# taz.de -- Pop-Meisterwerk von Jim O‘Rourke: Der Songwriter, der nichts beke… | |
> Mit „Simple Songs“ veröffentlicht der in Tokio lebende US-Künstler Jim | |
> O‘Rourke ein Album voll versponnenem Folkpop und opulenter Studiotechnik. | |
Bild: Jim O‘Rourke macht einen Powernap in einem Tokioter Parkhaus. | |
„Nichts bringt mich mehr auf die Palme als ein Popsong mit etwas | |
Avantgarde-Glasur“, sagt Jim O‘Rourke genervt. „Für mich ist das die | |
schlimmste Musik der Welt.“ Moment mal. Avantgarde-Einflüsse als | |
„schlimmste Musik der Welt“? Das sagt Jim O‘Rourke? Jener O‘Rourke, der… | |
der New Yorker Art-Rock-Institution Sonic Youth am Bass stand? Der in den | |
neunziger Jahren Musique Concrète auf die Harmonien des Great American | |
Songbook treffen ließ? Der zur ersten Generation von Popkünstlern gehörte, | |
die mit dem Laptop auf der Bühne improvisiert haben? | |
Jim O‘Rourke sagt es wirklich. Und er meint es auch so. „Simple Songs“ | |
heißt sein neues Album, es enthält seine ersten Songwriter-Aufnahmen seit | |
14 Jahren. Acht Songs mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, Klavier und Gesang. | |
Einfach Songs halt. Nur simpel sind sie nicht. O‘Rourkes zurückhaltender | |
Gesang schlägt immer dann höhere Tonlagen an, wenn die Songs auf ihren | |
Freakout-Höhepunkt zusteuern müssten. Zwischendurch zitiert er Led Zeppelin | |
auf der 12-saitigen Gitarre und seine Klavierpassagen spiegeln sich in den | |
Schleifen der Gitarrenriffs. „Propaganda“ von den Sparks und „Found a Job… | |
von den Talking Heads, antwortet O‘Rourke, wenn man ihn nach Inspirationen | |
fragt. „In beiden Songs geht es um die Technik des Kontrapunkts. Sie wurden | |
veröffentlicht, als ich zehn Jahre alt war und Spuren von ihnen finden sich | |
bei allem, was ich aufnehme.“ | |
„Simple Songs“ ist ein Album wie ein Plattenschrank, durch den man sich | |
stundenlang hören kann, obwohl er nur 38 Minuten Musik enthält. „In meinen | |
neuen Songs passieren weit mehr merkwürdige Dinge als auf allen Alben | |
zuvor“, sagt O‘Rourke über sein Songwriter-Comeback. „Sinn und Zweck der | |
Übung ist es, seltsame Klangelemente nicht herausstechen zu lassen. Sie | |
müssen Teil der Songtextur werden.“ | |
## Ans tiefe Ende gemischt | |
Merkwürdig an „Simple Songs“ ist dann auch die Abwesenheit von Tapeloops, | |
digitalen Drones oder Gitarrenfeedback - als Kontrast zwischen den klar | |
abgemischten Gitarren, Streichern und Bläsern und dem Bass, der | |
herausgearbeitet ist. Fast unhörbar hat O‘ Rourke die Bassläufe ans tiefe | |
Ende des Frequenzspektrums gemischt, so dass sie nur auf guten Boxen zu | |
hören sind. Und trotzdem bauen die Harmonien auf eben diesen Bassläufen | |
auf. | |
„Simple Songs“ ist ein Progressive-Album ohne jeden progressiven Kitsch, es | |
entdeckt die harmonischen Möglichkeiten, die Pop nach Punk auf den | |
Müllhaufen der Geschichte geworfen hatte, wieder für sich. „Postmodern | |
eklektisch“ könnten Zyniker diese Lieder nennen, „Yacht Rock“ diejenigen, | |
die die aktuellen Fieberkurven des Begehrens von Plattensammlern verfolgen. | |
Mit beiden Grillen hat „Simple Songs“ nichts zu tun. Zwar zitiert sich auch | |
ein Jim O‘Rourke durch die Popgeschichte, aber ihm geht dabei jegliche | |
Ironie ab. Stattdessen ist „Simple Songs“ Ausdruck von Melancholie | |
gegenüber einer Kunstform, die längst verschwunden ist: Das Album als | |
ausgeklügelte Studioproduktion. | |
Sechs volle Jahre haben die Aufnahmen für „Simple Songs“ in Anspruch | |
genommen, das Album ist verschwenderisch opulent produziert. Und eine | |
derartige Opulenz ist eigentlich nicht mehr vorgesehen in der | |
Musikindustrie von heute, weil die Kosten der Studiozeit längst von den | |
Plattenfirmen an die Künstler und ihre Macbooks outgesourct wurden. | |
