# taz.de -- Mega-Projekte in der Türkei: Tödliche Gefahr für das Marmarameer | |
> Allen Bedenken zum Trotz ist Staatschef Erdoğan entschlossen, einen 45 | |
> Kilometer langen Kanal bauen zu lassen. Noch hapert es an der | |
> Finanzierung. | |
Bild: Erklärter Gegner des neues Megaprojekts von Erdoğan: Istanbuls Oberbür… | |
Istanbul taz | Es war ein Termin, wie der türkische Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan ihn liebt. Fähnchen schwingende Fans, Betonmischer, Baukräne und | |
obendrauf eine Multimediashow über das größte Bauprojekt ever, seinen | |
Istanbul-Kanal. Noch einmal konnte Erdoğan aufzählen, was er alles in den | |
letzten 19 Jahren in Istanbul schon hat bauen lassen. Doch das soll nun | |
verblassen gegen das Megaprojekt, für das er am Samstag den Startschuss | |
gab. | |
Die Rede ist von einem 45 Kilometer langen Kanal. Dieser soll durch die | |
westlichen Vororte Istanbuls bis zum Schwarzen Meer führen, um künftig | |
neben dem Bosporus eine zweite Schiffsverbindung zwischen den | |
Schwarzmeer-Anrainerstaaten und den östlich daran anschließenden | |
zentralasiatischen Staaten und dem Marmarameer mit der Durchfahrt zur Ägäis | |
und damit zum Mittelmeer herzustellen. Der Kanal soll eine ähnliche globale | |
Bedeutung wie der Suezkanal bekommen und der Türkei zukünftig jährlich | |
Milliarden Dollar einbringen. | |
Doch anders als bei früheren Projekten glaubt dieses Mal nur noch ein | |
harter Kern fanatischster Erdoğan-Anhänger an [1][diese Vision ihres | |
Führers]. Denn die Einwände gegen den Kanal sind vielfältig und Erdoğan und | |
seine Minister konnten sie nicht entkräften. | |
Der wohl wichtigste ist die damit verbundene Bedrohung des Marmarameeres. | |
Das Marmarameer wird über den Bosporus mit Wasser aus dem Schwarzen Meer | |
und über die Dardanellen mit Wasser aus der Ägäis gespeist. Das Wasser aus | |
dem Schwarzen Meer ist sauerstoffarm und schmutzig, vor allem seit die | |
Donau wie eine Kanalisation den Dreck halb Europas ins Schwarze Meer spült. | |
## Deutliches Alamsignal | |
Nur über die Dardanellen gelangt sauberes sauerstoffreiches Wasser ins | |
Schwarze Meer, doch das ist schon jetzt zu wenig. Der Algenschleim, der in | |
diesem Sommer fast das gesamte Marmarameer kontaminiert hat, ist ein | |
deutliches Alarmsignal. Sollte durch den neuen Kanal zusätzliches | |
schmutziges Wasser ins Marmarameer gelangen, würde das den ökologischen Tod | |
bedeuten, darin sind sich alle Meeresbiologen einig. | |
„Das Marmarameer würde zum toten Gewässer. Selbst wenn man den Kanal wieder | |
schließen würde, wäre dieser Prozess nahezu irreversibel. Es würde 20.000 | |
Jahre dauern, bis sich das Marmarameer wieder erholt“, so einer der | |
renommiertesten Meeresbiologen der Türkei, Cemal Saydan, gegenüber der taz. | |
Es ist deshalb kein Wunder, dass die Mehrheit der Istanbuler gegen den | |
Kanal ist. Denn er bedroht auch die Trinkwasserversorgung der Stadt, weil | |
er durch einige bedeutende Trinkwasserreservoirs führen und die Stadt von | |
weiter westlich gelegenen Talsperren abschneiden würde. | |
Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu hat sich schon vor Jahren an die | |
Spitze der Protestbewegung gestellt, doch die Stadt hat keine rechtliche | |
Handhabe, gegen den Kanalbau vorzugehen. „Ihr könnt schreien, wie ihr | |
wollt“, sagte Erdoğan bei seiner Beton-Marsch-Show am Samstag an die | |
Istanbuler gewandt, „wir werden den Kanal bauen.“ Die Kanalgegner hoffen | |
vor allem darauf, dass Erdoğan die Milliarden Dollar für den Bau | |
(Schätzungen pendeln zwischen 8 und 20 Milliarden) nicht zusammenbekommt. | |
Tatsächlich ging es bei der Inszenierung am Samstag noch nicht um den Kanal | |
selbst, sondern um den Beginn des Baus einer der sechs Brücken, die den | |
Kanal einmal überspannen sollen. Für das Großprojekt [2][fehlt noch die | |
Finanzierung]. Die oppositionelle CHP behauptet, rund 400 Finanzinstitute | |
weltweit hätten es abgelehnt, für den Kanal Kredite zu geben. | |
In türkischen Medien wird spekuliert, Katar und China könnten Geld zur | |
Verfügung stellen und China auch Teile des Kanalbaus im Rahmen seiner „Neue | |
Seidenstraße“-Projekte übernehmen. Bekannt ist lediglich, dass die | |
Herrscherfamilie Katars, Scheich Hamad bin Chalifa al Thani und seine | |
Mutter, große Länderreihen entlang des künftigen Kanals gekauft haben, weil | |
dort neue Stadtteile Istanbuls entstehen sollen. Viele Kritiker vermuten | |
bereits, dass es bei dem Kanal insgesamt mehr um Immobilienspekulationen | |
als um ein maritimes Projekt geht. | |
27 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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