# taz.de -- Debatte Fluchtland Afghanistan: Das Ende der Blase | |
> Der Westen ist am Hindukusch abgerückt, das Land ist seither unsicherer | |
> geworden. Eine der Folgen ist die steigende Zahl der Flüchtlinge. | |
Bild: Afghanische Flüchtlinge mit Baby nach ihrer strapaziösen Reise bei der … | |
Die Flucht von Afghanen nach Deutschland und Europa hat in den letzten | |
Monaten spürbar zugenommen. Gleichzeitig gehen nach wie vor | |
milliardenschwere Hilfen des Westens in das Land. Die Abwanderung junger | |
Afghanen hat dies allerdings nicht gestoppt. Im Gegenteil: Der Abzug der | |
Nato hat als Fanal gewirkt. So droht das Land zum dritten Mal in kurzer | |
Zeit eine Generation zu verlieren. Deutschland und der Westen haben dabei | |
eine besondere Verantwortung, auch weil das Land wesentlich über ihre | |
Kredite funktioniert. Beide haben Entscheidungen versäumt, ohne die es | |
jetzt womöglich weniger Flüchtlinge gäbe. | |
Der Luftschlag von Kundus mit dem bombardierten Tanklaster und den zivilen | |
Opfern ist jetzt sechs Jahre her. Kundus, wo lange die Bundeswehr | |
stationiert war. Kein Ereignis hat aus deutscher Sicht für mehr | |
Schlagzeilen gesorgt. | |
In den vergangenen Monaten hat es Fluchtbewegungen aus Kundus gegeben. | |
Viele Binnenflüchtlinge zunächst. Kämpfende Taliban haben afghanische | |
Sicherheitskräfte immer wieder in verlustreiche Kämpfe verwickelt. Nach wie | |
vor gibt es nicht ausreichend Polizisten und Armee in der Provinz. Von den | |
Milizen in Kundus ist zu hören, sie seien quer durch das Regierungslager | |
von Präsident Ghani und seinem Partner Abdullah verfeindet. Rettung aus der | |
Luft durch US-Flugzeuge gibt es nach dem Abzug des Westens jetzt nur noch | |
selten für das afghanische Militär. | |
Durch die Kämpfe sind viele Äcker und Gärten faktisch zu Kampfzonen | |
geworden. Bauern können ihr Land nicht mehr bewirtschaften und sind | |
gezwungen, anderswo mit ihren Familien Schutz zu suchen. Neben der | |
Binnenflucht gibt es aus Afghanistan dieser Tage aber auch zahlreiche | |
Flüchtlinge nach Deutschland. | |
Deutsche zivile Helfer bekommen dieses Leid mit. Einige von ihnen erhalten | |
in wachsender Zahl E-Mails von afghanischen Bekannten, die auf der Flucht | |
sind mit Frau und Kind. Sie bitten darin um Hilfe für ihre Odyssee nach | |
Europa. Dass Flüchtlinge bei uns nicht immer gut gelitten sind, wissen die | |
Wenigsten. Aufgrund der Zahlen, die in der Bundesrepublik zuletzt Aufnahme | |
finden, gewinnen die meisten eher das Gefühl, dies sei das richtige | |
Zielland. | |
Eine E-Mail ist von Hassan, einem Filmemacher. Er schreibt, dass er vor den | |
Taliban auf der Flucht sei. 2012 wurden seine Arbeiten auf der Documenta 13 | |
in Kassel gezeigt. Jetzt hat er eine Reportage über einen Mullah gedreht, | |
der die Aussöhnung mit den Taliban suchte und dabei ums Leben kam. In Kabul | |
hatte Hassan ein kleines Café, einen Künstlertreff, in dem sich junge | |
Männer und Frauen trafen. Von dort flüchtete er, nachdem die Polizei eine | |
Razzia durchführte. Offenbar handelte die Polizei im Auftrag konservativer | |
Geistlicher. Wie den Taliban ist den Geistlichen westliche Lebenskultur, in | |
der sich junge Frauen und Männer offen begegnen, ein Dorn im Auge. | |
## Wachsendes Schlepperwesen | |
Jede dieser E-Mails ist für sich genommen bedrückend, spiegelt sie doch den | |
