| # taz.de -- Zu Besuch bei Griechenlands Führung: Wie tickt Syriza? | |
| > Egal was kommt: Die Jungmännertruppe des griechischen Premiers schreibt | |
| > Geschichte – ein waghalsiges Projekt. | |
| Bild: Irgendwie immer noch in der Opposition: Jannis Varoufakis am Samstag im P… | |
| ATHEN/THESSALONIKI taz | Katerina Notopoulous Handy klingelt im | |
| Minutentakt. Notopoulou, 27, ist Mitglied des Zentralkomitees – also des | |
| Parteivorstands – der regierenden Syriza-Partei. Ich wohne bei ihr. | |
| Eigentlich wollten wir uns an diesem Tag ein wenig freinehmen und an die | |
| Küste fahren. „Danke, Merkel, danke, Alexis, dass ihr mir meinen Tag | |
| versaut“, sagt sie mit saurem Gesicht zwischen zwei Telefonaten mit | |
| aufgebrachten Parteigenossen, die es nicht fassen wollen: Stimmt die | |
| Tsipras-Regierung tatsächlich einem neuen, fatalen Sparprogramm über 8 | |
| Milliarden Euro zu? | |
| Es ist Dienstag, eben sind Details dessen durchgesickert, was der | |
| Premierminister am Vortag den Staats- und Regierungschefs der EU beim | |
| Krisengipfel vorgeschlagen hat. Ich brettere mit unserem kleinen Fiat von | |
| Thessaloniki über die holprigen Straßen nach Chalkidiki. | |
| Ein Sparprogramm, das den Schrecken nur verlängert und alles nur noch | |
| schlimmer macht? Mehr von der Medizin, die den Tod bringt? Kaum jemand in | |
| Griechenland kann sich in diesem Moment vorstellen, wie Tsipras so ein | |
| Abkommen durch seine Partei oder die Parlamentsfraktion bringen will. Die | |
| Syriza-Funktionäre fürchten, dass sie nur die Wahl zwischen zwei | |
| Horrorszenarien haben: einem Abkommen zuzustimmen, das auf beinahe | |
| kriminelle Weise unverantwortlich ist, oder dagegen zu stimmen und die | |
| eigene Regierung in die Luft zu sprengen. | |
| „Ich habe Angst“, flüstert Nikos, der hier in Thessaloniki Parteisekretär | |
| ist. „Dieses Abkommen können wir in der Gesellschaft nicht verteidigen, | |
| unmöglich“, sagt Katerina. Ein Gerücht schwirrt herum: Tsipras wolle | |
| zustimmen, weil er nicht derjenige sein möchte, der Griechenland aus der | |
| Eurozone führt. Gianis Varoufakis, der Finanzminister, und Efklides | |
| Tsakalotos, der Chefunterhändler, würden sich angeblich gegen das Abkommen | |
| sperren. | |
| Athen, ein paar Tage zuvor. Die Sonne glüht über der Villa Maximos am Rand | |
| des Nationalgartens. Ein wenig sieht der Amtssitz des griechischen | |
| Premierministers aus wie eine geschrumpfte Version des Weißen Hauses. | |
| Palmen flimmern in der Hitze. An einem Samstagvormittag trottet sie auch | |
| hier ein bisschen langsamer vor sich hin – die Revolution eigener Art, die, | |
| ja, was eigentlich will? Den Sparkurs in Europa stoppen? Griechenland | |
| retten? Oder gar eine zeitgenössische Form des Sozialismus ausprobieren? | |
| ## Im Büro von Tsipras spricht man Deutsch | |
| Rein durch den Seiteneingang, durch die Sicherheitsschleuse, rauf ins Reich | |
| von Alexis Tsipras. Die junge Frau im Vorzimmer lacht fröhlich. „Sie können | |
| ruhig deutsch mit mir reden, ich bin halb deutsch, halb griechisch“, sagt | |
| sie. Deutsch ist hier die zweite Lingua Franca. Viele haben in Deutschland | |
| studiert oder sind dort aufgewachsen. „Wenn wir geheimes Zeug besprechen, | |
| reden wir deutsch, damit uns die Beamten nicht verstehen“, hatte mir ein | |
| Syriza-Mitarbeiter am Vortag erzählt. | |
| Dimitris Tzanakopoulos spricht natürlich auch Deutsch. Er ist offiziell | |
| „Generalsekretär des Premierministers“, also so etwas wie der Chef des | |
| Kanzleramtes, Tsipras‘ rechte Hand. Ironischer Blick, Hemd, Jeans, | |
