# taz.de -- Dokumentartheater: Die feinen Bremer Kaufleute | |
> Die Bremer Shakespeare-Company bringt die Geschichte der Firma Nordwolle | |
> auf die Bühne - ein Psychodrama einer Kaufmannsfamilie. | |
Bild: Die großbürgerliche Fassade steht noch, aber in den Büchern herrscht l… | |
Bremen taz | Achtung, das ist nichts für die Kinder der Sesamstraße. | |
Zweieinhalb Stunden schwere Sprach-Kost bringt die Shakespeare-Company auf | |
die Bühne. „Prunk und Pleite einer Unternehmerdynastie. Der Konkurs der | |
Nordwolle und die Bankenkrise 1931“ - gelesen aus den Akten, aus | |
Zeitungsnotizen, Gerichtsprotokollen und Briefen, die Studenten der Uni | |
Bremen gesichtet und geordnet haben. Muss das sein? Hätte man nicht ein | |
kurzweiliges Theaterstück daraus machen können? | |
Hätte man sicherlich, aber ob es dem Thema angemessener gewesen wäre, darf | |
bezweifelt werden. Wer sich auf diese szenische Lesung einlässt, bekommt | |
einen Krimi voller Gesellschaftskritik geboten - weniger auf der Bühne als | |
im Kopf. Verschiedene renommierte Bremer Familiennamen tauchen da auf, die | |
Lahusens natürlich, aber auch die Familien Böhmer, Kulenkampff, Smidt. Die | |
feine Bremer Gesellschaft - vor allem deswegen fein, weil sie sich | |
gegenseitig gute Leumundszeugnisse ausgestellt haben. Die Lahusens, | |
weltbekannte Kaufleute. Georg Carl Lahusen, bis zur großen Pleite der Kopf | |
der Nordwolle, noch 1931 zum Präses der Handelskammer gewählt, einer der | |
weltweit bekannten, seriösen Bremer Kaufleute - sagen jedenfalls die | |
anderen seriösen Kaufleute und bürgen noch für ihn, als er schon verhaftet | |
ist. | |
Geradezu krankhaft selbstverliebt erscheint Lahusen aus seinen | |
Akten-Spuren. Er schwadroniert von seinem Glauben an den lieben Gott, wenn | |
er nicht mehr weiter weiß - und glaubt vor allem an sich. Er setzt die | |
Existenz von 25.000 Arbeitern aufs Spiel, um sein Scheitern nicht | |
rechtzeitig eingestehen zu müssen. | |
Nein, ein Lahusen scheitert nicht, vor allem nicht moralisch. Der Tageslohn | |
bei der Nordwolle war so gering, dass sich schlecht deutsche Arbeitskräfte | |
finden ließen in den goldenen 1920er-Jahren. Lahusen warb junge Mädchen und | |
Frauen aus Schlesien, Galizien und Böhmen an, für eine Mark fünfzig am Tag. | |
„Wollmäuse“ nannten die Delmenhorster sie. Für seine kluge | |
„Menschenwirtschaft“ lobte Lahusen sich selbst. Wohnungsnot und soziales | |
Elend in Delmenhorst waren sprichwörtlich. Ein dreimonatiger Streik | |
verhagelte ihm die Bilanz des Jahres 1929. Es ist die Pleite eines | |
Familienbetriebes, in der die Brüder den Bruder nicht kontrollieren, | |
anstatt der Rationalität des Kapitalismus dominiert die Vetternwirtschaft. | |
Keine Spur von Selbstzweifel | |
Der Mann, der 1933 sein Fähnchen in den Wind hängte und das „jüdische | |
Bankhaus“ für seinen Bankrott verantwortlich machte, versuchte 1941, aus | |
dem Knast freigekommen, sich „arisierte“ Betriebe unter den Nagel zu reißen | |
- und forderte 1946 Wiedergutmachung als Verfolgter des Nazi-Regimes. Wenn | |
der Schauspieler Michael Meyer die privaten Briefe von Georg Carl Lahusen | |
liest, kann einen ein Schauder überkommen - selbst die zärtlichsten | |
Bemerkungen strotzen vor Falschheit. Im Gefängnis scheint das Rollenspiel | |
dieses Bremer Kaufmanns nur noch starrsinniger und spröder geworden zu | |
sein. | |
Keine Spur von Selbstzweifel oder auch nur Nachdenklichkeit. Selbst die | |
Reichsregierung in Berlin berät ernsthaft, ob sie das Unternehmen nicht | |
retten sollte - die Kabinettsprotokolle dokumentieren vor allem die | |
Hilflosigkeit der Politik in einer wirtschaftlichen Krisensituation. In dem | |
Gerichtsverfahren, das im Herbst 1933 stattgefunden hat, windet Lahusen | |
sich unter den hochnotpeinlichen Fragen nach der betrügerischen Struktur | |
seines Erfolges und rettet sich, wenn er vor lauter Lügen nicht mehr weiter | |
weiß, ins Schweigen. Das Urteil fällt mit fünf Jahren Haft skandalös milde | |
aus. Ein Psychodrama findet da auf der Bühne statt, ein Wirtschaftskrimi, | |
ein Sittengemälde über fast 100 Jahre Bremer Geschichte, authentisch Satz | |
für Satz, kein Deut dazugedichtet - feine Bremer Gesellschaft! | |
Dunkles Kapitel der Bremer Geschichte | |
Kein Bremer Schulkind hat das im Geschichtsunterricht gelernt. Das würde | |
nicht zum Bremer Lokalpatriotismus passen: Wie der Firmengründer Lahusen | |
den Seeleuten ihre Titel auf argentinisches Land für ein paar Schnäpse | |
abgeschwatzt hat, wie der Unternehmer Lahusen versucht, die Konkurrenz | |
auszuschalten, indem er sie - auf Kredit - aufkauft, wie über eine | |
Amsterdamer Betrugs-Firma die Bilanzen systematisch gefälscht werden und | |
große Summen abgezweigt werden, mit dem die Lahusens in Bremen ihre | |
großbürgerliche Fassade finanzieren. | |
Das Erbe der Lahusens, ihr 107-Zimmer großes „Herrenhaus“ Hohehorst bei | |
Schwanewede steht mit seinen 5.000 Quadratmetern Land gerade zum Verkauf | |
an. Im „Haus des Reichs“, dem Firmensitz, durch die Sozialdemokraten mit | |
der Adresse „Rudolf-Hilferding-Platz 1“ geadelt, werden heute Bremens | |
Staatsschulden verwaltet. Der Name Niels Stolberg fällt natürlich nicht auf | |
der Bühne, weil er nicht in den Lahusen-Akten vorkommt, aber unübersehbar | |
ist, dass die kurze Geschichte der Bremer Beluga-Reederei nur eine | |
mittelmäßige Kopie der Lahusen-Geschichte darstellt. Der Stoff ist | |
brandaktuell. | |
4. und 22. Juni, 1. Juli, 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz, Bremen; 2. | |
Juli, 19.30, Aufführung „am Tatort“ Nordwolle, Delmenhorst | |
1 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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