# taz.de -- Pflege für Obdachlose: Eine Frage der Lebensqualität | |
> Einrichtungen für pflegebedürftige Obdachlose sind extrem selten. In | |
> Hamburg gibt es weder Anlaufstelle noch Pflegeheim. Der Bedarf ist groß. | |
Bild: In Hamburg ohne Anlaufstelle: pflegebedürftige Obdachlose | |
Vor den Treppen, die zur Hamburger U-Bahn-Station Berliner Tor führen, | |
stehen mehrere Flaschen Oettinger und Von-Raven-Bier. Vier Obdachlose | |
sitzen ans Geländer gelehnt und starren mit leerem Blick auf die große | |
Kreuzung vor dem Bahnhof. Ihre Klamotten sind dreckig, zerknüllte | |
Pappbecher und Stummel selbst gedrehter Zigaretten liegen herum. „Nein, | |
pflegebedürftig sind wir nicht“, sagt einer von ihnen und lacht. „Aber da | |
hinten auf der Bank liegt Willi. Für den sieht es nicht gut aus. Der gehört | |
eigentlich irgendwo untergebracht.“ | |
Die Kriterien der niedrigsten Pflegestufe Null erfüllen viele Obdachlose, | |
die auf den Straßen Hamburgs leben. Dass sie pflegebedürftig sind, ist | |
ihnen oft nicht bewusst. Sie haben mit so vielen Problemen zu kämpfen, dass | |
sie ihre Gesundheit vernachlässigen. Und eine zentrale Anlaufstelle für die | |
pflegebedürftigen Obdachlosen hat die Stadt ohnehin nicht. | |
In einer Grünanlage unweit des Bahnhofes liegt tatsächlich ein älterer Mann | |
auf einer Bank. „Moin“, grüßt Willi mit kratziger Stimme. Der Bahnhof | |
Berliner Tor in der Hamburger Innenstadt ist beliebter | |
Obdachlosentreffpunkt. Wer keine Lust auf Polizeipräsenz und | |
Klassikmusik-Beschallung am Hauptbahnhof hat, geht ein paar Schritte weiter | |
nach Osten und landet am schmuddeligen Bahnhof unter dem gläsernen | |
Wolkenkratzer einer IT-Firma. | |
Neben Willis Platz stehen mehrere Discounter-Tüten, ein Schlafsack liegt | |
herum, Essensreste sind im Gras verteilt. Willi hat Kehlkopfkrebs. Reden | |
kann er nur mit Hilfe eines Sprechgeräts. Auch seine Beine bereiten | |
Probleme. Wenn er nicht muss, steht er nicht auf. Dass er eigentlich | |
dauerhaft Hilfe braucht, ist ihm bewusst. | |
In Anspruch nehmen möchte er sie aber nicht: „Noch geht‘s ja. Sieht man | |
doch. Ich gehe nicht ins Heim. Ich brauche meine Freiheit.“ Die Obdachlosen | |
vom Berliner Tor hatten vermutlich Recht: Willi ist ein klarer Pflegefall, | |
ein Leben ohne fremde Hilfe für ihn kaum noch zu bewältigen, erst recht | |
nicht auf der Straße. Doch die Angst vor Freiheitsverlust ist zu groß. | |
Laut Gesundheitsministerium gilt als pflegebedürftig, wer wegen einer | |
Krankheit seinen Alltag auf Dauer nicht mehr ohne fremde Hilfe bewältigen | |
kann. Wegen der unzureichenden ärztlichen Versorgung ist bei Obdachlosen | |
schon die Diagnose problematisch. Eine Untersuchung der Behörde für | |
Soziales ergab, dass Obdachlose zudem dazu neigen, ihre Krankheiten zu | |
ignorieren. | |
Durch das Leben auf der Straße ist die Gefahr, ein Pflegefall zu werden, | |
aber besonders groß. Peter Ogon vom Diakonischen Hilfswerk berichtet, dass | |
Obdachlose außerdem deutlich jünger zum Pflegefall werden, als andere | |
Pflegebedürftige. | |
## Bahnhofmission kann nur kurzfristig helfen | |
Die Unterbringung von Obdachlosen in normalen Pflegeeinrichtungen ist | |
problematisch. Andrea Hohlweck vom Pflegeheim für Obdachlose der Erlacher | |
Höhe berichtet zum Beispiel, dass Obdachlose oft mit Vorurteilen der | |