| Dreitagebart – in einer schicken Hipsterkneipe würde der Syriza-Stratege | |
| nicht auffallen. | |
| Wenn irgendwo, dann laufen die Fäden der neuen Macht bei der modernen, | |
| smarten Jungmännertruppe um Tsipras, Tzanakopoulos und Staatsministers | |
| Nikos Pappas zusammen. „Nicht nur, dass wir praktisch vom ersten Tag an die | |
| schwierigsten Verhandlungen führen mussten und mit dem Rücken zur Wand | |
| standen – wir sind ja das erste Mal überhaupt in einer Regierung“, erinnert | |
| er sich an die Tage zurück, als Alexis Tsipras im Januar in die | |
| Regierungszentrale einzog. „Wir hatten null Erfahrung. Es war eine | |
| schwierige Zeit“, sagt Tzanakopoulos. | |
| Wir Linken sind ja eigentlich immer in Opposition, kommt mir da in den | |
| Sinn. Linke haben einfach so eine Art Oppositionsgen, und erst recht als | |
| Anti-Establishment-Bündnis, wie Syriza eines ist, das vor acht Jahren noch | |
| bei 4 Prozent lag. „Regieren und an der Macht sein ist etwas sehr anderes“, | |
| sagt Tzanakopoulos. „Die Staatsmacht ist mehr ein Labyrinth als eine | |
| Hierarchie.“ | |
| ## Im Samstagvormittag-Chillmodus | |
| In Griechenland hat Syriza die unangefochtene Macht, als linke Partei fühlt | |
| sie sich ohnehin irgendwie in Opposition – zu „den herrschenden | |
| Verhältnissen“, „dem Neoliberalismus“, wie immer man das nennen mag; und | |
| innerhalb des europäischen Konzerts ist die griechische Regierung in | |
| Opposition zum tonangebenden Block. Sie sind oppositionelle Regierende oder | |
| regierende Oppositionelle. Das prägt ihre Identität, ihren Stil. | |
| Mit Tzanakopoulos gehe ich durch das Bürolabyrinth – und übersehe Tsipras | |
| fast. Vor einem Computer sitzt eine junge Frau, ihr gegenüber ein Typ im | |
| karierten Hemd, der Papiere liest. Er sieht hoch, lacht, springt auf. | |
| Der Premier ist ein herzlicher, aber auch ein wenig scheuer Mensch. Aber | |
| der Tsipras von heute ist ein anderer als der, mit dem ich etwa vor zwei | |
| Jahren im Wiener Kreisky-Forum diskutierte. Seine Stimme ist zwei Oktaven | |
| tiefer und rau. Er ist im Samstagvormittag-Chillmodus, dabei unübersehbar | |
| müde, sehr, sehr müde. | |
| Man spürt, dieser Mann steht unter einem dramatischen Druck, ist in einer | |
| richtigen Mühle und einfach fertig. „Es ist hier alles sehr ruhig“, sagt er | |
| irgendwann unvermittelt. Und will damit wohl sagen: erstaunlich ruhig. | |
| Keine Hysterie. Keine Massendemonstrationen. Keine brennenden Barrikaden. | |
| Was ich in diesem Moment noch nicht wirklich verstehe: Der Tsipras weiß, | |
| dass hinter der Fassade der Gelassenheit die Nervosität Tag für Tag steigt. | |
| Mehrere Milliarden Euro haben die Griechen in den vergangenen Tagen in | |
| Panik von den Banken abgezogen. | |
| ## Aufbruchstimmung und Optimismus | |
| „Die Leute haben Geduld mit der Regierung, weil sie sich sagen: lieber die | |
| unerfahrenen Jungen als die korrupten Alten“, meint Konstantina Zoehrer, | |
| eine österreichisch-griechische Politikwissenschaftlerin. „Tsipras hat die | |
| Chance, Griechenland für die nächsten 20 Jahre zu dominieren, wenn er es | |
| schafft, die politische Mitte zu halten“, meint auch Maria Eleni Koppa, die | |
| nun wirklich keine übertriebene Radikalenfreundin ist – schließlich saß sie | |
| für die sozialdemokratische Pasok, die von Syriza faktisch zerstört wurde, | |
| sieben Jahre lang im Europaparlament. | |
| Es liegt etwas Eigenartiges über dieser Stadt, etwas, das wir Nord- und | |
| Mitteleuropäer gar nicht mehr kennen mit unserer steten, leisen | |
