| # taz.de -- Konflikt um Berg-Karabach: Die versehrte Zone | |
| > Während in der Hauptstadt Berg-Karabachs das Leben normal ist, sind im | |
| > Umland die Narben des Krieges zu sehen. Die Geschichte des Konflikts. | |
| Bild: Die zerstörte Stadt Agdam, wo die aserbaidschanische Armee im Krieg anfa… | |
| STEPANAKERT/AGDAM taz | Der Nebel hängt tief in Stepanakert, die Sicht | |
| reicht keine fünf Meter. Die Hauptstadt der nicht anerkannten Republik | |
| Berg-Karabach wirkt trostlos, die Straßen sind leer – November-Stimmung im | |
| Frühsommer. Die von Armeniern besiedelte Bergenklave liegt auf | |
| aserbaidschanischem Staatsgebiet. Seit 1988 schwelt hier, unbeachtet von | |
| der Weltöffentlichkeit, ein teilweise blutiger Konflikt, der kein Ende | |
| findet. | |
| Auf den ersten Blick erinnert wenig an Krieg: die Straßen blitzblank, die | |
| Regierungsbauten frisch gestrichen. Es herrscht scheinbare Normalität in | |
| der mit Abstand größten Stadt Berg-Karabachs. Nachdem Stepanakert im Krieg | |
| zum großen Teil zerstört wurde, flickt man nun mühsam die Wunden zusammen. | |
| Die Stadt möchte modern und jung wirken. Vor dem zentralen Park thront eine | |
| Statue von Stepan Shahumyan, dem Namensgeber der Stadt. Es gibt kostenloses | |
| Wifi für die Jugend, einen Vergnügungspark für die ganz Kleinen. Über der | |
| Hauptstraße schwebt ein Banner mit der englischen Aufschrift „Ensure free | |
| and fair elections with your participation“. Die Bemühungen um | |
| Demokratisierung soll auch den wenigen Touristen so kurz vor den | |
| anstehenden Parlamentswahlen nicht vorenthalten werden. Sogar ein moderner | |
| Flughafen ist entstanden, der jedoch auf Drohung der Aserbaidschaner hin | |
| nicht genutzt wird. Vor dem De-facto-Außenministerium regelt ein Polizist | |
| den Verkehr und winkt den vorbeifahrenden Fahrern zu, man kennt sich hier. | |
| Ein Hauch sowjetische Provinzidylle weht durch den Ort. | |
| Doch für die Menschen in der Region ist der Konflikt keineswegs vergessen. | |
| Kein Gespräch endet, ohne dass die Feindseligkeiten, die brenzlige | |
| Situation Erwähnung finden. Noch immer gibt es jährlich mehrere Tote bei | |
| Schießereien an der Frontlinie zu Aserbaidschan. Auch der 1994 mit Hilfe | |
| der OSZE ausgehandelte Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien | |
| Aserbaidschan, Armenien und Berg-Karabach hat nicht den erwünschten Frieden | |
| gebracht. | |
| Immer wieder fällt der Name „Agdam“, oft hinter vorgehaltener Hand. Was hat | |
| es auf sich mit diesem Ort? Agdam ist eine Geisterstadt, und man braucht | |
| eine spezielle Genehmigung, um die Ruinen dieses letzten Kriegsschauplatzes | |
| zu besichtigen. | |
| Nach längerem Suchen lässt sich ein Fahrer überreden, die Fahrt dorthin für | |
| umgerechnet 12 Euro pro Person zu unternehmen. Vartan* macht diese Tour | |
| nicht zum ersten Mal – ein lukrativer Nebenverdienst zu den offiziellen | |
| Touristenfahrten. Er wirkt gelassen, will aber den Sinn eines Besuchs nicht | |
| nachvollziehen. Zumindest behauptet er das. „Was wollt ihr da? Dort gibt es | |
| nichts zu sehen“, erklärt er in akzentfreiem Russisch. Auf Fragen antwortet | |
| er trocken: „Otkuda ja znaju?“ – Woher soll ich das wissen? | |
| ## Fruchtbares Land, guter Wein | |
| Agdam liegt etwa 26 Kilometer östlich von Stepanakert und schon nicht mehr | |
| auf dem Gebiet Berg-Karabachs. Die damalige Hauptstadt der gleichnamigen | |
| Region befindet sich auf einem von sieben „umliegenden Gebieten“, die heute | |