anderen Bewohner konfrontiert sind. Dass in vielen Einrichtungen | |
Alkoholkonsum verboten ist, schreckt zudem viele suchtkranke Obdachlose ab. | |
Insgesamt liegen Obdachlose oft nicht auf einer Wellenlänge mit den anderen | |
Bewohnern. Alter, Interessen und Lebensläufe liegen zu weit auseinander für | |
freundschaftliche Kontakte. Die Folge: Obdachlose ziehen sich zurück und | |
vereinsamen. | |
In der Bahnhofsmission am Hamburger Hauptbahnhof kommen pflegebedürftige | |
Obdachlose oft für eine Weile unter. Eine ältere Frau steht am Tresen und | |
erzählt, dass sie ihren Mann verloren hat. Die Mitarbeiter kennen sie | |
bereits mit Vornamen. Sie ist öfters da und erzählt, ihr Gatte sei „mal | |
wieder auf Weltreise“. | |
„Hierher kommen viele Menschen, die eigentlich Pflegefälle sind“, erzählt | |
eine Mitarbeiterin. Mehr als etwas zu Essen, Trinken und ein Dach über dem | |
Kopf kann die Bahnhofsmission aber nicht bieten. „Wir können nur versuchen, | |
die Leute zum Gang in ein Pflegeheim zu überreden. Aber die meisten wollen | |
das nicht. | |
Andere wiederum träumen immer noch von den eigenen vier Wänden und würden | |
in keine Pflegeeinrichtung gehen.“ Und wer kurz in Unterkünften unterkommt, | |
die für Obdachlose wie für Nicht-Obdachlose gedacht sind, werde gedrängt zu | |
gehen, sobald er einigermaßen genesen sei, sagt die Mitarbeiterin. | |
Die Kapazitäten in Unterkünften wie Hamburgs Pik As, wo es fünf zeitlich | |
begrenzte Plätze für pflegebedürftige Obdachlose gibt, sind gering. Auch in | |
Projekten wie dem „Nox“ von der Jugendhilfe, das sich für Drogensüchtige | |
einsetzt, kommen manchmal Menschen unter, die eigentlich Pflegefälle sind, | |
sagt eine Mitarbeiterin. Was fehlt, sind speziell auf Wohnungslose | |
zugeschnittene Einrichtungen. An deren Aufbau scheitert Hamburg jedoch seit | |
Jahren. | |
Dabei hatte die Diakonie Hamburg 2009 ein Konzept erarbeitet, das die | |
Anforderungen einer auf pflegebedürftige Obdachlose spezialisierten | |
Unterkunft formulierte. Zusammen mit dem Bezirk Altona wollte die Diakonie | |
eine Einrichtung schaffen. | |
Doch erst fand das Bezirksamt keinen geeigneten Standort, dann fehlte das | |
Geld. Pflegebedürftige Obdachlose haben einen größeren und teureren | |
Betreuungsbedarf, der sich von herkömmlicher Pflege unterscheidet. Die | |
Diakonie will mit den Behörden jetzt erneut über eine Finanzierung | |
verhandeln. | |
Fördern und wohnen, Träger mehrerer Obdachlosen-Einrichtungen in Hamburg, | |
ging 2011 davon aus, dass von 350 nicht in eine Wohnung zu vermittelnden | |
Personen ein Großteil pflegebedürftig war. Hamburgs Senat beschloss daher | |
2012, die Feststellung der Pflegebedürftigkeit beim medizinischen Dienst zu | |
optimieren und Angebote zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen | |
Wohnungsloser orientieren. | |
## Obdachlose immer noch quer über die Stadt verteilt | |
Doch bis heute sind die Obdachlosen quer über die Hamburger Einrichtungen | |
wie das Bergedorfer Achterdwars verteilt. Wo es gerade passt, kommt jemand | |
unter. „Untereinander wissen Krankenhäuser und Obdachlosen-Unterkünfte, wo | |
es ein paar Plätze für die P flegebedürftigen gibt. | |
Dann rufen sie oft bei uns an“, sagt ein Mitarbeiter vom Achterdwars. Die | |