| Verzweiflung an der Performance unserer graugesichtigen politischen Eliten: | |
| Aufbruchstimmung, und, ja, sogar so etwas wie Optimismus. Gelegentlich | |
| könnte man das andere Griechenland beinahe vergessen: das Land, das am | |
| Abgrund steht. | |
| Theodoros Paraskevopoulos sitzt im Café hinter dem Numismatischen Museum im | |
| Zentrum Athens, saugt an seiner filterlosen Zigarette und gibt sich | |
| gelassen. Es werde jetzt noch ein paar Tage mit dem üblichen Theaterdonner | |
| geben, aber am Ende werde wohl ein Kompromiss gefunden, ist er sich sicher. | |
| Paraskevopoulos gehört zur älteren Garde der Syriza, ein Mann im | |
| Hintergrund, außer wenn er wie vorigen Sonntag bei Günther Jauch im | |
| deutschen Fernsehen auftritt. Im Parlament ist er für die Koordination von | |
| Partei, Parlamentsfraktion und Regierung zuständig. Darüber hinaus gilt er | |
| als enger Tsipras-Vertrauter, als väterlicher Freund des Premiers, bei dem | |
| der sich auch ausweinen kommt. | |
| Paraskevopoulos‘ Aufgabe ist es, den Flohzirkus zu bändigen, und zwar auf | |
| die sanfte Weise: durch reden und moderieren, nicht durch drohen und | |
| Klubzwang. Syriza ist ja nicht nur ein Bündnis linker und linksradikaler | |
| Parteien, es gibt noch nicht einmal ein Zentrum, einen wirklich homogenen | |
| „Mehrheitsblock“. Vor jeder Sitzung von ZK oder Fraktion treffen sich die | |
| verschiedenen Strömungen, die kaum zu überblicken sind. | |
| ## Gläubiger-Verhandlungen fressen Zeit | |
| Syriza ist eine Partei, in der viel diskutiert und viel widersprochen wird. | |
| Dass sich der Premier durchsetzen kann, ist in so einer Partei nie ganz | |
| sicher. Aber wie will man so regieren? | |
| Paraskevopoulos kann diese Frage nicht verstehen. „Es ist doch absurd, dass | |
| uns gerade Leute aus den alten Parteien wie Pasok, die untergegangen sind, | |
| weil sie aufgehört haben, zu diskutieren, jetzt raten, wir sollen so werden | |
| wie sie.“ | |
| Tausend Dinge gäbe es gleichzeitig zu tun. Einerseits hat die junge | |
| Regierung die Verhandlungen mit den Gläubigern zu führen, was fast die | |
| gesamte Arbeitskraft bindet. Die chronische Unsicherheit verhindert | |
| zusätzlich, dass die griechische Wirtschaft wieder auf die Beine kommt, | |
| denn wenn täglich die Schreckensvokabel „Grexit“ fällt, wird niemand | |
| investieren, der nicht völlig verrückt ist. | |
| Die Regierung müsste auch längst schon die Modernisierung des Landes und | |
| der Verwaltung beginnen. Und zudem muss ganz normal regiert werden, also | |
| die Sozialministerin muss die Sozialsysteme fit machen, der | |
| Gesundheitsminister die Gesundheitssysteme, und für all das gibt es kaum | |
| Konzepte, viel zu wenig Zeit und noch viel weniger Geld. Der Kabinettschef | |
| Tzanakopoulos hat ironisch formuliert, was alle wissen: „Die griechische | |
| Staatsverwaltung ist nicht gerade ein Best-practice-Beispiel“. | |
| ## Die griechische Bourgeoisie hat Angst | |
| Haris Triandafilidou ist auch eine der „Deutschen“ im Büro des | |
| Premierministers. Sie ist so der Typ Mensch, der darunter leidet, dass der | |
| Tag nur 24 Stunden hat. Sie steht immer unter Strom, die Haare hat sie | |
| hochgebunden, sie ist dünn, und wenn sie in ihrer leicht agitatorischen | |
| Weise spricht, erinnert sie mich ein wenig an die deutsche Linke Sahra | |
| Wagenknecht. | |
| Natürlich, den Steuerhinterziehern und Betrügern sei man noch nicht richtig | |
| an den Kragen gerückt, sagt sie. Erst werden die Daten gesammelt, dann | |
| Verfahren eröffnet, das Parlament hat den Zugriff der Finanzbehörden auf | |
