| # taz.de -- Betroffene über ihre Zeit im Friesenhof-Heim: „Ich durfte nicht … | |
| > Lea-Marie aus Lüneburg war im Mädchenheim Nana des Friesenhofs, das das | |
| > Landesjugendamt im Juni schloss. Sie berichtet von Mobbing. | |
| Bild: Hier sollen Erzieher gemobbt haben: Mädchenheim Friesenhof. | |
| taz: Lea-Marie, Sie waren 2011 neun Monate im Friesenhof. Wie kamen Sie | |
| dorthin? | |
| Lea-Marie: Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen, weil ich gemobbt wurde. | |
| Das ging mit 14 los. Ich war zeitweise krankgeschrieben, es wurden | |
| verschiedene Sachen versucht. Da meinte das Jugendamt, sie hätten das | |
| perfekte Heim. | |
| Den Friesenhof. | |
| Genau. Ich bin dann mit meinen Eltern zum Haupthaus nach Büsum gefahren. | |
| Wir durften uns das Heim in Wrohm nicht selber ansehen, sprachen da nur mit | |
| dem stellvertretenden Leiter. Da hat er angefangen, mich zu mobben. Meine | |
| Eltern dachten auch schon, oh Gott. Aber das Jugendamt sagte: Das Heim ist | |
| toll, da muss sie hin. Das wollte ich nicht. | |
| Was heißt, er mobbte? | |
| Er hat mich runtergemacht. Du bist aber traurig. Guck mal deine Schminke | |
| an. Das brauchst du gar nicht. „Trauriger Clown“. | |
| Also unpassend? | |
| Ja. Immer so im Hinterhalt. Wenn meine Eltern mit dem Mann vom Jugendamt | |
| sprachen, hat er mich so provoziert. Ich dachte nur: Schnell hier raus. | |
| Das Heim sahen Sie gar nicht? | |
| Er meinte, das ginge nicht. Das wäre abgeschlossen. Das würden wir gar | |
| nicht finden. Es wäre alles in Ordnung da. Ich sagte, ich will da nicht | |
| hin. Aber das Jugendamt sagte meinen Eltern, sie hätten keine Wahl. Ihnen | |
| würde sonst das Sorgerecht entzogen und sie sehen mich nie wieder. | |
| Und dann? | |
| Ich wollte da nicht bleiben und wir fuhren wieder nach Hause. So konnte ich | |
| mich wenigstens von meinem Pferd verabschieden. Am nächsten Morgen standen | |
| zwei Menschen im Flur, die mich mit einem Kleinbus abholen wollten. Die | |
| haben mich angeschrien: „Du kommst jetzt sofort mit. Du brauchst dich nicht | |
| schminken. Dein Handy brauchst du auch nicht!“ Ich hab so geheult. Meine | |
| Mutter hat geheult. Das war Wahnsinn. | |
| Wie war die Ankunft im Heim? | |
| Mir wurden sofort die Schuhe genommen. Ich könnte sonst weglaufen. Die | |
| haben mich gefilzt und mir alles weggenommen. Die Musik, Sachen von zu | |
| Hause. | |
| Hatten Sie ein Kontaktverbot? | |
| Ja. Zwölf Wochen. Briefe schreiben an die Eltern durfte ich. Aber die | |
| wurden kontrolliert. Deshalb kamen die meisten nicht an. | |
| Was haben Sie geschrieben? | |
| Am Anfang, dass es mir schlecht geht, dass ich raus möchte, dass die | |
| unmenschlich sind. | |
| Warum ging es Ihnen schlecht? | |
| Die Betreuer haben einen nur runtergemacht, schikaniert, ausgelacht, | |
| gemobbt, gehetzt. Das war Psychoterror. Es kam drauf an, wer da war. Es gab | |
| Frühsport jeden Tag. Und Strafsport nach Bedarf. Liegestützen … | |
| Liegestützen kann ja nicht jeder. | |
| So lange, bis sie können. An meinem ersten Tag hab ich gesagt, ich will | |
| hier weg, ihr seid Scheiße. Dafür gab es sofort Strafsport. Und ich konnte | |
| keine zehn Liegestützen. Am Ende musste ich 50 machen. Immer, wenn ich | |
