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# taz.de -- Efdemin-Album Chicago: Thesen zum Abfahren
> Niemand haut zu Techno mehr große Thesen raus - oder? Der Produzent
> Phillip Sollmann (Efdemin) verfolgt mit seinem Album "Chicago" Spuren
> einer transatlantischen Vergangenheit.
Bild: Marina City in Chicago.
Die Menschenschlangen am Berliner Techno-Mekka "Berghain" und die
obligatorische Feuilleton-Rezeption dieses, wie man sagt, "besten Clubs der
Welt" dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Phase der starken
Thesen im Techno lange vorbei ist. Niemand verpasst dem Geschehen noch
einen Überbau wie damals zu Loveparade-Hochzeiten (Stichworte "Ravende
Gesellschaft" und "DJ-Culture"). Auch Tobias Rapps Buch "Lost and Sound.
Berlin, Techno und der Easyjetset" verzichtete darauf.
Der Club steht heute für sich, als Standort einer soziophysischen Praxis,
die sich nicht wortreich zu erklären braucht. Schon der leiseste Anschein
von Bedeutungsproduktion kann in dieser Diskursleere als Anmaßung
aufgefasst werden. So wie jetzt beim DJ und Produzenten Phillip Sollmann
alias Efdemin. Denn mit dem Titel seines zweiten Albums ist ihm eine
kleine, feine Provokation gelungen. "Chicago" heißt der Nachfolger des
selbstbetitelten und überaus erfolgreichen Debütalbums von 2006, das
Efdemin überraschend in die Flugrouten des europäischen und
transatlantischen DJ-Business katapultierte. "Chicago", ausgerechnet. Einen
fetteren musikhistorischen Marker kann man kaum setzen.
Von Blues und Jazz über Soul bis zu (Chicago-)House war diese Stadt immer
wieder richtungsweisend für (afro-)amerikanische Musikgeschichte, das Art
Ensemble of Chicago und Sun Ra, Curtis Mayfield und R. Kelly kommen hier
her, in den Achtzigerjahren erfanden die Chicagoer Marshall Jefferson,
Larry Heard mit anderen den klassischen House, ja und in den Neunzigern
wurde die Stadt zum Zentrum des Postrock um Bands wie Tortoise und The Sea
and Cake. Sollmann augenzwinkernd: "Erst mal ist dieser Titel als
unglaubliche Frechheit gedacht. Das funktioniert erstaunlich gut, ich habe
in Netzforen Kommentare gelesen wie: ,Was denkt der sich?' Natürlich ist es
eine Anmaßung. Andererseits ist mein musikalisches Spektrum tatsächlich
sehr stark von Musik aus dieser Stadt beeinflusst."
Sollmann wohnt seit einigen Jahren in Berlin, vorher lebte er in Hamburg,
wo er unter anderem mit seinem Kasseler Jugendfreund und DIAL-Labelkollegen
Hendrik Weber alias Pantha du Prince in einer Band spielte und schon mal
bei der Band Stella als Überraschungssänger die Bühne enterte. Dass er
endlose Nächte im Hamburger Pudelclub verbracht hat, merkt man nicht
zuletzt an seiner sympathischen Freude am Reden. Über die Arbeit an
"Chicago" sagt er: "Ich habe ohne jedes Konzept angefangen und stattdessen
in meinen eigenen Archiven gestöbert, weil ich merkte, dass vieles von dem,
was ich schon einmal durchgearbeitet habe, wieder verschütt gegangen ist.
So ein Plattenregal ist einfach größer als das, was man so erinnert. Ich
habe dann angefangen, mich wieder mit der Geschichte auseinanderzusetzen,
vor allem mit Jazz."
Jazz spielt denn auch eine wichtige Rolle auf "Chicago", allerdings nicht
als enervierend daddelndes Ornament oder Gratis-Bedeutungsgarant, sondern
als Tool, mit dem sich Fluchtlinien und Freiräume schaffen lassen. Sollmann
selbst spricht von "musikalischem Brainstorming". Bevor es an die Aufnahmen
ging, waren Schleusen zu öffnen und Schichten freizulegen. Und so klingen
die neuen Efdemin-Tracks an der Oberfläche zwar nach amtlichem Techno und
House, darunter vibrieren und wabern aber Ablagerungen aus Samples,
verführerischen Synthieflächen, Gerede und von Sollmann selbst
eingespielten Instrumenten wie Cello, Zither und Orgel. Ausgiebig kommen
Trommeln zum Einsatz, was kein Zufall ist, denn Sollmann teilt sich das
Studio mit dem Schlagzeuger Hanno Leichtmann. Sie beulen die Tracks
gleichsam aus und sorgen für eine angenehm desorientierende Dynamik, die an
den großen Stolperhouse-Produzenten Theo Parrish denken lässt.
Megametapher Detroit
Zwar würde man Künstler des Labels DIAL wohl eher zuerst mit Detroit
verlinken, dennoch macht die schillernde Megametapher "Detroit" Sinn.
"Klar, der naheliegende Bezug ist Detroit-Techno", meint Sollmann. "Das
nervt aber langsam, jeden Tag erscheint irgendeine EP mit
Detroit-Techno-Referenzen, das hat mich irgendwann nicht mehr
interessiert."
