# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik XII: Im Schatten des Bieber-Körpers | |
> PopkritikerInnen gehört die Zukunft. Sie kennen die besten Auswege aus | |
> dem Dschungel und sie steigen auf die Bremse, die das neue Gaspedal der | |
> Musikkritik ist. | |
Bild: Den Pop verlangt's nach Ruhe. | |
Langsamer lächeln. Nicht nur ein bisschen. Sondern um 800 Prozent | |
verlangsamt. Super Slow Motion ist die Zukunft des Pop. Sollte sich also | |
auch die Musikkritik der Zukunft mehr Zeit lassen mit ihren Analysen? | |
Zumindest könnte sie sich so an "U Smile - 800 % Slower" länger erfreuen. | |
Es ist das Clickmonster dieses Popherbstes. Die radikale Zerdehnung eines | |
Songs des kanadischen Teen-Popstars Justin Bieber macht aus seinem | |
3-Minuten-Chartshit "U Smile" mehr als 35 Minuten vermurmeltes | |
Ozeanrauschen. | |
Im Schatten des Körpers des Biebers baut sich eine Monsterwelle aus | |
Doomsounds auf, die ihre majestätische Schönheit simplen Kniffen mit der | |
Umsonst-Software "PaulStretch" verdankt. Fast zwei Millionen Menschen haben | |
die Version von Nick Pittsinger inzwischen auf der Internetseite SoundCloud | |
angehört. | |
Der Promibonus von Justin Bieber mag mit zur Popularität der Manipulation | |
beigetragen haben, vielleicht auch der Novelty-Faktor der Super-Zeitlupe. | |
Völlig zu Recht wurde "U Smile 800 % Slower" in einem Blog als "Pop-culture | |
Readymade" bezeichnet. Jedenfalls ist es der Beweis für den kreativen | |
Umgang mit der Ware Pop. Den engen Zeitrahmen des Kommerziellen sprengt | |
sein subversiver Akt der Verlangsamung allemal. Sogar der um 800 Prozent | |
Zerfaserte hat seine Anerkennung gezollt, wenn auch im Hektiker-Forum | |
Twitter. | |
Extrem verlangsamte Musik wird als Screw, Drag, oder Witch House | |
bezeichnet. Die neue Welle der Verlangsamung hat ihren Ursprung in den USA. | |
Auch in Berlin haben inzwischen erste Witch-House-Partys stattgefunden. Auf | |
einflussreichen Blogs gibt es Einschätzungen des Phänomens. So viel ist | |
sicher: Das Ding mit der Zeitlupe wird uns noch eine ganze Weile | |
beschäftigen. | |
Its like a jungle sometimes | |
Da erscheint es nur passend, dass die taz-Serie zur Zukunft der Musikkritik | |
als "epische Debatte" (perlentaucher.de) bezeichnet wurde. Fassen wir es | |
als Kompliment auf. Was Ende März mit einem Text des ehemaligen | |
Spex-Redakteurs Wolfgang Frömberg begann, zog zehn weitere, in loser Folge | |
in dieser Zeitung publizierte Beiträge nach sich. Die Debatte erhebt keinen | |
Anspruch auf Vollständigkeit. | |
Ihr Auslöser war ein Publicity-Gag der Spex. In seiner Januar-Ausgabe | |
verkündete das Musikmagazin das Ende der Plattenrezension und erklärte den | |
Umstand mit dem starken Tobak "Tod des Autors". Postmoderne hin und | |
Popmoderne her, Plattenrezensionen und damit Analysen von Songs und ihrer | |
Interpreten gehören weiterhin zum Kerngeschäft der Musikkritik. | |
Selbst wenn Formate wie die LP oder CD im Zeitalter des Internets an | |
Kaufkraft eingebüßt haben, man sollte ihre kulturelle Bedeutung nie | |
kleinreden. Bis auf Weiteres gibt es keine Datenträger, die die Dramaturgie | |
von Alben und die Erzähltechnik von Songs und Tracks vollständig ersetzen. | |
Die Struktur von Alben beeinflusst die Live-Performance von Künstlern, sie | |
beeinflusst sogar, wie Zuhörer auf Live-Musik reagieren. Alles andere, auch | |
"U Smile 800 % Slower", kommentiert die Parameter Song und Album. | |
Its like a jungle sometimes, aus dem nach wie vor KritikerInnen die besten | |
Auswege kennen, weil sie sich mit der Materie am eingehendsten | |
beschäftigen. Sie können die Musik und ihre Komponisten kontextualisieren. | |
Nicht die Kritik sei das Problem, "das rezipierende Subjekt ist abhanden | |
gekommen", schrieb Sonja Eismann in ihrem Debattenbeitrag. Mit Zahlen war | |
ihre Einschätzung nicht belegt. Egal, ob zwei Millionen Menschen ein endlos | |
zerdehntes Lied goutieren oder 80 Zuschauer einer Buchpräsentation in | |
