# taz.de -- Doktorin über Promotion nach 77 Jahren: „Kann das etwas wiedergu… | |
> Ingeborg Rapoport stand kurz vor der Promotion, doch die Nazis verboten | |
> ihr den Abschluss. Jetzt hat sie den Titel – mit 102 Jahren. | |
Bild: Ingeborg Rapoport in ihrer Wohnung in Berlin. | |
Berlin-Pankow im Mai. Die Straßen tragen die Namen der DDR-Intelligenz. | |
Ingeborg Rapoport empfängt im schlichten Wohnzimmer ihres | |
Einfamilienhauses. Sie trägt ein fliederfarbenes Oberteil, die dichten | |
weißen Haare kurz geschnitten. In der DDR war Rapoport eine bedeutende | |
Kinderärztin. Vor zwei Tagen war sie in Hamburg und hat an der dortigen | |
Uniklinik ihre mündliche Promotionsprüfung abgelegt. Dies ist ihr fünftes | |
Interview heute. „Aber die anderen waren nur telefonisch“, sagt sie. Sie | |
spricht mit fester Stimme und leichtem Hamburger Akzent. | |
taz: Frau Rapoport, wie lief die Prüfung? | |
Ingeborg Rapoport: Gut. Ich habe bestanden. | |
Herzlichen Glückwunsch! | |
Danke. Das war eine richtige formale Prüfungssituation. Der Dekan der | |
Medizinischen Fakultät ist extra hergekommen und die Vorsitzende des | |
Prüfungsausschusses und Professor Frotscher, ein Neuroanatom. Sie haben mir | |
den Blumenstrauß mitgebracht. Die Prüfung ging fast eine Stunde. Dann haben | |
wir noch geplaudert. | |
Ihre Doktorarbeit liegt seit fast 80 Jahren vor. Wie kommt es, dass Sie | |
jetzt erst promoviert wurden? | |
Ich habe in Hamburg ab 1935 Medizin studiert und 1937 bei Professor Rudolf | |
Degkwitz die Doktorarbeit gemacht über Diphtherie. Das Thema hat er | |
angenommen, ich führte die Experimente durch und gab die Arbeit ab. Er | |
akzeptierte sie als Doktorarbeit, konnte mich aber nicht zur mündlichen | |
Prüfung einladen, weil ich als „Halbjüdin“ galt. | |
Ihnen fehlte nur die mündliche Prüfung? | |
Ja. Degkwitz hätte mir liebend gern die volle Promotion gebilligt. Aber ihm | |
waren die Hände gebunden. Er schrieb sogar noch mal die Ämter in Berlin an | |
und fragte nach, ob es nicht doch möglich sei. Da haben die nochmal eins | |
draufgegeben. Sie schrieben, das könnten sie nicht erlauben, insbesondere | |
weil ich beim jüdischen Teil der Eltern lebte, nämlich meiner Mutter. Meine | |
Eltern waren damals schon lange geschieden. | |
Da hat sich Ihr Doktorvater aber weit aus dem Fenster gelehnt, oder? | |
Degkwitz hat sich um das Letzte gedrückt und sich dem Gesetz gebeugt. Er | |
war ein daredevil, ein Teufelskerl. Ich mochte ihn gerne. Er war ein | |
früherer Nazi mit niedriger Parteinummer, aber dann hat er sich von denen | |
abgewendet. Er war bei uns Studenten sehr beliebt, weil er seine | |
Vorlesungen mit frechen Redensarten über die Nazis geschmückt hat. Er war | |
immer auf der Kante und später ein mutiger Mensch. Hat versucht, die | |
Fakultät in Hamburg von den schlimmsten Nazis frei zu halten, und hat sich | |
da furchtbare Feinde gemacht. Er ist dann auch emigriert. Er hat mir ein | |
Zertifikat geschrieben. Aufgrund dessen konnte der Dekan die Sache jetzt | |
überhaupt aufrollen. Die Doktorarbeit ist hier im Haus verschwunden. Ich | |
weiß nicht, wo sie ist. Auf dem Zertifikat stand: „Fräulein Syllm – das i… | |