Einrichtung hat einen ambulanten Dienst, der sich um die Pflegebedürftigen | |
kümmert. Die normalen Obdachlosen-Einrichtungen der Stadt haben oft nicht | |
genug Kompetenz, um Personen mit erhöhtem Pflegebedarf zu versorgen. | |
Wie hilfreich spezielle Unterkünfte für Wohnungslose sind, zeigt das | |
Pflegeheim der Erlacher Höhe. Es wurde für Obdachlose geschaffen und die | |
Bewohner mit in den Bau einbezogen. Im Pflegeheim Erlach haben sie eine | |
langfristige Bleibe gefunden. Wer will, erhält hier kontrolliert bis zu | |
drei Bier am Tag. Alkoholkonsum verursacht die wenigsten Probleme, | |
versichert Andrea Hohlweck. | |
Das Argument, Obdachlose würden keine Unterbringung in einem Pflegeheim | |
wollen, weil es für sie zu viel Freiheitsverlust bedeutet, teilt man in der | |
Einrichtung nicht: Die Lebensqualität der Untergebrachten steige durch die | |
spezialisierte Behandlung derart, dass sie froh seien, in Erlach | |
untergekommen zu sein, heißt es. Manche schafften sogar den Ausstieg aus | |
der Pflegebedürftigkeit. | |
Willi vom Berliner Tor sieht seine Zukunft erst einmal noch auf der Straße. | |
„Wenn es was geben würde, wo ich keinen Ärger habe – dann vielleicht. Aber | |
noch geht‘s.“ Sein Vertrauen in Hilfen ist gering, und über bisherige | |
Erfahrungen spricht er lieber nicht. Mit jedem Satz ist er schwerer zu | |
verstehen. Er will sich kurz fassen und wirkt angestrengt. Mit einem | |
eingerollten Schlafsack unter dem Kopf legt er sich auf die Bank und | |
verabschiedet sich. „Es wird Zeit für ein Schläfchen“, sagt er. | |
14 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Robin Grützmacher | |
## TAGS | |
Hamburg | |
Obdachlosigkeit | |
Pflege | |
Freiheit | |
Obdachlosigkeit | |
Flüchtlinge | |
Kiel | |
Obdachlosigkeit | |
Hamburg | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kältehilfe für Obdachlose startet: 700 Plätze für 3.000 Bedürftige | |
Die Berliner Kältehilfe für Obdachlose wird in diesem Winter rund 700 | |
Notschlafplätze anbieten. Ob das reicht, ist ungewiss - auch wegen der | |
vielen Flüchtlinge. | |
Kritik am Umgang mit Flüchtlingen: Selbst verursachtes Chaos | |
Führungskräfte des Heimbetreibers Fördern und Wohnen werfen dem Senat vor, | |
Missstände bei der Flüchtlingsunterbringung wären vermeidbar gewesen. | |
Kiel wirft Roma aus Unterkunft: Ungewollte Allianz | |
140 Roma aus Bulgarien in einem Haus in Kiel-Gaarden sind der Stadt zuviel. | |
100 sollen ausziehen. Eine Forderung, der sich die Rechten gern | |
anschließen. | |
Von Schlafstätte ausgesperrt: Kein Platz für Obdachlose | |
Neuer Besitzer des Allianz-Hochhauses zieht Zaun ums Haus, damit Obdachlose | |
dort nicht mehr schlafen. Anwohner hatten sich beschwert | |
Obdachlose in Berlin: Sommer ist schlimmer als Winter | |
Die Hitzewelle gefährdet viele Obdachlose, warnt die Bahnhofsmission – weil | |
viele zu wenig trinken, oder das falsche. | |
Menschen auf der Straße: Einmal mehr an den Rand gestellt | |
Mehr Notunterkünfte für Obdachlose fordert das Aktionsbündnis gegen | |
Wohnungsnot. Doch das ist nur die Spitze eines tiefergehenden, | |
strukturellen Problems. | |
Riesenzelt für Obdachlose in Berlin: Heiße Luft und warme Suppe | |
Die Berliner Kältehilfe betreibt auch in diesem Jahr eine Traglufthalle als | |
Notunterkunft – mit 100 Klappbetten. Ein Besuch in der Nacht. |