| von den Karabach-Armeniern kontrolliert werden. Dem Südkaukasus-Experten | |
| Thomas de Waal zufolge sind insgesamt rund vierzehn Prozent des | |
| aserbaidschanischen Staatsgebiets von Armenien besetzt. Agdam wurde im 18. | |
| Jahrhundert gegründet und erhielt 1828 Stadtstatus. Es gab Fabriken, einen | |
| Güterbahnhof und – besonders guten Wein. Zwischen 40.000 und 50.000 | |
| Menschen lebten hier einst, der Großteil davon Aserbaidschaner. | |
| Das Handy registriert als erstes, dass Vartan immer weiter in | |
| aserbaidschanisches Staatsgebiet vordringt, es wechselt ins lokale Netz. | |
| Die Straßen werden schlechter, die Schlaglöcher größer. Auf der rechten | |
| Seite tauchen die ersten Ruinen auf. Einige Kühe und Schafe grasen zwischen | |
| Trümmerhaufen. Menschen leben hier kaum noch. Ein Schrotthändler hat sich | |
| am Rande der Geisterstadt niedergelassen. In seinem Garten stapeln sich | |
| ausgebrannte Autoskelette und verrostete Tankbehälter. Ab und zu kommt ein | |
| Militärtransporter aus der Gegenrichtung. Wie viele Soldaten seit Ende des | |
| Krieges in Agdam stationiert sind, weiß niemand. | |
| Seit fast hundert Jahren streiten Armenier und Aserbaidschaner um das | |
| fruchtbare Land. Beide berufen sich auf die historische Bedeutung der | |
| Region für die jeweilige Nation. Der „schwarze Garten“, Nagorno-Karabakh | |
| oder zu Deutsch Berg-Karabach, kam dabei immer wieder unters Joch der | |
| Großmächte. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Region kurz zu Armenien, | |
| in der Stalin-Ära wurde sie Teil der Aserbaidschanischen Sozialistischen | |
| Sowjetrepublik, war aber autonomes Gebiet. Schon zu dieser Zeit waren etwa | |
| dreiviertel der Einwohner ethnische Armenier. | |
| Mit dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu Pogromen an Armeniern in | |
| verschiedenen Orten Aserbaidschans. Umgekehrt gab es Angriffe gegen | |
| Aserbaidschaner in Armenien. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben. In | |
| Berg-Karabach hatten die christlichen Armenier und die muslimischen | |
| Aserbaidschaner jedoch über Generationen hinweg friedlich zusammengelebt. | |
| Davon wissen und erzählen heute nur noch die Alten. | |
| ## Verwilderte Landschaft | |
| Ende der achtziger Jahre forderten die Karabach-Armenier einen Anschluss | |
| ihrer Region an Armenien, sie fühlten sich von der aserbaidschanischen | |
| Führung unterdrückt. Daraufhin gab es wütende Proteste der Aserbaidschaner | |
| in Agdam. Eine kleine Schar von Männern zog am 22. Februar 1988 in Richtung | |
| des armenischen Dorfes Askeran. Dort erwartete sie bereits eine Gruppe von | |
| bewaffneten Einwohnern, zwei Menschen starben. Die ersten Vorzeichen eines | |
| heranschleichenden Krieges. | |
| Die Landschaft am Straßenrand wird wilder. Die Natur holt sich alles | |
| zurück, überwuchert Häuserreste, tilgt letzte Spuren menschlichen Lebens. | |
| Hier soll es noch Landminen geben. Immer wieder sieht man die dunkelblauen | |
| Schilder von Halo Trust, die signalisieren, dass das besagte Stück Land | |
| entmint wurde. Doch vom Aussteigen rät Vartan ab. Fotos – nur aus dem Auto, | |
| sagt er streng. Je länger die Fahrt dauert, desto nervöser wirkt auch. | |
| Schließlich hält er an. „Weiter fahre ich nicht. Ab hier kann ich nicht | |
| mehr für Sicherheit garantieren.“ Wenige hundert Meter weiter erhebt sich – | |
| wie ein gespenstischer Zeigefinger – das Minarett der persischen Moschee. | |
| Das einzige Gebäude, das noch zu erzählen vermag: Hier war mal eine Stadt! | |