mein Mädchenname – hat die Doktorarbeit über dieses Thema gemacht und wurde | |
nur wegen der Rassengesetze nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen.“ | |
Dadurch hatte ich keinen Doktortitel, als ich wegfuhr. | |
Das Telefon klingelt. | |
Jetzt klingelt das Telefon. | |
Wir lassen es klingeln, und nachher hänge ich es aus. | |
Seit einigen Jahren öffnen deutsche Universitäten ihre Archive und holen | |
die dreckige Wäsche ans Licht: Ärzte, die unter Hitler Euthanasie betrieben | |
und in der Bundesrepublik Professoren waren. Haben Sie das in der DDR auch | |
erlebt? | |
In der DDR gab es keine Nazis an den Universitäten. Die waren entweder | |
schon gestorben, oder mir nicht bekannt. Vielleicht gab es aber auch noch | |
welche. Ohne Nazis … | |
…wäre die DDR wahrscheinlich ziemlich leer gewesen. | |
Fischer war der Letzte, der noch zum Tode verurteilt wurde, während meiner | |
Zeit an der Charité. | |
Wer war das? | |
Horst Fischer, ein SS-Arzt. Er hat in Auschwitz die Gefangenen in | |
„arbeitsfähig“ und „nicht arbeitsfähig“ sortiert. Letztere wurden sof… | |
vergast. Er war in der DDR ein hochgeachteter Arzt und lieber Vater. Er hat | |
alles verschwiegen, was vorher war. Auch seine Tochter wusste anscheinend | |
nichts. Ich kannte sie, weil sie Krankenschwester in der Charité war. | |
Plötzlich brach es über ihn herein. Er wurde hingerichtet, seine Familie | |
wanderte aus. | |
Wie stehen Sie dazu? | |
Ich hätte ihn nicht mehr zum Tode verurteilt. | |
Ich komme selbst aus einer halbjüdischen Familie. Ich weiß, dass Verwandte | |
von mir, als sie Ende der 1950er in der DDR eingeschult wurden, schon als | |
Kinder dachten: „Wenn die Eltern der anderen gewonnen hätten, würde ich | |
nicht hier sitzen.“ Auf mich hat sich dieses Gefühl schon auch übertragen. | |
Das Telefon klingelt. | |
Jetzt reicht’s. | |
Sie steht auf und zieht den Stecker. | |
Wir waren nie praktizierende Juden. Als ich Kind war, hat mir jemand auf | |
der Straße erzählt, ein Teil meiner Eltern sei jüdisch. | |
Auf der Straße? | |
Beim Spielen. Ich hab noch gerätselt, wer das sein könne. Meine Mutter und | |
ihre Geschwister wurden nach der Geburt getauft und hatten vom Judentum | |
keine Ahnung. Ich auch nicht. | |
Wie bei uns auch. | |
Im ersten Semester Medizin war ich eine normale Studentin, fröhlich, alles | |
war in Ordnung. Dann kamen die Nazis. Schlagartig kriegte ich eine gelbe | |
Studentenkarte, durfte nicht mehr ins Kasino und hatte vor jedem Examen | |
Bammel. Mein Prüfungsbogen war mit einem gelben Band versehen, quer drüber. | |
Jeder wusste, was los war. Ich hatte immer Angst, sie würden mich | |
rausprüfen, nur wegen dieses Streifens. | |
Dann sind Sie in die USA emigriert, haben als Ärztin gearbeitet, ihren Mann | |
kennengelernt und eine Familie gegründet. In der McCarthy-Ära mussten sie | |
wieder weg und gingen nach Österreich. Warum dorthin? | |
Mein Mann kam von dort. Er wollte sich in den USA an der Uni bewerben, er | |
wäre der beste Kandidat gewesen. Aber sie haben ihn nicht genommen, weil | |
die amerikanische Spionageabwehr interveniert hatte, er sei Kommunist. Mein | |
