| # taz.de -- Das visionäre Werk des Arthur Russell: Avantgarde-Cello mit langem… | |
| > Lange galt das Werk des New Yorker Cellisten und Disco-Producers Arthur | |
| > Russell als verschollen. Nun spielt ein Ensemble seine „Instrumentals“. | |
| Bild: Der New Yorker Arthur Russell gilt als Visionär in Sachen Cello und Pop. | |
| Das Cello von Arthur Russell zieht ein langes Echo nach sich. Der 1951 in | |
| Iowa geborene Musiker war in den New Yorker Avantgardezirkeln ebenso zu | |
| Hause wie in David Mancusos Disco-Hochburg „Loft“. Er experimentierte mit | |
| Sequencern und Synthesizern und verstärkte sein Cello mit | |
| Gitarrenverstärkern. Seine von Natur aus dünne und sanfte Stimme belegte er | |
| so lange mit Effekten, bis sie den letzten Anschein eines natürlichen | |
| Geschlechts verlor. | |
| Bei Arthur Russell wurde das Begehren zum musikalischen Experiment. Sein | |
| bekanntestes Stück „Go Bang“ ist ein Discotrack, der immer wieder | |
| ausbricht. „I want to see all my friends at once. I’d do anything to get a | |
| chance to go bang, I wanna go bang!“, singt jemand, bevor sich die letzten | |
| Spuren der Stimme im Hall verfangen. Darunter zieht ein präziser Discobeat | |
| seine Kreise, der sich von ein paar ins Kosmische verstimmten | |
| Orgelimprovisationen nicht aus dem Loop bringen lässt. | |
| Lange galt das Werk von Arthur Russell als verschollen. Lediglich ein paar | |
| auf Compilations verstreute Stücke waren erhältlich. Ab 2004 machte sich | |
| das Label Audika an die Sichtung des Nachlasses von Russell, der mehrere | |
| Hundert Tapes mit Aufnahmen umfasst. Seitdem hat Russell überall seine | |
| Fans. | |
| Der Londoner Bassmusik-Produzent Actress etwa legt seine Stücke regelmäßig | |
| auf, und im letzten Herbst ist eine Aids-Benefiz-Compilation erschienen. | |
| Auf dieser covern der schwedische Indiesongwriter José Gonzáles, die | |
| Londoner Popnerd-Boyband Hot Chip, aber auch der Doom-Saxofonist Colin | |
| Stetson die Lieder des 1992 an einer HIV-Infektion gestorbenen | |
| US-Künstlers. | |
| ## Serielle Musik mit Rockharmonien | |
| Aber bevor Russell zu Everybody’s Darling werden konnte, musste er erst mal | |
| sein Publikum vor den Kopf stoßen. Mitte der Siebziger war Russell für die | |
| Programmgestaltung des „Kitchen“ in New York verantwortlich, damals | |
| Treffpunkt der Avantgarde aus Musik, Literatur und Tanz. Russell | |
| interessierte sich für eine Avantgarde-Musik der Gegenwart, die verbinden | |
| sollte, was ihm jeden Tag an die Ohren kam: die geloopten Phrasen der | |
| Minimal Music, die Aleatorik von John Cage und die Streicher aus den | |
| orchestralen Soulproduktionen der siebziger Jahre. Russell stieß dabei | |
| selbst bei seinen Mitmusikern nicht immer auf Verständnis. Sein späterer | |
| Mitbewohner, der Gitarrist Rhys Chatham, erklärte einmal, er sei „entsetzt“ | |
| darüber gewesen, wie Arthur serielle Musik mit Rockharmonien mischte. | |
| Chatham ist einer der Musiker, mit denen Arthur Russell 1975 seine | |
| „Instrumentals“ im Kitchen aufführte. Zwischen dreißig Sekunden und neun | |
| Minuten dauern die von einem Ensemble aus E-Gitarre, Schlagzeug, Streichern | |
| und Blasinstrumenten gespielten Miniaturen. Immer wieder kreisen die | |
| Instrumente um einen Grundstock an Loops, aus dem sie ebenso regelmäßig | |
| wieder ausbrechen, um ein Stück Easy Listening zu performen oder mit der | |
| Slidegitarre an die Countrymusik des Mittleren Westens zu erinnern, wo | |
| Russell aufgewachsen ist. | |
| 40 Jahre nach ihrer Uraufführung werden nun die „Instrumentals“ zum ersten | |
| Mal in Europa auf der Bühne präsentiert. In der Rückschau hört man, wie | |
| sich in ihnen die damalige Nahzukunft der weißen New Yorker Popmusik | |
| andeutete: die kaskadigen Gitarrenschauer von Sonic Youth, der | |
| hochgebildete Freak-out des New Weird America, der Eklektizismus des um | |
| John Zorn kreisenden Jazz-Universums. „Einige Akkorde und Melodien sind | |
| vorgegeben, aber abgesehen davon sind die Stücke für viele Interpretationen | |
| offen“, erklärt der New Yorker Peter Gordon, ein enger Freund und Kollege | |
| Russells. Für die Europatour der „Instrumentals“ hat Gordon den Großteil | |
| des Ensembles von 1975 versammelt. Heute sind die „Instrumentals“ ein Echo | |
| aus einer Zeit, in der Gegenwart bedeutete, auf Höhe mit dem Jetzt zu sein, | |
| nicht auf Höhe mit dem Hipsten von gestern. | |
| 28 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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