| Konten beschlossen. „Die griechische Bourgeoisie, die sich daran gewöhnt | |
| hat, dass sie keine Steuern zahlen muss, die hat erstmals wirklich Angst.“ | |
| Wie alle Syriza-Leute, denen man in diesen Tagen begegnet, ist sie auf zwei | |
| Gesetze richtig stolz, die gerade das Parlament passiert haben: das Gesetz | |
| über die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und das neue | |
| Staatsbürgerschaftsgesetz, das allen Kindern von Immigranten die | |
| automatische Staatsbürgerschaft garantiert, sobald sie in die Schule | |
| kommen. | |
| „Wir haben die Mehrheit der Griechen wegen unserer ökonomischen und | |
| sozialen Forderungen für uns gewonnen“, sagt sie. „Aber das Vertrauen der | |
| Leute überträgt sich auch auf andere Themen“. Weil die Linke die Hegemonie | |
| hat, kann sie auch in Fragen gesellschaftlicher Liberalisierung die Leute | |
| für ihre Ideen gewinnen. | |
| ## „Die einzige Grenze ist der Himmel“ | |
| Alle paar Minuten greift Haris zu ihrem Smartphone – kurz checken, ob die | |
| Welt schon untergegangen ist. Dann müssen wir weiter, zu einer | |
| Veranstaltung des Syriza-nahen linken NGO-Netzwerks „Solidarity4all“. Im | |
| Taxi laufen Nachrichten. Ich verstehe die Worte „Merkäl“ und „Apokalypse… | |
| Im Garten der Archäologischen Gesellschaft spricht ein linker Aktivist aus | |
| Ecuador zwischen Oleandern über „Solidarische Ökonomie“, also über | |
| Kooperativen, Genossenschaftswesen, und Arbeiterselbstverwaltung. Alle | |
| lauschen den Überlegungen, dass „die Kollektivökonomie in Ecuador in die | |
| Verfassung“ kommen soll. | |
| „Sag, wollt ihr hier eigentlich den Sozialismus aufbauen?“ frage ich Haris | |
| irgendwann. „Ja“, sagt sie in einem Ton, als wäre es völlig absurd, so | |
| etwas überhaupt zu bezweifeln. Auch Dimitris Tzanakopoulos, dem | |
| Kabinettschef, hatte ich diese Frage schon gestellt. Der antwortet etwas | |
| diplomatischer, dies „sei eine heikle Frage“, es gehe auch überhaupt nicht | |
| um Begriffe wie „Sozialismus“ oder „Sonst-was-ismus“. „Zunächst woll… | |
| die neoliberale, konservative Hegemonie in Europa brechen.“ | |
| Und dann sagt er schelmisch einen Satz, der lange in meinen Ohren klingen | |
| wird: „Die einzige Grenze ist der Himmel – the only limit is the sky!“ | |
| Es sind diese Momente, in denen ich mich bei dem Gedanken ertappe: „Sind | |
| die verrückt geworden?“ Leben in dem Land, das von einer Krise zerstört | |
| ist, in dem Not und Elend endemisch geworden sind, stehen an der Schwelle | |
| zum Staatsbankrott, im Merkel-und-Schäuble-Europa – und glauben, der | |
| Sozialismus winkt gleich um die nächste Ecke? Aber sofort schiebt sich in | |
| meinem Kopf eine andere Frage vor diese Frage: Was, wenn in Wirklichkeit | |
| wir verrückt geworden sind? Wir, also die, die schon froh sind, das | |
| Schlimmste zu verhindern, wir, die wir die Panik vor jeder noch so | |
| kleinsten Veränderung haben, ja vor der kleinsten verwegenen Idee. | |
| ## Eine Klinik mit 300 Freiwilligen | |
| Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, wer spinnt: Die? Oder | |
| vielleicht wir? | |
| Ich blinzle verschlafen, der Regen peitscht durch das Fenster in mein | |
| Gesicht. It‘s a hard rain‘s a-gonna fall. Der Himmel öffnet sich in Tröge… | |
| als wollte es die Eulen von den Bäumen fegen. Im Nebenzimmer knallt | |
| Katerina die Balkonläden. Neuerdings ist sie für die Verbindung der Partei | |
| zu den Sozial-, Solidaritäts- und Graswurzelbewegungen in ganz Griechenland | |
| zuständig. Wir gehen zum lokalen Syriza-Büro, dort packt sie mit ein paar | |
