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# taz.de -- Die Eurokrise als Familiendrama: Ein paternalistisches Verhältnis
> Tsipras hat aufbegehrt und wurde in die Rolle des unartigen Sohns
> gedrückt. Wer in einem Konflikt den Gegner abwertet, straft leichter.
Bild: Tsipras, der unartige Sohn.
Sie heben den Zeigefinger, als sprächen sie mit unartigen Kindern. Sie
sagen, die Hausaufgaben seien nicht gemacht. Es sei genug genervt worden,
schreien sie und kürzen das Taschengeld. Sie drohen: Wir werfen dich raus.
Wer die Füße unter ihrem Tisch hat, muss parieren.
Der Tisch, so sieht es aus, gehört den Deutschen. Die, die mit ihnen daran
sitzen, sind die Griechen. Sie wurden in die Rolle der Kinder gedrückt. Mit
Infantilisierung eines Gleichwertigen wird Staat gemacht. Das Szenario ist
unerträglich. Wer braucht solche Eltern?
Die Personen in diesem Vater-Mutter-Kind-Drama: Wolfgang Schäuble, Angela
Merkel, Alexis Tsipras. Schäuble ist das cholerische Familienoberhaupt,
Merkel die abwiegelnde Mutter – der Vater meine es doch nicht so, flüstert
sie – und Tsipras der unartige Sohn. (Der ältere Bruder, Gianis Varoufakis,
ist fluchtartig ausgezogen.)
Jugendämter wären, vorausgesetzt sie schauten hin, alarmiert, denn am
Tisch, an dem die drei sitzen, wird an schwarze Pädagogik geglaubt: an
Struwwelpeterzucht, an Max-und-Moritz-Moral, an Suppenkasparstrafe. Jungen,
die nicht tun, was der Vater will, haben keine Chance.
Wilhelm Buschs und Heinrich Hoffmanns Erziehungsideen sind lächerlich im
Vergleich zu Eltern-Kind-Dramen in der griechischen Mythologie. Dort etwa
frisst Kronos seine Kinder bis auf den durch eine List geretteten Zeus. Der
bringt seinen Vater später dazu, die Verschlungenen wieder auszukotzen, und
die Geschichte geht weiter. Autorität, so viel weiß die griechische
Überlieferung, kann sich gegen die Autoritären wenden. Und anders als die
Figuren der deutschen Hochkultur sind die Götter unsterblich.
## Der Vater sein
Zurück an den Tisch: Eigentlich saßen sich Staatsmänner gegenüber – Leute
von gleichem Rang. Allen voran war die deutsche Regierung – aber nicht nur
sie – nicht bereit, diese Augenhöhe zu akzeptieren. Schäuble machte sich
zum Zuchtmeister der griechischen Politiker und Tsipras zum unartigen Sohn.
Der widerspricht, hat andere Vorstellungen, will ein Europa für Menschen,
nicht für Finanzmärkte. Widerspruch reizt den Vater noch mehr, denn an
diesem Tisch ist der nicht erlaubt. Glaubt man Umfragen, findet ein
Großteil der Bevölkerung hierzulande das autoritäre Auftreten der
Übereltern gut. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
In der Aggressionsforschung wird beobachtet, dass jemand, der sich im Recht
fühlt und eine ungleiche Beziehung zum Gegner aufbaut – in diesem Fall die
eines Erwachsenen zu einem Kind – sich auch berechtigt fühlt zu strafen.
„Hat man einen anderen Menschen erst einmal abgewertet, fällt es leichter,
ihm wehzutun“, schreibt der Psychologe Elliot Aronson. Und in der
Sozialpsychologie wurde nachgewiesen, dass Empathie und Aggression eine
negative Korrelation eingehen, soll heißen, je weniger Empathie eine Person
aufbaut, desto mehr greift sie auf aggressive Verhaltensweisen zurück.
Hilfe an ein Land daran zu knüpfen, dass es wirtschaftlich ausblutet, ist
Aggression.