| eingeknickt bin, haben alle von vorne angefangen. Die Mädchen durften mich | |
| anschreien und hetzen. Das war grauselig. | |
| Wie wurde das begründet? | |
| Gar nicht. Es hieß nur: Mach einfach, mach. Die Mädchen waren manipuliert | |
| und abgestumpft. Nur eine, die neu da war, war mitfühlender und sagte: | |
| „Mach das einfach. Weigern bringt nichts.“ | |
| Hatten Sie Schulunterricht? | |
| Nur intern. Wir haben eine Zeitung gekriegt und mussten einen Artikel | |
| wiedergeben. Vorlesen. Bisschen Mathe, bisschen Basteln. Das war im Haus, | |
| wir kamen nicht raus. | |
| Auch nicht in den Garten? | |
| Nicht alleine. Wir durften wenn, dann nur alle zusammen raus. Die Betreuer | |
| entschieden. Wenn rausgehen, dann alle raus, wenn nicht, bleiben alle drin. | |
| Was war „Strafsport“? | |
| Es hieß „Sport machen, bis du kotzt“. Die wurden kreativ. Liegestützen, | |
| Laufen, Sit-ups, an der Wand hocken, als würde man auf dem Stuhl sitzen. | |
| Einer rennt 20 Runden in der Mitte, solange müssen die anderen knien. Das | |
| schmerzt in den Beinen. | |
| Wie ging der Tag weiter? | |
| Nach dem Frühstück hatte man Dienste. Bad putzen zum Beispiel. Man hatte | |
| für alles eine Stunde, also Amt, Zimmer aufräumen und Duschen. War man | |
| nicht rechtzeitig fertig, gab es Strafe für alle. Zumindest durften die, | |
| die geraucht haben, nicht rauchen. Ich hab nicht geraucht. Aber dann wurde | |
| man kurz allein gelassen mit denen, die nicht rauchen durften. Dann durfte | |
| man angefasst werden. Wenn die einem aufs Maul hauen, hat das keiner | |
| gesehen. | |
| Wie viele Betreuer waren da? | |
| Zwei, manchmal drei. | |
| Nach der Schule gab es Mittag? | |
| Ja, nicht immer. Manchmal mussten wir Aussitzen. | |
| Was bedeutet das? | |
| Sitzen. Sitzen und aushalten. Mein längstes war 19 Stunden. Ich kam aus dem | |
| Bad und hatte geweint, weil ich Heimweh hatte. Ich durfte nicht weinen, | |
| auch nicht traurig gucken. Dann gab es Aussitzen. Ich sollte erzählen, | |
| warum ich weine. Ich habs erzählt, aber das passte denen nicht. Du musstest | |
| das Wort finden, dass sie hören will. Dass du frech bist und blöd und | |
| scheiße. | |
| Was hieß das ganz konkret? | |
| Alle Mädchen mussten sitzenbleiben. Keiner darf rauchen, keiner darf essen, | |
| aufs Klo auch nur zu zweit und wenn es dringend war. Das ging bis in die | |
| Nacht. | |
| Saßt ihr dabei im Kreis? | |
| Wo man gerade war. Das ging, bis sie zufrieden waren. Oder keinen Bock mehr | |
| hatten. Das längste, was ich miterlebte wegen eines anderen Mädchens, waren | |
| 24 Stunden. | |
| Was war mit Schlafen? | |
| Nö. Wenn man müde wurde, gab es Strafsport. | |
| Wie sah der Nachmittag aus? | |
| Wir waren nie allein. Die haben irgendwas bestimmt und das wurde gemacht. | |
| Auf der Homepage steht, es gab ein auswärtiges Fitnessstudio. | |
| Ja, mal für ne Stunde. Das war auch blöd. Wir mussten graue Sachen tragen. | |
| Die Leute könnten dich ansehen. Die Betreuer standen daneben, als wären sie | |
| Türsteher. Du durftest da nichts machen außer Sport. Aufs Klo durftest du | |
| nicht alleine. Mit einer Betreuerin mussten wir Bilder malen. Ich habs | |
| komplett schwarz gemalt. Aussitzen, Strafsport. Ich durfte nicht traurig | |
| sein. | |
| Mussten Sie sich ausziehen? | |
