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# taz.de -- Debatte Europa: Die Killerin
> Ist Europa noch zu retten? Der Umgang mit Flüchtlingen und mit
> Griechenland hat vielen die Augen geöffnet. Jetzt gibt es eine Pflicht:
> Die EU neu zu denken.
Bild: Das Europa der Abschottung: Flüchtlinge klettern durch den Zaun an der u…
Mir spukt eine unsinnige alte deutsche Filmklamotte im Kopf herum. Da steht
in einem verrauchten bayerischen Wirtshaus ein heimatlich gekleideter Mann
auf und spricht zu den Bewohnern seines Dorfes in einer Mischung aus Häme
und Verzweiflung: „Wir brauchen keine Fremden nicht. Wir sind uns selber
schon zu viel.“
Der Satz klingt abgründiger, als er gemeint war. Und doch scheint er mir
die aktuelle Situation perfekt zu beschreiben: Europa kann sich selbst kaum
noch ertragen. Und dann kommen auch noch die Flüchtlinge.
Bis vor einigen Jahrzehnten konnte man die Geschichte Europas als die eines
schneckenhaften Fortschritts in Richtung Demokratie und Humanismus
schreiben. Zwar hat es nie an Mahnungen gefehlt, da entstehe nicht das
Europa der Millionen, sondern das der Millionäre, aber wer wollte es denn
so düster sehen.
Auch die Brüsseler Bürokratie mit einem „Normierungswahn“ konnte als
Begleiterscheinung eines langsamen Zusammenwachsens akzeptiert werden. Denn
so viel war und ist klar: Die Zeit der Nationalstaaten läuft ab; wenn etwas
hilft, dann nur eine neue, transnationale Form der Demokratie. Eine, die
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bringt. Ein Projekt, für das es
sich zu engagieren lohnt.
## Neoliberales Kuddelmuddel
Entstanden ist genau das Gegenteil. Ein postdemokratisches, neoliberales
Kuddelmuddel nationaler und oligopolistischer Interessen, ein
Experimentierfeld für neue Regierungs- und Verwaltungsformen jenseits
demokratischer Legitimierung; gegenseitige ökonomische Erpressung bis an
den Rand von Wirtschafts- und Bürgerkrieg; Lobbyismus und Verschmelzung von
Politik und Wirtschaft in groteskem Ausmaß; eine Politik, in der Banken
wichtiger sind als Menschen; eine Regierungsform, die über das Schicksal
der Gesellschaften in Geheimverhandlungen zum TTIP bestimmt, jenseits der
Parlamente, jenseits der Öffentlichkeit: Ein Europa, das als Eurozone auf
den Hund gekommen ist.
Das, was man jetzt, unmenschlich genug, als „Flüchtlingsstrom“, „neue
Völkerwanderung“ oder „Flüchtlingskrise“ bezeichnet, macht vielleicht a…
jenen klar, die die Hoffnung auf das Projekt Europa nicht aufgeben wollten,
dass es mehr als gescheitert ist: Europa hat sich nicht als kultureller und
politischer Fortschritt, sondern als barbarischer, korrupter und
amoralischer Rückfall realisiert.
Dieses Scheitern hat jetzt Bilder: Ertrunkene Flüchtlinge, Polizeigewalt,
Lager, brennende Unterkünfte, grölende Faschisten, furchtbarer
Politikerjargon. Es gibt Menschen, die helfen, und es gibt Institutionen,
die das tun, keine Frage. Aber sie können es weder praktisch noch moralisch
im Namen Europas tun.
## Am Leitfaden der Macht
Wie rasch konnte Europa seine exekutiven Mittel aktivieren, als es um die
Rettung von Banken ging, und wie blockiert und verschleppt es nun, wo es um
Menschenleben geht. Zur gleichen Zeit, da Flüchtlinge im Meer und auf den
Gleisen sterben, weil man sich über ihren Verbleib nicht einigen kann und
weil man verbrecherische Regimes nicht zu humanitären Mindeststandards
verpflichten kann, tritt eine neue Verordnung aus Brüssel in Kraft, die zum
Beispiel Rettungshubschraubern die Landung versagt, weil nur noch
viereckige, aber keine runden Landeplätze gestattet sind.