Schwierige Zeiten für jemanden wie O‘Rourke, der als Produzent seine | |
größten Erfolge hatte. Für seine Produktion von „A Ghost is born“, einem | |
Album der Alt-Countryrock-Band Wilco, erhielt er 2004 einen Grammy. | |
## Klingen wie 10 CC | |
Inzwischen produziert O‘Rourke nur noch seine eigene Musik im Stil der | |
verschwenderisch arrangierten Studioalben der Siebziger. „Dies ist die | |
einzige Musik, die zu produzieren mir Spaß macht“, gesteht er im Gespräch. | |
„Alle Popmusik sollte so klingen. Wenn ich die Welt ändern könnte, würde | |
immer noch 10 CC im Radio gespielt und Led Zeppelin hätten sich niemals | |
aufgelöst.“ 2006 ist O‘Rourke nach Tokio übergesiedelt, nachdem er für | |
Richard Linklaters High-School-Musical „School of Rock“ die Musik | |
zusammengestellt hatte. „Japan ist das einzige Land, in dem ich mich jemals | |
wohlgefühlt habe“, erklärt er. O‘Rourke lernte Japanisch und beantragte e… | |
Visum. | |
Und er trat im japanischen Fernsehen auf, wo er in einer Sendung für | |
Senioren ein Enka vortrug, eine traditionelle japanische Liedform, in der | |
Einsamkeit eine große Rolle spielt. Japan ist der perfekte Ort für | |
O‘Rourke, weil es dort Fans gibt, die genau wie er eine im Westen längst | |
verschwundene Form von Popmusik am Leben halten. „Japanische Musikfans | |
schätzen die Popmusik meiner Jugend“, erzählt O‘Rourke. „Aber die | |
Sozialgeschichte dieser Musik ist hier nicht vorhanden. Die Lyrics sind | |
bedeutungslos für die meisten Japaner, meistens sind sie nicht mal korrekt | |
übersetzt worden.“ Kurz nach seinem Umzug wurden Gerüchte laut, dass | |
O‘Rourke die Musik für das Filmemachen aufgegeben hätte: „Ich mochte diese | |
Geschichte, also habe ich ihr nicht widersprochen.“ | |
Stattdessen stürzte er sich in die Musik, sobald es ihm möglich wurde. Auf | |
dem Wiener Experimental-Label Mego erschienen mehrere Alben mit am Laptop | |
komponierter und improvisierter Computer-Musik. 2009 veröffentlichte | |
O‘Rourke auch das rein instrumentale Solo-Album „The Visitor“, es besteht | |
aus einem durchgehenden 40-minütigen Amalgam von Folkanleihen, Great | |
American Songbook-Zitaten und Krautrocksignaturen. O‘Rourke spielte bei der | |
Produktion alle Instrumente selbst ein. „Gerade weil ich für ‚The Visitor�… | |
alles im Alleingang aufgenommen habe, wollte ich die Dynamik von Musikern | |
im Proberaum“, sagt O‘Rourke über die Ausgangslage von „Simple Songs“. | |
## Dekonstruktion der Autorschaft | |
Seine Band in Chicago war schon einige Zeit vor seinem Umzug nach Japan | |
auseinandergebrochen: „Glenn Kotche war mit Wilco berühmt geworden, ohne | |
ihn ging es einfach nicht.“ Also fand O‘Rourke eine neue, aus weitgehend | |
unbekannten japanischen Musikern bestehende, mit der er sich wieder in den | |
Songwriter-Modus begeben konnte. Bitte? Genau. Wenn O‘Rourke alleine | |
arbeitet, veröffentlicht er elektroakustische Musik: Tape-Collagen und | |
Laptopgebratze. Seine ‚Soloalben‘ im Singer-Songwriter-Modus sind jedoch | |
immer Kollaborationen - eine Dekonstruktion der Autorschaft. „Alle Alben | |
haben gemeinsam, dass nicht ich es bin, der da singt“, fasst er zusammen. | |
„Ich wende mich gegen die Vorstellung vom Singer-Songwriter, der etwas | |
bekennt.“ | |
Jim O‘Rourke ist der Meistersänger der Uneigentlichkeit, ein Pop-Chamäleon, | |
das auf Fotos immer die gleichen Klamotten trägt. Denn anders als andere | |
Pop-Formwandler ist O‘Rourke nicht daran interessiert, das Begehren seiner | |
Hörer von der Musik abzulenken. Seine „Simple Songs“ sind betörend | |
eingängige Radiohits. Aber in ihrer Summe formen sie eins der | |
verstiegensten Privatuniversen, das US-Indiekultur im vergangenen | |
Vierteljahrhundert hervorgebracht hat. | |
23 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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