Auf der politischen Plattform ein Setting zu inszenieren, in dem die
politischen Grenzen durch Stigmatisierungen des Gegners aus dem
Gleichgewicht gebracht werden, widerspricht dem Prinzip der Kooperation und
vor allem der europäischen Idee. Es war eine Kriegserklärung mit
anschließender „Kapitulation“. Kapitulation – Varoufakis benutzt das Wor…
Tsipras benutzt andere Vergleiche. Er sagt, Deutschland wolle Griechenland
zu einer Kolonie machen, einem Billiglohnland am Rande Europas. Im
kolonialen Verhältnis war Infantilisierung übrigens gang und gäbe – das
Unbekannte sollte diszipliniert werden. Dass es so ist, ist in die Sprache
eingeflossen: In der Hierarchie der eroberten Kolonien erlaubt die
koloniale Sprache kein Oberhaupt, sondern nur verniedlichte Häuptlinge.
Analog ist Tsipras kein Staatschef, sondern ein Chefling.
Es scheint, dass in den Köpfen der entscheidenden Politiker die Sorge vor
dem Untergang Griechenlands einer perversen Lust an Griechenlands Untergang
gewichen ist – und damit auch an der Zerstörung der europäischen Idee. Es
hätte andere Lösungen gegeben, als Griechenland einen Sparkurs
aufzuzwingen, der die Entwicklung des Landes an den Abgrund führt, sagen
Wirtschaftsexperten. Lösungen auf Augenhöhe. Lösungen unter Gleichen.
Der Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt die Eskalationsstufen, die
von der Verhärtung eines Konflikts bis zum gemeinsamen Fall in den Abgrund
gehen. Er führt aus, wie der Druck auf den Gegner erhöht wird durch
Verhandlungsabbrüche, durch das Schmieden von Koalitionen gegen den Gegner
und dadurch, dass man dem Gegner einen Gesichtsverlust – also einen
Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust – zufügt.
Wer zu einem eigentlich gleichwertigen Staatsmann ein paternalistisches
Verhältnis aufbaut, um ihm zu sagen, wo es langgeht, bewegt sich auf diesem
Eskalationskurs. Vertrauensverlust ist auch schon gegeben: Griechenland
gilt nicht mehr als glaubwürdiger Partner. Nur so erklärt sich, dass die EU
die Treuhandanstalt überwacht, die griechisches Staatsvermögen
privatisieren soll.
## Der Sohn sein
Auf den letzten Eskalationsstufen gilt es bereits als Erfolg, wenn der
Schaden des anderen größer ist als der eigene. Es scheint, dass auch diese
Stufe nah ist. Auf der allerletzten geht man gemeinsam mit dem Gegner in
den Abgrund.
Die deutsche Regierung ist zu weit gegangen. Das zumindest ist das
internationale Echo. Deshalb streiten sich Papa und Mama gerade, wer daran
schuld ist. Es ist ein Ablenkmanöver. Politisch nämlich ändert sich nichts.
„Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“, sagte Schäubles Schwiegersohn.
Und Tsipras, der Sohn, der hat Rückendeckung in seinem Land. Als er dem
griechischen Volk sagte, dass er gezwungen war, ein Abkommen mit der EU zu
unterzeichnen, das seinen Versprechen widerspricht, entschuldigt er sich.
„Es hat sich noch nie ein Premierminister bei uns entschuldigt. Noch nie“,
sagt die Mutter eines Deutschgriechen, zitiert in der Jungen Welt, und
fährt fort: „Er sollte Ministerpräsident bleiben.“
Eine Entschuldigung Schäubles für die von ihm vorangetriebene Eskalation
wird es kaum geben.
Der Fuchs holt Hühner, der Wolf Schafe. Bauern mögen keinen von beiden. Den
Gevatter Wolf fürchten sie mehr. Denn der frisst auch Kinder, solche mit
roten Kappen.
Warum hast du so große Augen?
Damit ich dich besser sehen kann.
Warum hast du so große Ohren?
Damit ich dich besser hören kann.
Warum hast du so ein großes Maul?
Damit ich dich besser fressen kann.
Heißt der deutsche Wolf Wolfgang?
Rotkäppchen ist ein Initiationsmärchen. Die Verhandlungen mit der EU waren
Tsipras’ Initiation. Wollte man ihm beibringen, dass er selbst Wolf werden
soll?
25 Jul 2015
## AUTOREN
Waltraud Schwab
Bettina Schötz
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Europa
Wolfgang Schäuble
Yanis Varoufakis
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