Mann war kein unbekannter Wissenschaftler in den USA. Er lehrte die | |
Grundlagen für eine längere Konservierung von roten Blutkörperchen, die man | |
jetzt noch benutzt. | |
Sie konnten aus rassistischen Gründen keinen Abschluss machen, Ihr Mann | |
durfte aus ideologischen Gründen seinen Beruf nicht ausüben. Was haben Sie | |
selbst in der Zeit gemacht? | |
Ich hatte die drei Kinder, dann kam das vierte. Ich habe dreieinhalb Jahre | |
ausgesetzt und erst 1952 wieder angefangen zu arbeiten, als wir in der DDR | |
waren. | |
Warum sind Sie in die DDR gegangen? | |
Wir hatten eine Empfehlung von der Partei. Und meinem Mann wurde ein | |
eigenes Institut für Blutforschung versprochen. | |
Wie Brecht. Der bekam sein eigenes Theater. | |
Ja. Aber das Institut war noch gar nicht gebaut. Es wurde auch nie gebaut. | |
Als wir hier in der Friedrichstraße ankamen, stellte sich heraus, dass er | |
vorgesehen war für den Lehrstuhl in Biochemie. Das war ein schwerer Schlag. | |
Er wollte nicht lehren, er wollte forschen. Er war dann aber ein sehr guter | |
Lehrer. | |
Wie ging es bei Ihnen weiter? | |
Ich habe zuerst in einer Kinderklinik gearbeitet. Davor hatte ich sehr gute | |
Stellen in den USA. Mir war das Klinikdasein aber ein bisschen langweilig. | |
Mein Mann hatte dann die Idee: Warum habilitierst du dich nicht? | |
Ohne Promotion? | |
Die Promotion spielt in Deutschland keine Rolle. Für die Habilitation | |
brauchte ich nur das Staatsexamen. Und das hatte ich. Als ich in die USA | |
auswanderte, dachte ich, ich sei eine rundum fertige Ärztin. Aber der | |
Doktor fehlte mir. So musste ich noch den amerikanischen Doktor nachholen. | |
Das war ein Ding! An 48 Universitäten habe ich mich beworben, nur zwei | |
haben sich überhaupt gemeldet. Es war wahnsinnig schwer, an eine Medical | |
School zu kommen. Es kostete Geld, man musste hübsch vermögend sein. Und | |
ich war arm, Migrantin und Frau. Ganz schlechte Karten. Ich bin dann an die | |
einzige Medical School nur für Frauen gekommen. | |
Was bedeutet die Promotion jetzt für Sie, nach so langer Zeit? | |
Für mich persönlich ist es offen gestanden wurscht. Ich habe ja alles | |
erreicht, was ich wollte. Aber es war mir wichtig, weil es mich wirklich | |
rührt, wie der Dekan in Hamburg zwei Jahre dafür gekämpft hat. | |
Inwiefern? | |
Es gab doch keine Papiere. Ich hatte meine Arbeit nicht mehr. Die Uni hatte | |
meine Arbeit auch nicht, kein einziges Papier über mich, um dem Dekan eine | |
Grundlage zu geben. Dann fand meine Tochter hier im Hause dieses Zertifikat | |
von Professor Degkwitz. Das lief dann zweigleisig. Mein ältester Sohn hat | |
einen Kollegen in Hamburg. Dem hat er von seiner Mami erzählt, die habe ein | |
Buch geschrieben … | |
… Ihre Erinnerungen: „Meine ersten drei Leben“… | |
… „Das ist ganz gut, lies das mal“, sagte mein Sohn. Dieser Freund war mit | |
dem Dekan befreundet und fragte ihn: „Soll diese Schande für immer | |
bleiben?“ | |
Es gibt seit einigen Jahren Bestrebungen, von den Nazis aberkannte oder | |
nicht anerkannte Titel wieder zu verleihen. Meist ist das aber nur pro | |
forma. | |
Genau das wollte der Dekan nicht. Der wollte alles mit realen Gesetzen | |
