# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Grexit – und was dann? | |
> Fast niemand in Griechenland will den Ausstieg. Die Drachme eröffnet | |
> keine Zukunftsperspektiven – außer für Spekulanten. | |
Bild: Geschlossene Geschäfte in Athen: Was kommt als Nächstes? | |
Ob es zu einem Grexit kommt, können wir heute nicht wissen. Selbst wenn der | |
Austritt Griechenlands aus der Eurozone in den nächsten Wochen vermieden | |
wird, bleibt für längere Zeit noch ein Graccident möglich: eine Art | |
historischer Betriebsunfall, den niemand wirklich gewollt hat, den aber zu | |
wenige EU-Politiker unbedingt verhindern wollten. | |
Diese Gefahr wird erst gebannt sein, wenn Griechenland von seinen | |
Gläubigern die Chance zu einem Neustart bekommt, und wenn die Athener | |
Regierung diese Chance auch ergreift. Dazu müssen drei Voraussetzungen | |
erfüllt sein: Eine massive Schuldenentlastung mit dem Ziel, die Politik des | |
Totsparens zu beenden; ein radikales Programm innerer Reformen, vor allem | |
im Sinne eines effektiven öffentlichen Dienstes und der Durchsetzung | |
strikter Steuerdisziplin, um stabile Staatseinnahmen zu garantieren; und | |
ein realistisches Zukunftsprogramm für die griechische Wirtschaft, das | |
einheimische Potenziale aktiviert und zugleich ausländische Investitionen | |
anzuziehen vermag. | |
Das Gegenteil einer solchen „Flucht nach vorn“ aus der Krise wäre der | |
Grexit. Von einer großen Mehrheit der griechischen Bevölkerung wird er als | |
nationale und persönliche Katastrophe gesehen. Alle Umfragen seit dem | |
Wahlsieg der Syriza und der Bildung der Regierung Tsipras zeigen, dass 70 | |
bis 80 Prozent aller Befragten in der Eurozone bleiben wollen, um den | |
Rückfall in eine inflationäre Währung zu vermeiden. Lediglich 18 | |
beziehungsweise 25 Prozent sind für den Grexit oder halten einen Graccident | |
für kein Unglück. Aber nur 13 Prozent verbinden mit der Rückkehr zur | |
Drachme die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Krise. | |
Auch die Syriza-Wähler sind mehrheitlich für den Verbleib in der Eurozone. | |
Allerdings meinen knapp ein Drittel, Tsipras solle einen Grexit riskieren, | |
falls die Verhandlungspartner der „Brüsseler Gruppe“ (die Troika aus | |
EU-Kommission, EZB und IWF) Athen nicht genügend entgegenkommen. Ein | |
Großteil der griechischen Bevölkerung will also, dass die Regierung Tsipras | |
jenen „ehrenvollen“ Kompromiss erzielt, den die Syriza-Führung | |
erklärtermaßen anstrebt, um einen Grexit zu vermeiden. | |
## I owe you | |
Zunächst ist zu klären, wie sich ein Grexit – mit oder ohne Graccident – | |
vollziehen würde. Ausgangspunkt wäre die Zahlungsunfähigkeit des Staates. | |
Falls Athen von den Gläubigern keine neuen Gelder bewilligt bekommt, wird | |
die Regierung spätestens Ende Juni keine Gehälter mehr auszahlen können. | |
Das würde einen Run auf die Bank auslösen, weil jeder seine letzten Euros | |
abheben und unter die Matratze stecken würde. Um die Banken zu retten, | |
müssten unverzüglich Finanzkontrollen eingeführt werden, einschließlich der | |
Begrenzung von Barabhebungen. Da sich die Regierung nicht mehr bei den | |
einheimischen Banken verschulden könnte, müsste sie staatliche Gehälter und | |
Renten in einer hausgemachten „Ersatzwährung“, sogenannten IOUs (I owe you) | |
auszahlen. Es wäre der erste Schritt zum mehr oder weniger geordneten | |
Ausscheiden aus dem Euro-Währungsverbund. | |
