# taz.de -- Zwischenbilanz U-Ausschuss NSU: Mordfall Kiesewetter – ungelöst | |
> Keinen seiner Aufträge konnte der Stuttgarter NSU-Untersuchungsausschuss | |
> bisher erfüllen. Trotzdem hat das Gremium wichtige Arbeit geleistet. | |
Bild: Der Politologe Hajo Funke und sein Anwalt vor dem U-Ausschuss in Stuttgart | |
Stuttgart taz | Es war eine Szene wie aus einem Tatort-Drehbuch: Mit | |
leuchtend blauen Gummihandschuhen an den Händen präsentierte der | |
Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Drexler im März der eilends | |
zusammengerufenen Presse verkohlte Asservate. Ein spektakulärer Moment für | |
das Landtagsgremium. Wann hat ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss | |
schon einmal wirklich neue Beweise in einem Todesfall präsentieren können? | |
Handy, Schlüssel, und ein Camcorder hatte der Ausschuss von den angehörigen | |
des toten Florian H. erhalten. Einem Mann, der sich immerhin kurz vor | |
seinem rätselhaften Tod damit gebrüstet hatte, die Täter des | |
Polizisten-Mords von Heilbronn zu kennen. Trotzdem sicherte die Polizei | |
diese Beweismittel nicht. | |
Es war ein sichtbarer Beweis, wie schlampig die Stuttgarter Polizei das | |
verkohlte Auto des Mannes untersucht hatte. Dass diese Beweismittel bisher | |
keine neuen Erkenntnisse zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und | |
den Verbindungen der rechtsextremen Szene im Südwesten zum NSU liefern | |
konnten, kann man weniger dem Ausschuss als den Angehörigen von Florian H. | |
und deren Berater, dem Berliner Politologen Hajo Funke, vorwerfen. Sie | |
wollten die Gegenstände dem Ausschuss zur Beweissicherung übergeben. Jetzt | |
ist ihr Verbleib unklar. Die Gründe dafür sind schwer zu durchschauen. | |
Trotz solcher Schwierigkeiten: Das Gremium des Landtags in Stuttgart hat | |
sich nach anfänglichen Startproblemen über alle Fraktionen hinweg als | |
ausgesprochen wissbegierig erwiesen. Und so kann sich die Liste der | |
Ergebnisse nach 25 Sitzungstagen durchaus sehen lassen: Er hat erstens den | |
Nachweis fahrlässiger Ermittlungen der Polizei im Fall des Rechtsextremen | |
Florian H. erbracht. Die Folge: drei Disziplinarverfahren gegen | |
Polizeibeamte. Zudem hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in diesem | |
Fall wieder aufgenommen. | |
Zweitens legte der Ausschuss offen, wie zwei Polizeibehörden und das | |
Innenministerium Disziplinarverfahren gegen zwei Polizisten, die Mitglied | |
im Ku-Klux-Klan waren, so lange verschleppten, bis wesentliche Vorwürfe | |
verjährt waren. Die erste Konsequenz: weitere Disziplinarverfahren und eine | |
Weisung, dass der Innenminister bei jedem Disziplinarverfahren wegen | |
politischen Extremismus informiert werden muss. | |
## Gegen Verschwörungstheorien | |
Drittens konnte der Landtag mit vielen in der Öffentlichkeit kursierenden | |
Verschwörungstheorien rund um den Kiesewetter-Mord und den Tod von Florian | |
H. aufräumen. | |
Und auch diese Versachlichung, das hat schon der NSU-Ausschuss im Bundestag | |
gezeigt, kann ein wichtiger Beitrag sein, wenn angesichts des bestürzenden | |
Versagens von Polizei und Verfassungsschutz beim jahrelangen Morden des NSU | |
manche schon vom „tiefen Staat“ fabulieren – also einer Verschwörung des | |
Staats mit dem rechten Terror. | |
Baden-Württemberg hatte sich anfangs schwer getan mit einem | |
Untersuchungsausschuss. Innenminister Reinhold Gall (SPD) stand zunächst | |
auf der Bremse und auch die Opposition wollte nicht so recht. Der magere | |
Kompromiss im Herbst letzten Jahres: eine Enquete-Kommission. Die fand | |
bald, dank des Grünen Obmanns Willi Halder, der ein Gutachten aus dem | |