Berlin über den New Yorker Musiker Arthur Russell beiwohnen, das Interesse | |
an intelligenter Pop-Unterhaltung ist ungebrochen. | |
Das Problem liegt eher in seinem Voluntarismus begründet. Man braucht Pop | |
immer als Ausweis des Lockeren, für den ungebremsten Nachschub an neuen | |
Gesichtern und als Beleg für einen kreativen Umgang mit modernster Technik. | |
Zu den Klängen von Popmusik darf auch mal der oberste Hemdknopf gelockert | |
werden. Mehr Investition aber auch nicht. | |
Pop und damit auch die Arbeit seiner KritikerInnen wird mit zu wenig | |
Respekt begegnet. Wie formulierte es der französische Philosoph Jean | |
Baudrillard einmal: "Mir war beinahe, als verfüge das Objekt über | |
Leidenschaft, es schien zumindest ein Eigenleben zu haben und der | |
Passivität seines Gebrauchs entkommen zu können, um eine Art Autonomie zu | |
erlangen und vielleicht sogar die Fähigkeit, sich an einem Subjekt zu | |
rächen, das sich seiner Herrschaft über es allzu sicher ist." | |
Deutsche Verbürgerlichung | |
Über die Zukunft der Popkritik debattierten die AutorInnen-Subjekte in der | |
taz äußerst lebhaft und kontrovers, manchmal fast übertrieben | |
selbstkritisch. So konstatierte Jörg Sundermeier in seinem Beitrag, die | |
Besprechung von konsumunabhängiger Popmusik sei in den Massenmedien | |
unerwünscht. Das sklavische Befolgen von Veröffentlichungsterminen zeige, | |
die Musikkritik habe sich den Gesetzen des Marktes völlig unterworfen. | |
Wenn dem so wäre, hätte ein Stück wie "U Smile 800 % Slower" niemals zum | |
Diskussionsgegenstand werden können. Dann würde die Warenförmigkeit von Pop | |
jede Form von kritischer Auseinandersetzung mit seinen Hervorbringungen | |
verhindern. Tut sie aber nicht. Auch ist Sundermeiers Annahme, "zum Glück" | |
seien sich KritikerInnen in ihren Urteilen fast nie einig, eine Schimäre. | |
Leider. Denn sie beachten die Meinung der Konkurrenz sehr genau. Ein | |
Umstand, der besonders in Deutschland zu einer Verbürgerlichung des | |
Pop-Diskurses geführt hat. Da ist es wichtiger, unbedingt als erster das | |
Jubiläum des Labels City Slang zu erwähnen, um dann in einem hanebüchenen | |
Parcours über 20 Jahre Indierock Kurt Cobain und seine Band Nirvana beim | |
US-Label SST einzugemeinden. | |
Gerade im angloamerikanischen Raum herrscht in Sachen Pop eine größere | |
Meinungsvielfalt. Das liegt zum einen an der älteren Poptradition, an der | |
unübersichtlicheren, regional unterschiedlich ausgerichteten | |
Musikwirtschaft zum anderen. Aber nicht nur. Die Konkurrenz aus dem | |
Internet ist viel mächtiger als in Deutschland, wie die | |
indisch-amerikanische Journalistin Geeta Dayal es in ihrem taz-Beitrag über | |
die Musikkritik in den USA beschrieben hat. | |
Angloamerikanische Musikjournalisten sind aus der schieren ökonomischen | |
Notwendigkeit zu Bloggern geworden. Dadurch, dass sie zu anderen Artikeln | |
verlinken oder diese kommentieren, machen sie auf sich und ihre | |
analytischen und schreiberischen Fähigkeiten aufmerksam. Sie betreiben | |
damit eine Form von Eigenwerbung mit intellektuellen Mehrwert. | |
In Deutschland gibt es keine namhaften Popautoren, die bloggen. Stattdessen | |
wurde mit Bezug auf das Internet immer wieder das Ende von Pop eingeläutet, | |
wahlweise stirbt der Mainstream oder der Underground. Hannah Pilarczyk | |
schrieb in ihrem Beitrag von der "verqueren Logik der Endzeitbeschwörer". | |
Je apokalyptischer ihr Urteil, desto mehr erliegen diese der Propaganda der | |
Musikindustrie. Denn spätestens seit Tim Renners Buch "Kinder, der Tod ist | |
gar nicht so schlimm" kokettiert die Musikindustrie auch mit dem eigenen | |
Ableben. | |
Würde die Filmkritik je darüber nachdenken, mit der Rezension von Filmen | |
aufzuhören, weil es Leute gibt, die Handyaufnahmen von Blockbustern ins | |
Internet stellen? Sie würde es sicher begrüßen, wenn ein Regisseur einen | |
Kurzfilm zu einem Filmepos zerdehnen könnte. | |
18 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
New York | |
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