Was ein Grexit für die Eurozone bedeuten würde, darüber gehen die Ansichten | |
in Brüssel, bei der EZB in Frankfurt und in den europäischen Hauptstädten | |
auseinander. Politiker, die Athen unter Druck setzen wollen, spielen die | |
Gefahr einer Ansteckung anderer Krisenländer herunter. Tatsächlich ist | |
diese Gefahr heute geringer als vor drei Jahren. Die „Brandmauer“ zwischen | |
den Krisenherden wurde verstärkt; ehemalige Ansteckungskandidaten wie | |
Spanien und Portugal können ihren Kreditbedarf heute wieder über die | |
Finanzmärkte decken. | |
Allerdings sehen viele Beobachter auch eine politische Gefahr. Prominente | |
Grexit-Gegner wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman prophezeien „riesige | |
politische und finanzielle Risiken für das übrige Europa“. Aus Athener | |
Sicht ist die politische Seite des Problems deshalb wichtig, weil dessen | |
Einschätzung die Haltung der europäischen Partner bestimmt. So sieht | |
Tsipras in Kommissionspräsident Juncker und Finanzkommissar Moscovici | |
potenzielle Bundesgenossen gegen „harte“ Finanzpolitiker wie Schäuble und | |
Dijsselbloem, Chef der Eurogruppe, die seit Wochen mit der Möglichkeit | |
eines Graccident spielen – oder drohen. | |
## Argentinien ist kein Vorbild | |
Aber ist das wirklich eine Drohung? Manche Ökonomen wollen den Griechen ja | |
die Rückkehr zu einer autonomen Währung als Perspektive schmackhaft machen. | |
Der rührigste deutsche Griechenland-Versteher, Hans Werner Sinn, Chef des | |
Münchner Ifo-Instituts, behauptet seit Beginn der Krise, allein die | |
Rückkehr zur Drachme könne die griechische Wirtschaft retten: „Schon nach | |
ein bis drei Jahren würde sich das Blatt wenden, und die Arbeitslosigkeit | |
ginge zurück.“ Mithilfe einer billigen Drachme könnte Griechenland | |
„konkurrenzlos billige Produkte auf den europäischen Markt werfen und | |
Touristen wie Investoren anlocken“. | |
Sinn verweist auf das Vorbild Argentinien, das mit der Aufgabe der | |
Dollarbindung angeblich seine Wirtschaftskrise überwunden habe. Aber es | |
gibt wichtige Unterschiede: Argentinien hat vom billigen Peso nur deshalb | |
profitiert, weil es weltmarktfähige Produkte (Soja, Fleisch) exportieren | |
konnte. Griechenland hat vergleichbare Ausfuhrgüter nicht. Und um eine | |
Industrie zu entwickeln, die Güter mit hoher Wertschöpfung für den Export | |
produzieren könnte, müssen die wichtigsten Vorleistungen und | |
Investitionsgüter (Technologie, Erdölprodukte) importiert werden – die mit | |
einer inflationären Drachme unbezahlbar wären. | |
Damit ist ein zentrales Problem benannt. Die meisten Drachmen-Anhänger | |
unterschlagen die Wirkung einer inflationären Währung für ein Land, das 48 | |
Prozent seiner Lebensmittel und 82 seiner Energie importiert. Auch | |
unentbehrliche Produkte wie Arzneimittel oder industrielle Ersatzteile | |
würden sich laufend verteuern. Statt die Zahlungsbilanz durch Exporte zu | |
sanieren, würden steigende Importpreise das Defizit nur noch vertiefen. Bei | |
der hohen Importquote Griechenlands droht zudem eine Hyperinflation und | |
damit eine Minderung der Realeinkommen, eine Schwächung der | |
Binnenwirtschaft und steigende Arbeitslosenzahlen. Inflation geht | |
bekanntlich stets zu Lasten der kleinen Leute. | |
## Endgültige Insolvenz | |
Auch das Schuldenproblem würde durch einen Grexit nicht gelöst, sondern | |
noch verschärft: Eine inflationäre Drachme würde alle in Euro notierten | |
