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# taz.de -- Reportagen von Victor Klemperer: Sekunden vor dem Überschäumen
> Daniel Kehlmann ergründete in Berlin, warum Victor Klemperer eine
> Sensation ist. Viele Reportagen des Romanisten wurden erst jetzt
> veröffentlicht.
Bild: Ein Zauberer der Sprache: Victor Klemperer (Archivbild).
Bestseller-Autor Daniel Kehlmann legte am Donnerstag im Berliner Deutschen
Theater Zeit-Feuilleton-Chef Adam Soboczynski bei einem Talk mit Lesung
dar, was ihn für Victor Klemperer einnimmt. Nach einer Stunde wird das
Publikum die beiden mitten im Satzfetzen von der Bühne klatschen. Wie
konnte es nur so weit kommen?
Zunächst einmal: Dem Ganzen ging eine Sensation voraus – die
Veröffentlichung von „Man möchte immer weinen und lachen in einem“: frühe
Zeitungsartikel Klemperers aus der Münchener Revolutionszeit 1919/20 und
die Revolutionstagebücher von 1942. Fast nichts davon war bisher
veröffentlicht. Zwei Drittel der Zeitungsberichte gingen mit der Post
verloren, wurden nie gedruckt.
Von Haus aus Romanist, arbeitete Klemperer auch als Reporter für die
Leipziger Neuesten Nachrichten. „Für jemanden, der eine
Universitätskarriere anstrebte, war das anrüchig“, so Kehlmann. Ging es dem
honorarlosen Privatdozent ums Geld? Nein. „Er will einen Grund haben,
überall hinzugehen, zu den merkwürdigsten Versammlungen“, meint Kehlmann.
Klemperers Bildsprache ist schon genial. Traubenförmige Gruppen beschreibt
er im Revolutionsgemenge so: Er fühle sich erinnert an das „Blasenwerfen
kochender Milch, das ihrem Überschäumen um ein paar Sekunden vorausgeht“.
In spätestens 24 Stunden ständen ein Streik der Trambahner an und sehr
wahrscheinlich ein Feuergefecht. Klemperer schimpft auf die „Bierbäuche und
Bierherzen“ der Münchener Kleinbürger, staunt dann aber über das
„italienische Moment“, das ihnen innewohne – „fettüberpolstert“.
## Revolution der Boheme
Und dann die legendäre Rede des Ministerpräsidenten Kurt Eisner bei den
Unabhängigen Sozialdemokraten: „Ich bin ein Fantast, ein Schwärmer, ein
Dichter“, soll Eisner gesprochen haben. Und: „Folgen Sie Ihrer Meinung und
lassen Sie uns einig sein!“
Es dauert keine hundert Tage, bis Eisner erschossen auf dem Straßenpflaster
seiner Residenz liegt. „Dieser Feuilletonist hatte den Bayerischen Thron
gestürzt“, schreibt Klemperer. Und das ist auch sein Vorwurf: dass diese
Revolution gar nicht vom Volke ausgegangen sei, sondern von der Boheme.
„Könntest du dir vorstellen, Kommissar für Volksaufklärung zu werden?“,
will Soboczynski von Kehlmann wissen. „Und was wären deine ersten
Maßnahmen?“ Gelächter im Parkett. Künstler seien nicht für den langweilig…
Pragmatismus gemacht, gibt Kehlmann zu: „Es muss weiterhin Müllabfuhr geben
am Morgen nach der Revolution.“
Soboczynski fühlt sich an „griechische Zustände“ erinnert, wenn im Buch d…
Banken geschlossen werden. Gegen Ende des Revolutionstagebuchs findet dann
eine spürbare Verdunkelung statt, weil die „Hauptstadt der Bewegung“
beginnt, wie die Nazis München nannten.
## Großartige Alltagsszenen
Klemperer, dessen Bewegungsfreiheit im „Dritten Reich“ aufs Drastische
eingeschränkt wird, versuche, so Kehlmanns spannende These, auch dann noch
Reporter zu bleiben, indem er alles von den Nazis lese, wenn auch mit
großem Wiederwillen – um schließlich im „Notizbuch eines Philologen“ die
Sprache der Nazis auseinanderzunehmen. Klemperer, wie wir ihn bisher
kannten, kann nicht mehr zum Zeugen der Ereignisse werden. Deshalb versucht
er, zum Zeugen der Sprache zu werden.
Im Seminar des Romanisten Klemperer meldet sich ein Student: Er wisse ja,
er solle über Goethe reden. Aber wolle man nicht lieber über Politik
diskutieren? Klemperer findet das zwar kurios, macht aber gern das Angebot,
nach der Stunde über Politik zu reden. Es ist die große Stärke Klemperers,
dass er Szenen aus dem Alltag so großartig beschreibt wie die großen
Ereignisse der Historie. Hier wird geschossen, aber im Nebenzimmer
musiziert die Frau.
Als Soboczynski über die Ästhetisierung des Kampfgeschehens bei Klemperer
parlieren möchte, schneidet ihm das Publikum mit Applaus das Wort ab. Man
will wieder Burghart Klaußner hören, der mit Verve und Gestik und allen
Nuancen Klemperers Szenen erstklassig zum Klingen bringt.
12 Jul 2015
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Sprache
Buch
Schriftsteller
Familie
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