# taz.de -- Queerer Tango: Parodie auf Geschlechternormen | |
> Immer mehr Tänzer*Innen wechseln zwischen den Rollen als Führende und | |
> Folgende. Und enttarnen so elegant die Geschlechterrollen des Alltags. | |
Bild: Mann? Frau? Egal. | |
Er führt, sie folgt. Er geht vorwärts, sie rückwärts. Er hat den Raum im | |
Blick, passt auf, dass ihr nichts passiert. Sie konzentriert sich nur auf | |
ihn. Er überlegt sich, wo es langgeht. Sie versucht, seine Signale zu | |
lesen. Dabei hält er sie in enger Umarmung, ihre Bewegungen sind grazil | |
feminin: gestreckte Beine, die zu schließen sind nach jedem Schritt. Ihre | |
hohen Schuhe und ihr fliegender Rock lassen ihre schlanken Beine noch | |
länger aussehen, das kurze Top betont ihren flachen, definierten Bauch. Sie | |
tanzen einen Tanz, der nichts anderes ist als ein Dialog zwischen zwei | |
Körpern, und der dadurch etwas sehr Erotisches an sich haben kann. | |
Zweigeschlechtlichkeit, traditionelle Geschlechterrollen, Körpernormen, | |
heterosexuelle Erotik. | |
Man könnte sich kaum ein größeres Schauspiel der Heteronormativität | |
vorstellen als Tango Argentino. Und genau hierin liegt sein subversives | |
Potenzial. | |
Ich hatte seit drei Jahren als Frau in der Rolle der Folgenden Tango | |
getanzt. Als ich mit meinen männlichen Freunden damals in den | |
Anfänger*innenkurs ging, fragten wir uns gar nicht, wer von uns führen und | |
wer folgen lernen wollte. Es erschien uns selbstverständlich, ebenso wie es | |
unseren damaligen Lehrer*innen selbstverständlich erschien, zu sagen: Die | |
Männer machen dies, die Frauen machen das. Drei Jahre später belegten wir | |
erneut einen Anfänger*innenkurs. Diesmal, um die Seite des Tanzes zu | |
lernen, die wir uns die ganze Zeit über hatten entgehen lassen. | |
## Queere Tango-Szene | |
Damit sind wir nicht die Einzigen. In Berlin, der zweitgrößten | |
Tangometropole nach Buenos Aires, hat sich seit Langem eine eigene | |
Queer-Tango-Szene etabliert. Zwar sind die explizit queeren Tangoevents | |
noch relativ selten, im Vergleich zu den täglich stattfindenden | |
traditionellen. Doch mehrere Locations in der Hauptstadt veranstalten | |
monatliche queere Tangoabende – teilweise schon seit zehn Jahren. | |
Die meisten queeren Tänzer*innen können sowohl führen als auch folgen, | |
unabhängig davon, welchem Geschlecht sie sich zuordnen. Es ist normal, dass | |
man einander vor dem Tanz fragt: „Möchtest du führen oder folgen?“ – und | |
sich in den Rollen auch mal abwechselt. Ebenso geschlechtsunabhängig wird | |
mit dem unausgesprochenen Gebot der Abendgarderobe gespielt: Menschen mit | |
langen Haaren und weiten Pluderhosen tanzen neben anderen mit Bart, Hemd | |
und hohen Schuhen. | |
Doch auch die traditionelle Tangoszene wird zunehmend queer durchsetzt. Auf | |
vielen Tangoveranstaltungen – auch wenn sie sich nicht explizit als queer | |
bezeichnen – ist es selbstverständlich, mehrere Paare auf der Tanzfläche zu | |
sehen, die sich nicht an das Mann-führt-Frau-folgt-Schema halten. Unter den | |
Berliner Tangolehrern gibt es Männer, die für ihre Folgekünste bekannt | |
sind, und immer mehr Frauen, von Anfängerinnen bis Profis, ziehen sich | |
zwischendurch die High Heels aus und führen einander. Es sei denn, sie | |
tragen eh Turnschuhe, was zunehmend in Mode kommt. Bei der Eröffnungsshow | |
des großen Berliner Mainstream-Tangofestivals „Embrace“ vor einem Jahr | |
tanzten zwei Männer miteinander. | |
Wieso konnte ausgerechnet Tango ein Ort queerer Umdeutung werden? Warum | |
interessieren sich so viele Trans*menschen, Lesben, Schwule und Queers | |
überhaupt für einen derart heterosexuell und zweigeschlechtlich geprägten | |
Tanz? Es stimmt, Tango ist ein Schauspiel der Heteronormativität. Mehr | |
noch, es ist eine Komödie. | |
Herzzereißend-melancholische Musik mit | |
Zwanziger-Jahre-Schellackplatten-Knistern, hingebungsvoll geschlossene | |
Augen, leidenschaftlich ineinander verschlungene Beine, der Atem der einen | |