| Freundinnen Plastiksäcke mit Papierwindeln, Damenbinden, Kinderspielzeug, | |
| Essen, Wasser, Zahnbürsten, Zahnpasta ins Auto. | |
| Wir kreisen durch die Stadt, auf der Suche nach Flüchtlingen, die in der | |
| Nacht in der zweitgrößten Stadt Griechenlands gestrandet sind. Einer Stadt, | |
| die nichts weiter für die Flüchtlinge tut, als vier chemische Toiletten | |
| aufzustellen. In der Nähe des Hauptbahnhofs kampieren mehrere Familien aus | |
| Afghanistan in einem Park. Die Frauen verteilen alles. „Passt auf euch | |
| auf“, ruft Katerina, und ihre kleine Zahnlücke blitzt auf. Dabei lacht sie | |
| auf ihre gewinnende Art, mit dieser weltumarmenden Freundlichkeit, der sich | |
| kaum jemand entziehen kann. | |
| Nächste Station: die „Klinik der Solidarität“. 30 Prozent der Griechen si… | |
| ohne Krankenversicherung, das sind 3 Millionen, die nicht einmal im Notfall | |
| zum Arzt gehen können, Hunderttausenden wurde der Strom gekappt, weil sie | |
| die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten. „Wir waren 30 Verrückte, die | |
| die Idee hatten, eine Klinik für diese Leute zu gründen“, sagt Katerina | |
| lachend. Jetzt arbeiten 300 Freiwillige für die Klinik, und 300 weitere | |
| Ärzte haben ihre Praxen für alle geöffnet, die ihnen die Solidaritätsklinik | |
| vorbeischickt. | |
| Die Solidaritätsklinik ist in ein Stockwerk eines alten | |
| Gewerkschaftsgebäudes im armen Westteil der Stadt gezwängt. „Zahnärzte, | |
| Frauenärzte, Allgemeinmediziner, wir haben hier alles. Schwangere müssen in | |
| einer normalen Klinik für eine Geburt 900 Euro bezahlen. Es gab sogar | |
| Fälle, dass die Spitäler, wenn die Frauen nicht zahlen konnten, die Babys | |
| als Pfand zurückhielten“, erzählt Katerina. | |
| ## Die Normalität in der oberen Mittelschicht | |
| Es sind diese Orte, an denen einen die humanitäre Katastrophe förmlich | |
| anspringt. Ansonsten muss man die Bilder der Krise eher suchen. Die Leute | |
| sind schick angezogen. Die Cafés und Bars sind voll, allein schon weil sie | |
| die Kontaktbörsen in der informellen Ökonomie sind. Erst wenn man genau | |
| hinsieht, realisiert man, dass die Leute vier Stunden an einem Bier nuckeln | |
| und ansonsten Gratiswasser trinken. | |
| In den Gesprächen eröffnet sich, was „Große Depression“ heißt: Wenn etwa | |
| eine junge Frau erzählt, dass der Vater, der an der Universität | |
| unterrichtet, als Einziger noch eine Anstellung hat, man aber sein Gehalt | |
| von 1.800 auf rund 900 Euro gekürzt hat. Dass die Mutter, die vorher gut | |
| verdient hat, jetzt arbeitslos ist, weil ihre Firma bankrottging. Dass der | |
| Bruder, knapp 40, zu den Eltern zurückgezogen ist, was er als Niederlage | |
| und Autonomieverlust erlebt. Dass die eine Schwester arbeitslos ist, die | |
| andere aber noch einen „Job“ hat – zweimal kellnern in der Woche, bringt | |
| 120 Euro im Monat. Dazu kommt die kleine Rente der Großmutter: 400 Euro. | |
| Ergibt 1.420 Euro, von denen sechs Leute leben. Mit den Kreditraten für die | |
| Wohnung ist man im Rückstand. Wohlgemerkt: Das ist die Normalität in der | |
| oberen Mittelschicht, keine Elendsstory vom Rand der Gesellschaft. | |
| Permanente Verletzlichkeit, nur einen Schritt vom Totalabsturz entfernt. | |
| Ich stehe auf Katerinas Balkon im sechsten Stock eines Wohnblocks von | |
| Thessaloniki. Über mir kreuzt ein Flugzeug. Ich blicke über den | |
| Antennenwald von Thessaloniki, und da ist wieder dieser Satz in meinem Ohr: | |
| „The only limit is the sky.“ | |
| 28 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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