# taz.de -- 20 Jahre Tacheles-Besetzung: Die ersten Tage von Berlin | |
> Vor zwanzig Jahren wurde das Tacheles besetzt. Dass das Haus den ersten | |
> neuen Club in Berlin-Mitte beherbergte, ist heute vergessen. Die Hipster | |
> feierten das Hier und Jetzt. | |
Bild: Kunsthaus Tacheles in Berlin-Mitte im Mai 2009. | |
Die Touristen kennen das Haus schon aus ihren Reiseführern, wenn sie am | |
Oranienburger Tor aus der U-Bahn steigen. Im Tacheles erzählen ihnen die | |
braunen Wände und die alten Tische aus Stahl von den Jahren nach dem | |
Mauerfall. Hier ahnen die Besucher, wie die Stadt wurde, was sie ist. Das | |
Tacheles ist die verblichene Postkarte aus einer Zeit, als Berlin für einen | |
Moment die Hauptstadt der Welt war. Davon erzählt im heutigen Berlin-Mitte | |
nicht mehr viel. Wer sich die Tage und vor allem Nächte der frühen | |
Neunziger noch einmal vor Augen führen will, muss sich mit Erinnerungen | |
behelfen. Den eigenen oder denen der anderen, von denen man oft nur den | |
Vornamen kennt. | |
Wie viele mögen es gewesen sein, die 1990, 91, 92, 93 die Montags-, | |
Dienstags- und Mittwochsbars besuchten? Ein paar hundert vielleicht, die | |
aus der ganzen Welt kamen und hier auf die revolutionäre Jugend aus West | |
und Ost trafen. Ein paar hundert, die in den Tresor hinunterstiegen, um | |
Blake Baxter zu hören. Ein paar wenige, die vorbeikamen, als Toktok eines | |
Sommers im Friseur vierundzwanzig Stunden lang ihre Technomaschine | |
bedienten. Viele, die im Eimer auf der Zwischenebene saßen und durch das | |
große Loch im Boden hinunter in den Keller schauten. Einige, die sich im | |
Planet Ecstasy einwarfen und morgens verstrahlt am Ufer der Spree saßen. | |
Die die Treppen des ersten WMF heraufkamen, über das Trümmerfeld durch das | |
Loch ins Nachbarhaus kletterten und dann hinuntergingen zum | |
Caipirinhatrinken in die mit aufgelesenen Möbeln eingerichtete Bar. Wir | |
riefen sie wegen ihres zerbombten Slumchics Favela. | |
Mit dem Fall der Mauer hatte sich eine Lücke aufgetan, durch die man | |
freundlich ins Niemandsland einzutreten gebeten worden war. 1990 war Mitte | |
eine Zone, die von der DDR über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden | |
war. Nun war die alte Ordnung zusammengebrochen, die neue Ordnung noch | |
nicht etabliert. Die Pioniere machten sich wenig Mühe, in längeren | |
Zeiträumen als einigen Wochen und Monaten zu denken. Fast ganz Mitte, so | |
schien es, wurde einige Sommer lang zwischengenutzt. Raves wurden gefeiert, | |
Ausstellungen organisiert. Lokale wurden geöffnet, um manchmal schon nach | |
wenigen Wochen wieder zu schließen. Die internationale Boheme aus | |
Künstlern, DJs, Partyveranstaltern, Ravern, Hausbesetzern, Galeristen, | |
Netzaktivisten, Designern, Anarchisten, Bastlern und umherschweifenden | |
Jüngern des dionysischen Rauschs besetzte Mitte eher heimlich. Ihr Netzwerk | |
aus Bars, Cafés, Galerien und Clubs war nur Eingeweihten sichtbar. Seine | |
ständig wechselnden Adressen wurden mündlich oder per Flyer weitergegeben. | |
Wenn heute kaum Bilder aus dieser Zeit zu finden sind und die Anfänge des | |
neuen Berlins so in einem mythischen Dunkel liegen, dann ist dieses Fehlen | |
nicht den Wirren des Umbruchs geschuldet. Die Hipster aller Länder | |
verschwanden in Mitte wie die Männer und Frauen, die man aus England als | |
Kolonisatoren in die Neue Welt geschickt hatte. Statt jeden Tag hart zu | |
arbeiten, das neue Land zu vermessen, zu kartografieren und in Besitz zu | |
nehmen, flohen sie lieber in die Wälder und schlossen sich dem Wilden Mann | |
an. | |
So jedenfalls ist es in Hakim Beys Buch "The Temporary Autonomous Zone" zu | |
lesen, das 1991 in New York erschienen und sofort zur Pflichtlektüre der | |
wilden Intellektuellen erklärt worden war. Die Temporäre Autonome Zone | |
(TAZ) ist Beys "poetische Fantasie" einer Guerillaoperation, die ein Stück | |
Land, Zeit oder Imagination befreit und sich sodann auflöst, um anderswo | |
wieder zu erscheinen: "Babylon hält seine Abstraktionen für real, und | |
innerhalb dieses Fehlerbereichs kann die TAZ existieren. Sobald sie aber | |
einen Namen erhalten hat, repräsentiert und vermittelt worden ist, wird sie | |
verschwinden und eine leere Hülle zurücklassen." Für Bey war die TAZ ein | |
dionysischer Ort der Unmittelbarkeit. Ein Fest, das außerhalb der profanen | |
Zeit geschieht. | |
Ein solches Fest war Mitte. Jetzt, nur in diesem Moment, konnte man die | |
