwesig hatte bereits seit Tagen versucht, zu
intervenieren und die Kinder der Villa Loca „wieder zur Vernunft zu
bringen“. Die Erzieherinnen hätten ein Recht darauf, zu ihrer Arbeitsstelle
zurückzukehren. Sprecher Matti hatte sich letztendlich mit der Aussicht auf
ein „klitzekleines“ Glas Cola bestechen lassen und sich offen für Gespräc…
gezeigt.
Gestern saß er dann mit dem Verhandlungsführer der Kommunen, Thomas Böhle
und Ver.di-Chef Frank Bsirske, an dem grünen Basteltisch der Kita. Das
Ergebnis der Verhandlung sei, so übereinstimmend die Sprecher, sowohl aus
Sicht der Kommunen, als auch der Gewerkschaft „desaströs“.
## Ein einziger Kindergarten
Bsirske verließ das Treffen vorzeitig. „Das ist doch ein einziger
Kindergarten hier!“, rief er nach zwei Stunden wutentbrannt. Zuvor hatte
Matti ihn mit aufgeweichten Salzstangen beworfen und sich über seinen
Schnurrbart lustig gemacht. „Ich habe mal im Zoo ein Tier gesehen, das
sieht aus wie du! Aber das konnte gar nicht sprechen.“
Thomas Böhle zeigte mehr Durchhaltevermögen. Allerdings bat er nach drei
Stunden wegen gesundheitlicher Probleme darum, die Verhandlung vertagen zu
dürfen. Böhle beklagte nach dem Treffen „unfaire Verhandlungsmethoden der
Gegenseite“. So musste der 51-jährige Arbeitgebervertreter während der
ganzen Zeit auf einem der kleinen roten Kinderstühle sitzen. „Die wussten
doch ganz genau von meinen Knieproblemen!“, beschwert sich Böhle. Solch
harte Verhandlungen habe er in seiner ganzen Berufslaufbahn noch nicht
führen müssen.
Was genau aber fordern die Kita-Kinder? Bisher fehlt es an einer
gemeinsamen Linie. Lucy, das Mädchen in der Küche, verweist auf die
schwindenden Smarties-Vorräte und will ab sofort „jeden Tag Pizza, das ist
mein Lieblingsessen“. Matti hat angekündigt, so lange nicht mehr nach Hause
zu gehen, bis „endlich der Tiger hier wohnt!“. Melissa möchte eine Puppe,
die genau so einen Schnurrbart trägt, wie „der Mann, der so laut geschrien
hat“, und Jonathan schläft seit der Gesprächsrunde tief und fest.
Fest steht, im Kita-Tarifstreit zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern
mischt ab sofort eine neue, mächtige Konfliktpartei mit, die nicht einmal
mit bunten Schokolinsen ruhiggestellt werden kann.
1 Sep 2015
## AUTOREN
Nico Rau
## TAGS
Kita-Streik
Verdi
Autonomie
Kinder
Wurst
Lärm
Sommerloch
Party
Arbeitgeber
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Lautlose Killer
Die große Wurstkrise: Menschliche Ernährung ist grundsätzlich
problematisch, wie ein paar Beispiele für hochgefährliche Kost zeigen.
Die Wahrheit: Land des Baulärms
Deutschland entdeckt den Katastrophentourismus. Und die Welt fährt mit
offenen Ohren hinein ins zauberhafte Reich der Großbaustellen.
Die Wahrheit: Elf Meter breit, vier Meter hoch
Dieses Jahr ist es einfach nicht existent: das Sommerloch. Die ausbleibende
Sauregurkenzeit setzt Kreative und Tiere unter starken Druck.
Die Wahrheit: Mut zur enthemmten Nudellücke
Endlich ist er da: Der Wahrheit-Party-Knigge! So feiern Sie unbeschwert und
inspiriert vom hippen Weltgeschehen.
Die Wahrheit: Führen wie eine Flunder
Neue Managementtheorien erobern die Coaching-Zone. Besuch eines Seminars
für Unternehmenslenker in der schönen, neuen Arbeitswelt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.