relativen Misserfolg westlicher Hilfe. Die afghanische Zivilgesellschaft, | |
deren Aufbau der Westen sich auf die Fahnen geschrieben hatte, scheint auf | |
einmal in Auflösung begriffen. Wirtschaftliche Depression hat sich | |
breitgemacht nach dem Abzug der ausländischen Truppen. Viele Gegenden sind | |
unsicherer geworden. So bleiben Investitionen aus. Arbeitslosigkeit ist | |
chronisch und ein möglicher Treibsatz für Radikalisierung.Was politisch, | |
was wirtschaftlich motivierte Flucht ist, müsste die Einzelfallprüfung | |
ergeben. Diese ist aber nur schwer möglich. Verständlich ist, dass – nach | |
vielen afghanischen Übersetzern der Bundeswehr – nun auch afghanische | |
Angestellte ziviler Hilfsorganisationen nach Deutschland wollen. Sie sind | |
oft nicht weniger exponiert. | |
Mittlerweile hat das Schlepperwesen auch afghanischen Städte erreicht. Das | |
schildern deutsche Helfer im Land, die gut vernetzt sind. Eltern versuchen | |
zum Teil vergeblich, ihre Kinder vom Auswandern abzuhalten. Diese können | |
auf Facebook Informationen mit Listen zu Sozialstandards in EU-Ländern | |
finden. Auch Foto-Postings gibt es von Landsleuten, die es bereits | |
geschafft haben. | |
Politiker fordern zu Recht mehr Druck auf jene Länder, aus denen die | |
Flüchtlinge kommen. Für Afghanistan tragen Deutschland und der Westen dabei | |
eine besondere Mitverantwortung. Denn der Westen finanziert weiterhin den | |
Löwenanteil des afghanischen Staates. Ohne Frage bestehen hier | |
Möglichkeiten, angemessen einzuwirken auf die Regierung in Kabul. Zugleich | |
ist der wirtschaftliche Aufbau alles andere als optimal gelaufen. Bei | |
effektiverer Hilfe wäre ein Teil der Menschen vermutlich heute nicht auf | |
der Flucht. | |
## Verpasster Marshallplan | |
Sinnvoll wäre rückblickend ein echter Marshallplan für Afghanistans | |
Wirtschaft gewesen. Mit Wohnungsbauprogrammen, die Menschen langfristig in | |
Arbeit bringen. Robusten Hilfen für afghanische Industrie und | |
Landwirtschaft. Mit Projekten, die das Land weniger als Absatzmarkt für | |
deutsche und ausländische Waren begreifen. Solarenergie etwa hat eine | |
Zukunft in Afghanistan. Noch aber werden zu wenige Zellen vor Ort | |
hergestellt. Bis 2006 hätte man so Fundamente setzen können. Da waren die | |
Taliban noch nicht erstarkt. | |
Jüngere Flüchtende schreiben in ihren E-Mails immer wieder: „Wir bekommen | |
in Afghanistan keine Chance.“ Arbeit werde nicht nach Qualifikation | |
vergeben, sondern nach Seilschaften und Vitamin B. Viele haben resigniert, | |
weil Korruption oder gewendete Warlords im Land herrschen. Auch dies ist | |
ein Grund für die schlechte Stimmung. Dabei sind es die Geberländer, die | |
viele der Warlords bis heute an der Macht halten. | |
Was also tun? Afghanistan braucht unverändert langfristige Projekte, die | |
auf die realen Bedürfnisse der Menschen eingehen. Projekte, die Hoffnung | |
vermitteln. Das kann ein Theaterfestival in Kabul sein, das den Glauben an | |
die afghanische Zivilgesellschaft erhält. In jedem Fall wirtschaftliche | |
Anreize, die die Arbeitslosigkeit zurückfahren und die Ökonomie der | |
kurzfristigen Entwicklungshilfe durch nachhaltiges Wirtschaften ersetzt. | |
12 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Gerner | |
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