regeln. | |
Haben Sie richtig gelernt für die Prüfung, Bücher gewälzt? | |
Ich habe mir erst mal wieder Gedanken gemacht über das Experimentelle von | |
damals. | |
Was haben Sie untersucht? | |
Ich habe Versuche mit Meerschweinchen gemacht, die mit Diphtherie vergiftet | |
waren. Ich habe ihnen den Dünndarm herausoperiert – ganz blitzschnell. Das | |
entfernte Ende vom Darm kam auf eine andere Glasröhre drauf, der Inhalt | |
tropfte in ein Auffanggerät. So konnte ich die Darmtätigkeit messen, | |
Einflüsse von gewissen Salzen, Adrenalin und Pilocarpin. Das sagt Ihnen | |
wahrscheinlich gar nichts. | |
Adrenalin kenn’ ich. | |
Ich wollte mehr über Diphtherieinfektionen herausfinden. | |
Was genau ist Diphtherie? | |
Kennen Sie nicht? Eine Infektionskrankheit mit Belägen im Rachen, die die | |
Patienten zum Ersticken bringen können. Es können Lähmungen auftreten, bis | |
hin zum plötzlichen Herztod. Ich habe das selbst einmal erlebt. Ein krankes | |
Kind lag in einer dieser Baracken. Die Eltern durften ihr Kind nur durchs | |
Fenster begrüßen. Das Kind richtete sich freudig auf im Bettchen, als es | |
seine Eltern sah und winkte – plötzlich fiel es tot zurück. | |
Wollten Sie immer Kinderärztin werden? | |
Ich wollte unbedingt Ärztin werden. Das wusste ich von Kindheit an. Ich | |
hatte schon meine Teddybären operiert. Später musste ich das in der Familie | |
durchdrücken. Meine Mutter war Musikerin und nach der Scheidung mittellos. | |
Es wurde erwartet, dass ich schnell etwas lernte, um Geld zu verdienen. Ich | |
habe mich als sehr egoistisch empfunden. Es gab endlose Diskussionen, ich | |
bin oft schreiend und heulend weggelaufen. Aber durchgesetzt habe ich mich | |
doch. | |
Und nun haben Sie die Promotion geschafft. | |
Die Verleihung ist in Hamburg. Der Dekan macht eine kleine Feier daraus mit | |
Musik. Es bewegt mich sehr, dass das nun Realität geworden ist. Aber ob das | |
irgendetwas wiedergutmachen kann? Ich denke auch an die vielen, für die | |
alles zu spät kommt. Seit ich weiß, dass es diesen Akt geben soll, war ich | |
sehr bedrückt. Zum ersten Mal seit Langem kamen diese Verlassenheit und | |
diese ganzen schrecklichen Gefühle wieder hoch. Das war alles tief im | |
Gedächtnis vergraben. Dadurch, dass ich so glücklich war mit meinem Mann, | |
meinem Beruf und den Kindern, war alles mit einer goldenen Schicht | |
umwickelt. Diese Wiedergutmachungsversuche haben zwei Seiten. Für die Seele | |
und das politische Bewusstsein ist es eine große, gütige Fügung. Aber die | |
Betroffenen müssen erneut durch diese Qualen gehen. Aber wenn ich Menschen | |
wie Sie jetzt oder den Dekan um mich habe, dann geht mir das Herz auf. Ich | |
habe für diese Enkelgeneration ein warmes Gefühl. Es ist gut, dass es | |
passiert. Ein Zeichen. Wie ein Stolperstein. Am 9. Juni ist die Verleihung. | |
So lange muss ich noch durchhalten. Na ja. Und dann bis zum 25. August. Da | |
kommt noch ein Urenkelchen. | |
Das wievielte? | |
Das zwölfte. Dann machen wir das Dutzend voll. | |
5 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
Joanna Kosowska | |
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