Zahlungsverpflichtungen massiv aufwerten, also nicht nur die Staatsschuld, | |
sondern auch Schulden von Unternehmen gegenüber ausländischen Lieferanten. | |
Die Folge wäre die endgültige Insolvenz nicht nur des Staates, sondern auch | |
lebensfähiger Betriebe – und damit weitere Arbeitsplatzverluste. | |
Allerdings bietet der Grexit auch eine Chance, zumindest auf den ersten | |
Blick. Griechenlands eigentliche „Exportindustrie“ ist der Tourismus; diese | |
Dienstleistung könnte Ausländern also billiger angeboten werden. Dabei ist | |
freilich offen, welche Chancen das Produkt „Griechenlandurlaub“ gegen | |
Billiganbieter wie Spanien und die Türkei hätte. Zudem brächte ein Boom im | |
Bereich des All-inclusive-Tourismus für Griechenland nicht viel, denn diese | |
Profite würden internationale Unternehmen abschöpfen. | |
Das Potenzial der „Exportbranchen“ Landwirtschaft und Tourismus ist zu | |
begrenzt, um eine Drachmen-Ökonomie aus der Krise ziehen zu können. So | |
sieht es ein Artikel der Bloomberg-Experten, die für den Fall | |
„Staaatsbankrott plus Grexit“ folgende Gesamtrechnung aufmachen: Da die | |
griechische Realwirtschaft seit Beginn der Krise bereits um 25 Prozent | |
geschrumpft ist, könnte ein weiteres Schrumpfen des BIPs um nur 10 Prozent | |
(optimistische Annahme) eine „politische und ökonomische Kernschmelze“ | |
auslösen. | |
Diese Einschätzung wird von vielen Ökonomen geteilt. Ein besonders | |
glaubwürdiger Mahner gegen den Grexit ist der griechische Finanzminister | |
Varoufakis, der 2001 ein entschiedener Gegner des griechischen | |
Euro-Beitritts war. Wenn der Einstieg in den Euro damals falsch war, | |
argumentiert er, heißt dies nicht, dass der Ausstieg heute richtig sei | |
„Wenn man mal drin ist, kommt man nicht raus, ohne dass es eine Katastrophe | |
gibt.“ | |
## Steuerbetrug und Korruption | |
Und Varoufakis denkt dabei nicht nur an die ökonomischen Krise. Es gibt | |
drei weitere Aspekte, die in der rein ökonomische Grexit-Debatte ignoriert | |
werden – besonders von „Experten“, die sich mit neoliberalen Modellen, ab… | |
nicht mit Griechenland auskennen. | |
Der erste Aspekt betrifft die Organisation des Übergangs zur eigenen | |
Währung. Sie setzt generalstabsmäßige Planung und Umsetzung voraus, mit der | |
die griechische Bürokratie völlig überfordert wäre, zumal unter einer | |
Regierung, die wenig administrative Erfahrung mitbringt. Und sie erfordert | |
ein Maß an Disziplin und Verschwiegenheit, das der gesamten politischen | |
Klasse fremd ist. In der Financial Times schrieb der Auslandsgrieche | |
Haridimos Tsoukas im Mai 2015, dass der Umstieg „von einer weitgehend | |
demoralisierten, inkompetenten und klientelistischen Bürokratie nicht zu | |
leisten“ sei. | |
Das Stichwort „klientelistisch“ verweist auf den zweiten Aspekt. Die Krise | |
der letzten fünf Jahre hat das Bewusstsein vieler Griechen für die | |
„Ursünden“ geschärft, die zur Fehlentwicklung ihrer Gesellschaft geführt | |
haben: Steuerbetrug, Korruption und [1][das Klientenverhältnis zwischen | |
politischer Klasse und Bürgern]. Der in Griechenland lebende Experte Jens | |
Bastian sieht die starke Euro-Bindung der meisten Griechen auch im | |
Misstrauen gegen die eigenen Eliten begründet: Die Leute wollen nicht, | |
„dass staatliche Repräsentanten abermals die Hände an die Gelddruckmaschine | |
legen können, um die eigene Gefolgschaft in Landeswährung zu bedienen“.12 | |