am Ohr des anderen, dazu spanische Songtexte wie: „Und die Verzweiflung, | |
als ich dich gehen sah / Gebrochen vor Emotion meine arme Stimme“ – all das | |
ist so dramatisch, dass man fast schon wieder darüber lachen muss. | |
## Das Skript einfach umschreiben | |
Ähnlich verhält es sich mit den Geschlechterollen im Tango: Die Normen | |
heterosexueller Erotik werden so derart auf die Spitze getrieben, dass man | |
sie kaum noch ernst nehmen kann. Damit ist Tango ein perfektes Beispiel für | |
das, was die Philosophin und Queer-Theoretikerin Judith Butler als | |
Strategie vorschlägt, um Geschlechternormen zu unterwandern: sie zu | |
parodieren. Sichtbar zu machen, dass unsere alltäglichen Darstellungen von | |
Männlichkeit und Weiblichkeit nichts anderes sind als „die Kopie einer | |
Kopie einer Kopie“, zu der es kein Original gibt. Tango ist der perfekte | |
Ort, um Geschlecht als das zu enttarnen, was es ist: ein großes Schauspiel. | |
Was könnte außerdem spannender und spaßiger sein, als die geballte | |
Heteronormativität des Alltags konzentriert in einer solchen Tanzkomödie in | |
der Hand zu halten – und das Skript einfach umzuschreiben? Selbst wenn | |
mensch es will: Im Alltag Geschlechternormen zu durchbrechen, ist nicht | |
immer einfach. | |
Unsere vergeschlechtlichte Sozialisation hat sich oft so tief in den Ritzen | |
unserer Gefühle und Handlungen eingenistet, dass sie nur schwer zu | |
erkennen, geschweige denn anzutasten ist. Beim Tango jedoch liegen die | |
Rollen klar und ordentlich sortiert vor uns und lassen sich einfacher | |
aneignen. Der Tanz als abgegrenzter Raum zum „echten Leben“ bietet dabei | |
etwas Schutz: Wer „als Mann“ Tango tanzt, hat nicht notwendigerweise mit | |
den gleichen Konsequenzen zu rechnen wie die, die „als Mann“ zur Arbeit | |
kommt. | |
## Völlig neue Erfahrung der Wirkmächtigkeit | |
Es war ein Erlebnis, das erste Mal zu führen: Während ich beim Folgen | |
versuche, mich voll und ganz auf die Signale der führenden Person zu | |
konzentrieren, hatte ich jetzt auf einmal einen Überblick über den Raum, | |
hörte mehr auf die Musik. Ich verspürte das Bedürfnis, meine Tanzpartnerin | |
zu beschützen, dafür zu sorgen, dass sie mit niemandem zusammenstieß, den | |
Tanz angenehm für sie zu gestalten, sie zu überraschen. Diejenige zu sein, | |
die sich jeden der gemeinsamen Schritte ausdenkt und die folgende Person | |
dazu einlädt, war eine völlig neue Erfahrung der Wirkmächtigkeit: Ich | |
denke, „setze deinen linken Fuß dorthin!“ – und die andere Person tut es | |
tatsächlich! | |
Gleichzeitig kann die Führendenrolle einen Druck aufbauen, den ich als | |
Folgende so nicht kannte. Als Führende bin ich allein dafür verantwortlich, | |
dass mir nicht die Ideen ausgehen, dass sich die folgende Person nicht | |
langweilt und vor allem, dass ihr auf der engen Tanzfläche kein fremder | |
Stiletto-Absatz den Fuß durchbohrt. Die andere der zwei | |
geschlechter-stereotypen Tangorollen auszuprobieren, verschaffte mir Zugang | |
zu Erfahrungswelten, die ich noch nie in dieser Form betreten hatte. Es | |
erlaubte mir den Hauch einer Ahnung, was mir meine weibliche Sozialisation | |
täglich an Empfindungen vorenthält. | |
Sie führt, sie folgt. Ihre umeinander schwingenden Röcke betonen ihre | |
eleganten Drehungen. Das Lied wechselt, sie lachen und tauschen die | |
Führung. Neben ihnen tanzt die Person im Hosenanzug virtuos mit der Person | |
mit den festlich hochgesteckten Haaren, dem glattrasierten Kinn und den | |
glitzernden hohen Schuhen. Während die zwei Tangolehrer mit ihren | |
akrobatischen Verzierungen die Blicke auf sich ziehen und mitten in der | |
Bewegung die Rollen hin- und hertauschen, fragt der ältere Herr, der sein | |
Leben lang geführt hat, seine junge Tanzpartnerin, ob sie ihn nicht einmal | |
führen könnte. Sie kann. | |
24 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Lou Zucker | |
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