| Ja, einmal im Büro vor zwei Frauen. Die haben sich so gefreut darüber. Das | |
| Bücken war die Härte. | |
| Und mit welcher Begründung? | |
| Ich hab gefragt. Man hat es nicht gesagt. Strafsport angedroht. Dann macht | |
| man das lieber mal. | |
| Es heißt, dass waren Kontrollen auf Drogen oder Waffen. | |
| Nein. Die haben mich nicht abgesucht. Das war lustig für die. Die hatten | |
| keinen Grund und ich hatte auch nie mit Drogen zu tun. | |
| Hätten Sie sich geweigert, hätten Sie Sport machen müssen? | |
| Alle Mädchen. | |
| Aber die waren nicht dabei? | |
| Du wurdest zum Strafsport dazugerufen, auch nachts. Da hieß es „auf die | |
| Tenne“, und alle mussten Sport machen. Einmal hab ich im Schlaf ein Glas | |
| vom Nachttisch gehauen. Da mussten alle aufstehen wegen mir. | |
| Wie lief das mit dem Essen? | |
| Einmal wurde ich gezwungen. Da gab es Suppe mit Fleisch, was ich nicht | |
| mochte. Das war wieder dieses Gruppending. Wir sitzen so lange, bis du | |
| isst. Keiner darf rauchen. Es wird dann die ganze Gruppe bestraft? Die | |
| machen Druck, weil sie wissen, die Gruppe geht dann gegen einzelne vor. | |
| Gab es für Sie Ziele, die Sie mit denen vereinbart haben? | |
| Nee. Die hatten Ziele. | |
| Haben die sie Ihnen genannt? | |
| Das habe ich mir erraten, irgendwann. Ich hab mich verstellt, immer nur | |
| gegrinst. Dabei hätte ich heulen können. Aber so kam ich nach fünf Monaten | |
| aus Wrohm raus. Die Betreuerin meinte, dass es ihr Ziel ist, unseren Willen | |
| zu brechen und so aufzubauen, wie die Gesellschaft uns gerne hätte. Und | |
| dass sie all das pädagogisch begründen können. | |
| Sie kamen dann in den „Charlottenhof“. Wie war dieses Heim? | |
| Scheiße. Die haben sich da nicht so 24 Stunden um einen gewickelt, aber | |
| waren auch grausam. | |
| Gab es die gleichen Regeln? | |
| Nein. Du durftest ums Haus gehen. Da konnte man raus, wenn man es sich | |
| verdient hatte. Ich hab das kaum geschafft. | |
| War es gut in der Schule? | |
| Nee. Ich musste ewig lange fahren mit dem Bus. Ich hätte davon auch keinen | |
| Abschluss gekriegt. | |
| Waren Sie dort bekannt? | |
| Überall hieß es: schlimme Mädchen, kriminell, Abstand halten. | |
| Wann hatten Sie das erste Mal Kontakt zu Ihren Eltern? | |
| Nach zwölf Wochen erst nur telefonisch. Unter Beobachtung mit der Hand am | |
| Telefonkabel. Ich durfte nur Positives sagen. Erst nach drei Monaten beim | |
| Hilfeplangespräch in der Stadt konnte ich mit ihnen allein reden. Sie | |
| sagten, sie könnten nichts tun. | |
| War das Jugendamt dabei? | |
| Ja. Aber der hat da nur gesessen. Der meinte: „Na, du hast dich ja so toll | |
| gemacht.“ Den Mann konntest du vergessen. Beim zweiten Hilfeplangespräch | |
| hatte ich eine andere vom Jugendamt. Die habe ich alleine gesprochen. Ich | |
| hab ihr alles beschrieben und gesagt: Ich will zurück nach Lüneburg, ich | |
| geh da auch zur Schule, ich verspreche es, Hauptsache woanders hin. Die hat | |
| nur gelächelt und meinte, das geht nicht. | |
| Wie kamen Sie schließlich raus? | |
| Ich habe Blut gespuckt, weil ich mich immer so aufgeregt hab. Dann kam ich | |
| ins Krankenhaus. Da hat sich eine Ärztin meiner angenommen. Die meinte beim | |
| letzten Termin, sie gibt mich nicht wieder hin. | |