Ausschuss zuerst an seine Fraktion weiter gegeben hatte, ein unrühmliches | |
Ende. Öffentlich unter Druck geraten, einigten sich Regierung und | |
Opposition dann doch auf einen Untersuchungsausschuss. Und plötzlich | |
überboten sich alle Seiten in ihrem Aufklärungswillen – aus | |
unterschiedlichen Motiven. | |
Die Grünen, von Anfang an für einen Untersuchungsausschuss, bekamen Druck | |
von ihrer Basis. CDU und FDP, in noch immer ungewohnter Oppositionsrolle im | |
Land, hatten die Hoffnung, dass die Befragungen auch einige Versäumnisse | |
des rot-regierten Innenministeriums offenlegen. Und dem | |
Ausschuss-Vorsitzenden Drexler (SPD) mag man auch angesichts seiner oft | |
empörten Ausbrüche gegenüber Zeugen im Ausschuss durchaus glauben, dass er | |
persönlich engagiert ist, wenn es darum geht, rechte Umtriebe im Land | |
aufzudecken. | |
## Keine Nebenerwerbsermittler | |
Wer sich allerdings erhofft hat, dass ein Ausschuss mehr vermag, als | |
Polizei und Justiz, wird enttäuscht. Ein Parlamentarischer | |
Untersuchungsausschuss ist kein Gremium aus Nebenerwerbsermittlern, es kann | |
nur eine Art öffentliche Super-Revision erledigen und so etwa | |
Ermittlungslücken aufdecken. | |
Wie beim Mord an Michèle Kiesewetter: Vergangene Woche mahnten die | |
Parlamentarier die Untersuchung des privaten E-Mail-Accounts der Polizistin | |
an. Darauf hatten die Ermittler verzichtet, weil der Server in den USA | |
steht. So können die Parlamentarier für Transparenz sorgen und das Signal | |
geben, dass Fehlverhalten in den Behörden nicht unentdeckt bleibt. Peinlich | |
war Beispielsweise der Auftritt von Martin Schairer, früher | |
Polizeipräsident und heute Bürgermeister für Recht, Ordnung und Sicherheit | |
in Stuttgart. Er wand sich, als er erklären musste, warum das Verfahren | |
gegen zwei Polizeibeamte, die mit Blut und Unterschrift dem Ku-Klux-Klan | |
beigetreten waren, über Jahre verschleppt wurde. Andere Behördenleiter | |
dürften sich künftig solche Auftritte ersparen wollen. | |
Ein ehemaliger Präsident des baden-württembergischen Verfassungsschutzes | |
räumte das komplette Versagen seiner Behörde angesichts des jahrelangen | |
Mordens des NSU ein. Das lässt hoffen, dass die Verfassungsschutzämter | |
daraus tatsächlich Konsequenzen ziehen. | |
## Die Zeit läuft | |
Aber was ist mit dem eigentlichen Auftrag des Ausschusses, Bezüge im Land | |
zu den Taten des NSU aufzudecken? Da sind die Parlamentarier mit ihrer | |
Arbeit noch nicht am Ende. Immer wieder tauchen Figuren aus der rechten | |
Szene im Südwesten auf, die so gut vernetzt sind, dass man ihnen die | |
Unterstützung des NSU zutrauen würde. Nicht ausgeschlossen, dass der | |
Ausschuss hier noch Verbindungslinien ziehen und neue Impulse für | |
Ermittlungen geben kann. | |
Allerdings bleibt dem Gremium nur noch wenig Zeit. Am 21. September tritt | |
es nach der Sommerpause das erste mal wieder zusammen. Dann sind noch 15 | |
Sitzungstage geplant. Bis zu den Landtagswahlen im Frühjahr 2016 muss der | |
Untersuchungsbericht des Gremiums vorliegen. Wenig Raum, um noch große | |
Erkenntnisse zu Tage zu fördern – oder sogar auf neue Erkenntnisse, die bei | |
den Befragungen aufkommen, zu reagieren. Im Ausschuss gibt es Unmut | |
darüber, dass man nicht an alle Akten kommt, die man vom Innenministerium | |
gerne hätte. Es gibt wohl auch Streit darüber, wer die Akten zur besseren | |
Bearbeitung digitalisieren muss. | |
Doch auch wenn die Asservate der einzige Scoop der Stuttgarter bleiben | |
sollten – ohne Ergebnisse, das ist heute schon klar, endet der | |
Untersuchungsausschuss nicht. | |
27 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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