Mit seinem Anspielungsreichtum steht der Albumtitel für musikhistorische
Tiefenschürfungen, die nach dem Ende der Rave-Utopien in vielen
elektronischen Musikstilen Einzug erhalten haben. Und da drängt sich nun
doch ein Theorie-Überbau auf: Jacques Derridas Konzept der "Hauntology"
(von haunted - verwunschen, verspukt). Englische Musikjournalisten wie
David Toop, Mark Fisher oder Simon Reynolds beziehen sich darauf, wenn sie
darüber nachdenken, wie in aktueller Musik Sounds der Vergangenheit
wiederkehren. Unterhalb des offenkundigen Zitierens seien bestimmte
Klangchiffren ins kollektive Unbewusste der Post-Rave-Generation gewandert.
Wenn auf "Chicago" Jazz-Samples, Erinnerungsbruchstücke aus der Geschichte
von House und Techno und "mindere" Sounds wie Straßengeräusche sich in
einem eigenartigen Raumklang einnisten, dann hat das etwas Gespenstisches:
diese Sounds dominieren nicht auftrumpfend das Klangbild, sondern sind
gleichsam körperlos und ephemer in den Ritzen der Tracks am Werk. Selbst
die Intensitäten der "Abfahrt" suchen die neuen Efdemin-Stücke eher als
melancholische Spuren heim, als dass sie selbstgewiss das markierten,
worauf es gerade eben jetzt ankäme.
Es passt in diese Wahrnehmung, dass Efdemin selbst von einer "Psychoanalyse
mit sich selbst" spricht, wenn er sich an die Zeit im Studio erinnert.
Efdemins Auslegung von Techno und House ist deshalb nicht zuletzt als
Statement gegen einen eindimensionalen Effizienz-Imperativ zu verstehen.
Sollmann spricht aus eigener Erfahrung: "Ein unglaublicher Funktionalismus
hat in den Clubs zu einer Musik geführt, die sich House nennt, aber nicht
wirklich House ist, sondern eigentlich nur noch Textur. Alles hat die
gleiche Intensität, den gleichen übermächtigen Klang. Da ist nur noch
Produktion, keine Musik mehr." Während er spricht, windet sich sein Körper,
als wolle er sich selbst gestisch den Anrufungen der globalen
G'schaftlhuberei und deren Geschäftsgrundlagen entziehen.
"Chicago" klingt dagegen brüchig und introvertiert. Efdemin, der weltweit
Zigtausenden die Abfahrt besorgte, ist nicht zuletzt durch sein
Musikstudium an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst
gewappnet gegen die blinde Unterwerfung unter Club-Spielregeln. Überhaupt
ist dysfunktionale E-Musik für ihn ein wichtiges Korrektiv, er hat Musik
für Theaterstücke gemacht und neulich war er in Berlin an einer Performance
zum Thema "Staub" beteiligt. Derzeit sind ein paar neue Projekte im Kontext
E-Musik in Planung, doch sollen noch keine Details verraten werden.
Hellsichtige Distanz gegenüber den Codes des eigenen Genres ist eine
Konsequenz dieser Haltung. Das fängt schon mit der Betitelung des ersten
Tracks an: "The Revenge of the Giant Cowbell" ist ein selbstreferenzieller
Scherz, der auf die ewige Wiederkehr der immergleichen Club-Signalsounds
anspielt, aber auch auf den eigenen Club-Hit "Acid Bells". Den
Techno-Zirkus als Brutstätte blöder Businesshaftigkeit und einer hohlen
Immanenz verdammen will Phillip Sollmann trotz aller Einzelkritik natürlich
nicht. "Es gibt im Technokontext ganz viele tolle Leute, die weisen aber
immer auch auf etwas jenseits dieses Technokrams", erzählt Sollmann. Genau
dieses Aus- und Eingreifen in andere Bereiche, in Richtung Kunst, Politik,
Mode oder Design, macht die Arbeit des Labels DIAL aus, zu dessen
Lichtgestalten Sollmann gehört.
Einfluss der Freunde
Während wir uns zum Interview treffen, hat ein paar Meter weiter in
Berlin-Charlottenburg gerade der temporäre DIAL-Shop eröffnet, wo es
Editionen befreundeter Künstler zu erwerben gibt. Sie alle haben schon
Plattencover gestaltet. "DIAL und der ganze Zusammenhang drum herum, mit
Freunden wie Peter Kersten (alias Lawrence) und David Lieske (alias Carsten
Jost) - da findet ein sehr wichtiger Austausch statt. Ich würde diesen
Kontext niemals verlassen wollen", sagt Sollmann. Gleichwohl hat der
Einfluss der Freunde seine Grenzen: "Einige fordern mich dazu auf, wieder
als Sänger tätig zu werden. Ich wollte das auf ,Chicago' auch unbedingt,
habe es aber nicht vermocht. Deswegen muss man die Platte als Ausdruck
eines großen Versagens betrachten", so Sollmann etwas kokett.
Im Zentrum des Albums säße demnach ein Mangel. "There Will Be Singing", ein
anfangs herrlich holpernder Deep-House-Track und eines der schönsten Stücke
des Albums, übersetzt diese Leerstelle in ein romantisch klingendes
Versprechen.
28 May 2010
## AUTOREN
Aram Lintzel
Aram Lintzel
## TAGS
Clubmusik
Klang
Efdemin
Avantgarde
Konzert
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