| Der konnten Sie was erzählen? | |
| Ich hab der alles erzählt. Ich war ja da über Nacht. Das war toll. | |
| Was hatten Sie medizinisch? | |
| Stress-Symptome. Meine Eltern haben mich dann abgeholt. | |
| Wie ging es mit Ihnen weiter? | |
| Ich hab versucht, Schule anzufangen. Das ging nicht. Ich bin immer wieder | |
| zusammengebrochen, weil das Erlebte tief saß. Es hat zwei Jahre gedauert, | |
| bis ich wieder normal irgendwas tun konnte. Ich konnte gar nicht mehr | |
| rausgehen auf die Straße. Ich hatte richtig Angst vor Menschen. | |
| Vorher hatten Sie die nicht? | |
| Nein. Ich kam da normal rein. Mit Problemen, aber dem Glauben, ich bin | |
| jemand. | |
| 13 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
| ## TAGS | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Mobbing | |
| Kindeswohlgefährdung | |
| Kinderheim | |
| Pädagogik | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Jugendheim Friesenhof | |
| Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
| Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
| Jugendhilfe | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Personal in der Kinder- und Jugendhilfe: Allein im Heim | |
| Schleswig-Holstein operiert in stationärer Kinder- und Jugendhilfe mit | |
| Standards aus den 1980ern. Heute bräuchte man mehr Personal, aber das | |
| fehlt. | |
| Kindeswohl statt Bootcamp-Terror: „Kinder brauchen eine Ombudsstelle“ | |
| Nach Schließung der „Friesenhof“-Heime: Schleswig-Holsteins | |
| Sozialministerin Kristin Alheit (SPD) will Heime künftig besser regulieren. | |
| Neue Vorwürfe gegen Mädchenheime: Brisanter Vermerk | |
| Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs waren der Heimaufsicht der nun | |
| geschlossenen Friesenhof-Heime offenbar bereits im August 2014 bekannt. | |
| Friesenhof-Skandal weitet sich aus: Ministerin schaltet Staatsanwalt ein | |
| Schleswig-Holsteins Sozialministerin Alheit (SPD) stellt Strafanzeige gegen | |
| eigene Mitarbeiter wegen Verdacht auf Aktenmanipulation. | |
| Skandal um Friesenhof-Heime: Schlampige Aufklärung | |
| Hamburger Senat beantwortet Anfrage zu Mädchenheim zwei Mal falsch. Nun | |
| befasst sich der Familienausschuss mit dem Thema. | |
| Umstrittenes Krisenmanagement: Zahnlose Kontrolle | |
| Der Fall Friesenhof zeigt grundsätzliche Probleme der stationären | |
| Unterbringung von Jugendlichen - in Schleswig-Holstein kontrollieren nur | |
| sechs Personen. | |
| Debatte nach Heim-Schließung: „Verstoß gegen Kinderrechte“ | |
| Jugendheime mit Stufenvollzug und straffer Tagesstruktur sind unpädagogisch | |
| und unsinnig, sagt Erziehungswissenschaftlerin Leonie Wagner. | |
| Missstände in Jugendheimen: Mädchenheime sollen dichtmachen | |
| Das Landesjugendamt will zwei Jugendheime in Dithmarschen schließen. Grund | |
| ist der entwürdigende Umgang mit den Jugendlichen. | |
| Schwere Vorwürfe gegen Mädchenheim: Nacktkontrollen bleiben erlaubt | |
| Weil der Träger klagte, hat das Landesjugendamt Auflagen für den | |
| Heimbetreiber Friesenhof entschärft. Die Linke will nun Akten einsehen. | |
| Vorwürfe gegen Dithmarscher Jugendeinrichtung: „System der Bespitzelung“ | |
| Das Landesjugendamt verbot einer Einrichtung entwürdigende Maßnahmen. | |
| Hamburger Linkspolitiker wollen Genaueres wissen. |