# taz.de -- Stadtplanung am Bosporus: Die Vision des Präsidenten | |
> Neue Großprojekte werden Istanbul gründlich verändern: eine gewaltige | |
> Bosporusbrücke, ein Megaflughafen, breite Autobahnen. | |
Bild: Noch ist die Nord-Marmara-Autobahn ein Baustelle – bald führt sie zur … | |
ISTANBUL taz | „Ja, es ist wunderschön hier. Der Blick auf den Bosporus und | |
das Schwarze Meer, die intakte Natur und die Ruhe.“ Mustafa Suer lehnt sich | |
zufrieden in seinem Stuhl zurück. Er ist Kapitän im Ruhestand. Für seinen | |
Lebensabend hat er sich ein Haus in Poyrazköy gekauft, einem kleinen Dorf | |
am Ausgang des Bosporus ins Schwarze Meer. | |
Noch ist die lärmende, überfüllte Metropole Istanbul gut 30 Kilometer | |
entfernt. Die kleine Straße zum Dorf führt durch Kiefernwälder und | |
Hochmoore, und weil es von Poyrazköy aus nicht mehr weitergeht, ist sie | |
kaum befahren. | |
Zweimal am Tag kommt ein Bus. Ansonsten verlassen die Bewohner ihren Ort | |
mit einem der Schiffe der Fischfangflotte, die im großen Hafen unterhalb | |
der Terrasse vertäut sind, auf der Mustaf Suer seine Tage verbringt. Hier | |
vor einem Teehaus unter großen Kastanienbäumen hat man einen guten | |
Überblick über den Hafen und die großen Pötte, die über den Bosporus im | |
Minutentakt ins Schwarze Meer einfahren: russische Tanker, Containerschiffe | |
für Odessa oder Konstanza und ab und zu ein Fährschiff mit dem Ziel Trabzon | |
an der türkischen Schwarzmeerküste. | |
Seit einigen Monaten aber ist nichts mehr, wie es war: Direkt hinter der | |
Hafeneinfahrt von Poyrazköy wuchs ein gigantischer Brückenpfeiler in die | |
Luft. 320 Meter hoch ragt er jetzt in den Himmel, auch sein Pendant auf der | |
gegenüberliegenden, der europäischen Seite, ist fertig. Vor einigen Wochen | |
ist das erste Stahlseil von Pfeiler zu Pfeiler gespannt worden, seitdem | |
werden die vorgefertigten Teile für die neue – dritte und bislang größte �… | |
Bosporusbrücke in die Stahlseile eingehängt. | |
„Bis August“, meint Mustafa Suer, „ist die Lücke zwischen der europäisc… | |
und der asiatischen Seite geschlossen.“ Er sieht das ganz gelassen, die | |
Aufregung der Umweltschützer und Istanbuler Intellektuellen kann er nicht | |
nachvollziehen. „Das ist Fortschritt, und es wurde Zeit, dass der auch zu | |
uns kommt.“ Er war in Hamburg, als der Tunnel unter der Elbe gebaut wurde. | |
„Das war für Hamburg auch ein großer Fortschritt, und Istanbul, ja die | |
ganze Türkei braucht noch einiges mehr davon.“ | |
„In Poyrazköy“, davon ist Mustafa Suer überzeugt, „werdet ihr keinen | |
Menschen finden, der die Brücke nicht mag. Wir sind alle für den | |
Fortschritt.“ Dafür wird ihr idyllischer Ort allerdings einen hohen Preis | |
zahlen – den der Kapitän und die anderen, überwiegend älteren Männer im | |
Teehaus über dem Hafen von Poyrazköy offenbar zu zahlen bereit sind. | |
Kurz vor dem Ort liegt die Großbaustelle für die künftige Autobahn, die | |
bald Hunderttausende Autos täglich zur Brücke hin- und über den Bosporus | |
hinwegführen wird. Acht Fahrspuren wird sie haben, eine breite Schneise | |
zerteilt bereits den Wald. 60 Meter breit wird die Brücke, darüber sollen | |
später neben den Autos auch Züge rollen. Dass die Brücke die Idylle in | |
Poyrazköy radikal ausradieren wird, können die Männer im Teehaus sich wohl | |
noch nicht vorstellen. | |
## Neue Satellitenstadt | |
Doch die Erfahrungen, die Istanbul nach dem Bau der ersten und zweiten | |
Bosporusbrücke gemacht hat – zusammen mit den weitreichenden Plänen, die | |
die türkische Regierung und Präsident Tayyip Erdogan mit der Brücke | |
verbinden –, sprechen ihre eigene Sprache: Die ersten beiden | |
Bosporusbrücken haben innerhalb weniger Jahre große neue Siedlungsgebiete | |
vor allem auf der asiatischen Seite Istanbuls erschlossen. | |
Nicht zuletzt deshalb wuchs die Stadtbevölkerung rapide: von fünf Millionen | |
Anfang der 70er Jahre auf 15 Millionen Einwohner heute. Genauso wird es mit | |
der dritten Brücke kommen – und die Wälder im Norden, die das Stadtklima | |
verbessern helfen – zwischen Istanbul und dem Schwarzen Meer werden | |
verschwinden. Die Stadtplaner befördern dies. | |
Denn es geht nicht nur um die Brücke allein: Ebenfalls in Sichtweite des | |
Schwarzen Meeres, etwa 35 Kilometer vom heutigen Stadtzentrum entfernt im | |
Nordwesten der Stadt, entsteht einer der größten Flughäfen weltweit (siehe | |
Kasten). Die geplanten Autobahnen werden die dritte Brücke mit dem | |
bestehenden Autobahnring und dem künftigen Großflughafen verbinden. | |
Zwischen dem neuen Airport und der Brücke soll eine Satellitenstadt | |
entstehen. | |
Wird alles so realisiert, wie jetzt als Vision des Präsidenten verkündet, | |
dürfte die Bevölkerung Istanbuls von heute 15 Millionen auf knapp 25 | |
Millionen im Jahr 2030 ansteigen. Die grüne Lunge Istanbuls und die | |
stadtnahen Wasserreservoirs werden dann verschwunden sein. Die Stadt, die | |
sich heute noch überwiegend am Marmarameer entlangzieht, wird dann auch das | |
Schwarze Meer erreicht haben. | |
1 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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