Über die Krümmung von Gurken konnte man noch lachen. Aber hier zeigt sich,
dass nicht am Leitfaden der Menschen, sondern am Leitfaden der Macht
entwickelt wird.
Wäre Europa, was es einmal zu werden versprach, dann wäre die Aufnahme der
Flüchtlinge, ihre Versorgung, ihre Integration in Arbeit und Kultur kein
Problem, sondern eine jener Aufgaben, an denen man wachsen und reifen kann:
Es hätte hier eine neue, humanistische Gesellschaft entstehen können;
Europa als Idee einer neuen Gemeinschaft freier Menschen. Nichts Perfektes,
nichts Konfliktfreies, nichts Idyllisches. Nur etwas, das wirklich hat,
wovon die leere Rede ist: Werte. Dieses Europa wäre keine Frage von
Herkunft, Hautfarbe oder Religion, keine Frage der Historie(n), sondern
einer gemeinsamen Zukunft.
## Galoppierende Entdemokratisierung
Nun wird sichtbar, wie dünn die Haut über der Verbindung von neoliberaler
Rücksichtslosigkeit und einem rechtspopulistischen, halbfaschistischen
Untergrund ist. Und welch erbärmliche Rolle spielt Deutschland in diesem
Europa! Man zwingt mit wirklich allen Mitteln eine linke griechische
Regierung nieder, die es wagt, sich gegen Neoliberalisierung und Austerität
zu stellen, und lässt ein autoritäres und rassistisches Regime wie das
ungarische gewähren. Eine Kanzlerin, die offen ausspricht, dass es nicht um
Europa, sondern um den Euro geht. Die galoppierende Entdemokratisierung
Europas, um die eigene Demokratiesimulation zu schützen.
Ich möchte diesem Europa nicht angehören, aber natürlich noch weniger jenen
„Euro-Skeptikern“, die am liebsten zu altem Nationalismus, einschließlich
der alten Grenzen, zurückkehren würden. Also – wohin?
Menschen, deren Lebenswelt nicht ohne Zutun Europas in eine Hölle
verwandelt wurde, suchen Zuflucht in diesem Europa und finden Politiker
vor, die Begriffe wie Abschiebung, Rückführung und Abschreckung im Munde
führen, von „Abschiebelagern“ reden, ohne vor Scham in den Boden zu
versinken, und Souveränität simulieren, indem sie Flüchtlinge wie lästige
Kostgänger behandeln, ihnen Arbeit, Bildung, Selbstbestimmung rauben. Eine
Hölle namens Europa.
## Europa neu denken
Die europäischen Nationalstaaten machen nicht nur Politik für oder vor
allem gegen Flüchtlinge, sondern sie machen sogar Politik mit Flüchtlingen.
Macht- und Wirtschaftspolitik mit hilfsbedürftigen, recht- und machtlosen
Menschen zu treiben, ist das Ende jeder humanistischen und demokratischen
Gesellschaft. So etwas hatten wir nur den großen Menschheitsverbrechern
zugetraut; so etwas ist heute europäischer Standard.
Ich weiß nicht, ob dieses Europa noch zu retten ist. Nur weil man „links“
ist, ist man nicht unbedingt zum Optimismus verpflichtet. Die Ereignisse
der letzten Wochen haben die einen oder anderen Augen geöffnet. Den
Flüchtlingen zu helfen ist erste Bürgerpflicht. Die zweite ist es, Europa
neu zu denken. Von Grund auf.
9 Sep 2015
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Europa
Schwerpunkt Flucht
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Demokratie
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