Musik und die Leute genießen, die sich im Niemandsland versammelt hatten. | |
Der Staat würde seine Herrschaft bald wieder errichten, das Kapital | |
heruntergekommene Straßenzüge in luxuriöse Konsummeilen transformieren. | |
Wie gründlich die Temporäre Autonome Zone Mitte verschwunden ist, zeigt das | |
Tacheles. Es steht als leere Hülse, als Index eines Mythos in der | |
Oranienburger Straße. Denn dass der erste wirkliche Club von Mitte eben | |
hier residierte, ist heute vollkommen vergessen. Schon bald nach der | |
Besetzung der Ruine im Februar 1990 machten sich Tim Richter und Nick | |
Kapica mit Schaufel und Eimer daran, den Keller des ehemaligen "Haus der | |
Technik" der AEG von Ruß und Sand zu befreien. Richter kam aus Australien. | |
Kapica, ein Londoner mit polnischen Wurzeln, hatte sich nur für ein Jahr im | |
neuen Berlin umsehen wollen. | |
Die beiden kannten die Clubs im Westen der Stadt, wollten aber etwas | |
anderes. "Wir wussten genau, welche Stimmung dieser Club haben sollte, | |
welche Musik dort gespielt würde und wer das Publikum wäre", erinnert sich | |
Kapica. Den Ort für diesen imaginären Club fanden sie, als sie im Café | |
Zapata im Erdgeschoss des Tacheles eine Falltüre entdeckten. "Wir | |
gestalteten das Innere um die Situation herum, die wir vorgefunden hatten. | |
Zwei Räume, die durch einen kleineren Raum in der Mitte getrennt wurden. | |
Eine Brücke über ein Loch voller Wasser und ein Haufen Geröll trugen zur | |
Atmosphäre bei. Obwohl wir keine Werbung gemacht hatten, war der Laden am | |
Eröffnungsabend voller Freaks. Sie verstanden, was wir wollten: Die Nacht | |
als Erfahrung zu begreifen." Dass das Fotografieren während des Vollzugs | |
der Riten in der Ständigen Vertretung strikt verboten war und Filme auch | |
schon mal aus Kameras entfernt wurden, war Teil des Konzeptes, die | |
Atmosphäre eines besonderen, wenn nicht geheimen Orts zu schaffen, der | |
trotzdem allen offenstand, sagt Kapica. | |
Eine enge Treppe ging es hinunter. Ein Laserstrahl durchquerte den Club wie | |
ein Fingerzeig aus der Zukunft, der auf die Reste einer Geschichte traf, | |
die 1945 stehen geblieben zu sein schien. In einem Fahrstuhlschacht lag ein | |
Spiegel, der den Augen einen Stollen ins Nirgendwo vormachte. Die Toiletten | |
waren unisex. Nur einige bunte Lichter erwärmten das karge Ambiente | |
feuchter Wände. Später schleppte Till Vanish, der 1990 aus Weimar ins | |
Tacheles gekommen war, alte Fernseher von der Straße in den Keller, um | |
darauf Loops zu zeigen und Feedbacks zu erzeugen. | |
An manchen Sonntagen schnitt Vanish hier unten Haare. Mit dem Argentinier | |
Jorge Sastre arbeitete er sonst am Licht, bis beide 1992 die Ständige | |
Vertretung übernahmen, wo Ben de Biel weiter dafür sorgte, dass die Leute | |
an der mobilen Bar etwas zu trinken bekamen. In der Nacht des Donnerstags | |
spielten Armin und Mitch aus Offenburg mit Alain aus New York unter dem | |
Motto "Start from zero" House. Am Samstag war Corin mit House und Techno | |
dran, sonntags legten Juri, Bym und Alex Raggamuffin und Hiphop auf. Später | |
kam der Freitag dazu. Cut-X begann hier unten seine Karriere mit schnellen | |
Technotracks, dem britischen Bleep-und-Clonk-Sound, der die Kids in den | |
Keller lockte. Sie gaben dort den neuen, ultranervösen Tanzstil der Stunde | |
zum Besten, die Zeigefinger immer in der Luft. | |
1995 verlor die Ständige Vertretung den Kampf mit den Anarchos aus dem | |
Tacheles, die sich trotz ihrer internen Fraktionskämpfe darin einig waren, | |
lieber Rockbands im Keller hören zu wollen als House und Techno. | |
Nick Kapica und Tim Richter gründeten eine Agentur namens Ständige | |
Vertretung. Wer im Flughafen Schönefeld Orientierung sucht, blickt auf ein | |
System, das von Studio SV entworfen wurde. Armin führt den Plattenladen | |
Melting Point, Mitch ist immer noch DJ. Ben de Biel gehört die Maria, Cut-X | |
wurde später im Bunker in der Reinhardtstraße ein Star der Gabba Nation. | |
Jorge Sastre lebt in Madrid und arbeitet für die dortige Love Parade. Till | |
Vanish hat seine Videobänder bei dem Brand im Nachbarhaus des Tacheles | |
verloren, wo er damals wohnte. Heute arbeitet er als Grafikdesigner. | |
Das Tacheles aber ist heute das Pompeji der Temporären Autonomen Zone | |
Mitte. Davor steht der Polizist der Geschichte und ruft: "Gehen Sie bitte | |
weiter, meine Herrschaften. Hier gibt es nichts mehr zu sehen." | |
12 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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