| Vartan lässt sich überreden, die Gruppe kurz aussteigen zu lassen. Zehn | |
| Minuten – und keine Garantie, sagt er. Vor der Moschee liegt die | |
| Blechkuppel eines der beiden Minarette, verbeult und vergessen. Von der | |
| Spitze des Minaretts wird das eigentliche Ausmaß der Zerstörung deutlich. | |
| Ruinen, so weit das Auge reicht, Narben eines Kriegs, der noch gar nicht so | |
| lange her ist und der als „Konflikt“ weiterbrodelt, aber international | |
| weitgehend ignoriert wird. Spätestens jetzt wird verständlich, warum man | |
| nach Agdam kommen muss, um diesen Konflikt zu „sehen“, zu begreifen. Die | |
| grauen Nebelschwaden verdecken das Bergpanorama und geben dem Ort etwas | |
| Geisterhaftes. | |
| Vartan wartet abfahrbereit im Wagen. Plötzlich beginnt er zu erzählen. Auch | |
| er hat m Krieg gekämpft, hier, auf Seiten der Armenier. Der Iran habe sie | |
| damals gebeten, die Moschee zu verschonen. Auf die Frage, warum sie dann | |
| die Stadt komplett zerstört hätten, antwortet er: „Sie haben uns von Agdam | |
| aus beschossen, wir hatten keine andere Wahl.“ Aserbaidschanische Quellen | |
| sprechen von einer systematischen Zerstörung der Stadt nach ihrer Einnahme. | |
| ## Siegeszug der Armenier | |
| Zu Beginn des Krieges hatte die aserbaidschanische Armee Agdam zu ihrem | |
| Hauptquartier gemacht. Bis zum Sieg der Armenier blieb die Stadt eine ihrer | |
| letzten Bastionen. Der Siegeszug der Armenier war aber damals schon fast | |
| nicht mehr zu stoppen. Bereits im Sommer 1992 hatten armenische Truppen die | |
| für die Aserbaidschaner strategisch wichtige Stadt Schuscha eingenommen und | |
| damit ihre Kontrolle über das Gebiet gestärkt. In Agdam herrschte Chaos, | |
| verschiedene Einheiten bekriegten sich gegenseitig. In der | |
| aserbaidschanischen Hauptstadt Baku sah es nicht besser aus. Es kam zur | |
| Regierungskrise, dadurch konnten die Aserbaidschaner die Karabach-Front | |
| praktisch nicht mehr verteidigen. | |
| Am 23. Juli 1993 nahmen die Armenier Agdam ohne große Gegenwehr ein. Die | |
| meisten Einwohner waren bereits geflohen. Seitdem gehört die Stadt zum | |
| besetzten Gebiet durch die Karabach-Armenier und dient als | |
| Schutz-Pufferzone zwischen der Frontlinie und dem eigentlichen Gebiet | |
| Berg-Karabachs. 1994 wurde mit Hilfe der Minsk-Gruppe der OSZE ein | |
| Waffenstillstand ausgehandelt. Doch von Frieden kann keine Rede sein. | |
| Als das Auto die tote Zone hinter sich hat, greift Vartan ins Handschuhfach | |
| und bietet einen Schluck aus seinem Flachmann an. Maulbeer-Brandy, eine | |
| Spezialität der Region. Ob seine Mitfahrer etwas Interessantes gesehen | |
| hätten? Das Bild, das sich von der Spitze des Minaretts bot, war schon | |
| gespenstisch. Vartan nickt und schweigt einen Moment. „Ich hatte einmal | |
| einen aserbaidschanischen Freund. Keine Ahnung, was aus dem geworden ist. | |
| Wahrscheinlich ist der längst tot. Otkuda ja znaju?“ | |
| In seiner Stimme schwingt scheinbare Gleichgültigkeit mit. Er bietet noch | |
| einen Schluck an. Dann zeigt er auf die Ruinen am Straßenrand. „Hier wollen | |
| sie jetzt Gemüse und Obst anbauen.“ Ein Bagger steht inmitten der Trümmer. | |
| Die Steine sind als Material für den Straßenbau und die Modernisierung der | |
| Hauptstadt bestimmt. Blitzblanke Straßen und Gemüsegärten, die präsentiert | |
| man lieber als Geisterstädte und Kriegswunden. | |
| * Name geändert | |
| 30 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Toetzke | |
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