Der Wahlsieg der Syriza war auch Ausdruck der Einsicht, dass diese | |
politischen Krankheiten überwunden werden müssen. Doch ein Grexit würde den | |
Ansatz zur im Lauf der Krise veränderten Einstellung wieder im Keim | |
ersticken. | |
Das wäre der eigentliche „Graccident“, den viele Griechen fürchten, weil … | |
ihnen Kapitalkontrollen, einen grauen Devisenhandel und einen | |
Euro-Schwarzmarkt bescheren würde. Das Chaos würde eine neue alte Klasse | |
von Profiteuren hervorbringen: bestochene Zöllner und geschmierte Banker – | |
und alle, die ein größeres Euro-Polster besitzen, unter der Matratze oder | |
auf ausländischen Banken. | |
## Grexit-Spekulanten | |
Dies ist der dritte und sozial verheerendste Grexit-Aspekt. Die Rückkehr zu | |
einer inflationären Drachme würde die sozial ausgemergelten | |
Bevölkerungsschichten einer Kaste von Euro-Besitzern ausliefern, die das | |
Land buchstäblich aufkaufen würden – vorweg seine touristisch verwertbaren | |
Immobilien. Das Ergebnis wäre die größte Vermögensumverteilung in Europa | |
seit dem Einzug des Kapitalismus in die ehemalige Sowjetunion. Wobei die | |
Krisengewinnler nicht nur griechische Besitzbürger wären, die ihre Euros in | |
die Schweiz, nach London oder Berlin gebracht haben. Sondern auch | |
ausländische Unternehmen und Hedgefonds, die eine günstige Geldanlage | |
suchen, ohne auf schnelle Profite angewiesen zu sein. Was auch für jede Art | |
von Mafia gilt. | |
Diese in der Kulisse wartenden Interessenten werden in Griechenland seit | |
Beginn der Krise als „Drachmen-Fraktion“ bezeichnet. Tsipras und sein | |
ökonomisches Kernkabinett kennen die Interessen und Strategien dieser Leute | |
sehr genau. Doch sie haben nicht wenige Grexit-Befürworter im eigenen | |
Lager, wie den Umwelt- und Energieminister Panayotis Lafazanis von der | |
Linken Plattform innerhalb der Syriza. Er war schon immer gegen die | |
Mitgliedschaft Griechenlands in der EU und der Eurozone. Heute meint er, es | |
gebe „viele alternative Wege“ aus der Krise, einen konkreten Plan B hat er | |
nie präsentiert. | |
Chefökonom der linken Grexit-Fraktion ist der Syriza-Abgeordnete Kostas | |
Lapavitsas. Der bekennende Marxist glaubt, das Chaos nach Einführung der | |
Drachme werde allenfalls „ein paar Wochen“ dauern, die neue Währung nur um | |
15 bis 20 Prozent abwerten und die Wirtschaft werde sich binnen Kurzem | |
erholen. Dem Hinweis auf die schlagartige Erhöhung der Schuldenlast in Euro | |
begegnet Lapavitsas mit der Forderung nach einem „kompletten | |
Schuldenschnitt“. Das sei „der Preis, den Europa zahlen muss, damit sich | |
Griechenland aus der Eurozone verabschiedet.“ | |
Diese Sichtweise, die er gegenüber dem Zentralorgan der deutschen | |
Grexit-Fans, der Bild-Zeitung, formulierte, gleicht aufs Haar dem Programm | |
der Alternative für Deutschland (AfD) und neoliberaler Euro-Fighter wie | |
Hans Olaf Henkel.13 Der linke Flügel der Syriza auf einer Linie mit | |
europaskeptischen Rechtspopulisten, die den faulen Griechen deutsche | |
Tugenden beibringen wollen, das ist eine eigenartige Konstellation. Obwohl | |
die Gegenspieler von Tsipras keinerlei Sympathie für die Grexit-Spekulanten | |
hegen, machen sie sich damit objektiv zu deren nützlichen Idioten. | |
21 Jun 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://monde-diplomatique.de/artikel/!225662 | |
## AUTOREN | |
Niels Kadritzke | |
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