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# taz.de -- Bilanz ein Jahr Schwarz-Gelb: Der Herbst der Kanzlerin
> Erst wirkte die Regierung konfus, jetzt finster entschlossen. Merkel
> macht dabei eine neue Erfahrung: Sie hat keine internen Rivalen mehr.
> Aber ein machtpolitisches Problem.
Bild: Nicht mal mehr so populär wie Trittin: Kanzlerin Angela Merkel.
BERLIN taz | Angela Merkel bringt den Satz nicht richtig zu Ende. "Wenn ich
jetzt schon wieder höre, was da alles gebarmt wird, wenn das im März nicht
klappt. Hätte, wäre, würde", ruft sie der Berliner CDU-Basis zu. Ein paar
hundert Christdemokraten sind gekommen, um bei dieser Regionalkonferenz die
Kanzlerin zu hören. Sie wissen genau, was gemeint ist, und applaudieren
ordnungsgemäß.
Im März wird die CDU vielleicht in Baden-Württemberg nach 57 Jahren
abgewählt. Das wäre mehr als nur eine Niederlage bei einer Landtagswahl. Es
wäre ein Zeichen, dass auch die letzte Volkspartei, die CDU, in einer
individualisierten Gesellschaft ausfranst. Viele Stammwähler bleiben zu
Hause, die Wechselwähler wenden sich von ihr ab, die Mitgliederzahlen
schwinden. Was die SPD schon hinter sich hat, steht der Union bevor.
All das wischt Merkel mit diesem dreifachen Konjunktiv von sich weg. Sie
muss es. Merkels Machtposition ist unbedrängt. Ihre möglichen Rivalen sind,
von Merz bis Koch, von der Bühne abgetreten. Doch wenn Stefan Mappus in
Stuttgart verliert, wird auch der Boden unter ihr wackeln. Zum ersten Mal
wird Merkel, die Physikerin der Macht, die kühl abwägt, was funktioniert
und was nicht, ein wirkliches Problem haben.
Dass Bundesregierungen Landtagswahlen verlieren, ist nicht ungewöhnlich. Es
ist Teil des bundesrepublikanischen Systems von checks and balances, eine
fast rituelle Machtbeschneidung der Zentralgewalt durch das Wahlvolk. Aber
selten hat eine Regierung so jäh an Renommee verloren wie diese in den
vergangenen zwölf Monaten. Vor einem Jahr war Merkel die beliebteste
Politikerin im Land, auch sozialdemokratische Wähler wollten sie als
Kanzlerin. Derzeit liegt sie im Politikerranking hinter Jürgen Trittin.
Dieser Absturz lag auch am Anfangschaos der Koalition. CSU und FDP
bekämpften sich mit einer Energie, die das bürgerliche Publikum verstörte.
Man hatte von Schwarz-Gelb zumindest ordentliches Handwerk erwartet. Doch
vor allem die FDP neigte zur Hysterie: Sie hatte ihrer Klientel
Steuersenkungen und "Durchregieren" versprochen - doch dafür war nach der
erfolgreichen keynesianischen Antikrisenpolitik und der hohen
Staatsschulden kein Raum. Das begriff die rasch schwindende Zahl von
liberalen Wählern viel eher als Guido Westerwelle, der das Kunststück
fertig brachte, sich als erster deutscher Außenminister seit 1949 im
eigenen Land unbeliebt zu machen.
Außerdem war das erste halbe Jahr aus einem kühl berechneten Grund konfus:
Schwarz-Gelb stritt sich, weil man kaum regierte. Man regierte nicht, weil
alles Schwierige, von Sparpaket bis AKW, auf die Zeit nach der NRW-Wahl im
Mai verschoben wurde. Merkel hielt sich heraus. Es war auch ein Attentismus
aus Kalkül.
Nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen hat das Merkel-Lager den "Herbst
der Entscheidungen" erfunden. Ab jetzt wird durchregiert, lautete die
Ansage. Mitte August erschien im Spiegel wie bestellt ein in üblicher Prosa
verfasster Text: "Als Angela Merkel in den Dolomiten wandern war, reifte
bei jedem Schritt über das Kalkgestein die Erkenntnis, dass sich ihre
Regierung grundlegend ändern muss", war dort zu lesen
Seither probiert Merkel ihre neue Rolle: Sie schwebt nicht mehr präsidial
über den Niederungen der Tagespolitik, sondern versucht sich als
Heerführerin des schwarz-gelben Lagers. In der Haushaltsdebatte Mitte
September wetterte sie gegen grüne und linke Fortschrittsfeinde, die gegen
Stuttgart 21, neue Stromleitung und überhaupt alles seien. Die
Unionsfraktion tobte vor Begeisterung. Jetzt verlautbart sie auch, dass
"Multikulti absolut gescheitert" sei. In ihren Reden gibt es viel Wir und
Die, viel Abgrenzungsrhetorik.
Solche Sätze begeistern die CDU-Basis. Allerdings wirkt sie dabei wie
jemand, der ein neues Kostüm probiert, das nicht passt. Auf jeden
migrantenkritischen Satz folgt mit der Präzision eines Uhrwerks einer, der
das Gegenteil signalisiert. Sie spielt gewissermaßen Seehofer und Wulff in
einem. Der Politologe Gerd Langguth glaubt: "Das Konservative in der Union
ist ihr eigentlich fremd. In ihrem Herzen ist sie noch immer Anhängerin
einer großen Koalition." Mittig, pragmatisch, moderat.
Mag sein. Doch die schwarz-gelbe Politik ist anders. Die drei großen
Projekte - Gesundheitsreform, AKW-Laufzeitverlängerung, Hartz IV - sind
nicht mittig und nicht moderat. Mit der Laufzeitverlängerung werden die
Energiekonzerne mächtiger und einflussreicher als je zuvor. Die
Gesundheitsreform entlastet Arbeitgeber und belastet Arbeitnehmer.
Lobbyisten stehen in der Regierung viele Türen offen, noch mehr als früher.
Und Hartz-IV-Empfänger kriegen wenig Geld, dafür aber mehr öffentlichen
Druck.
Die Bundesregierung ist in diesem Herbst nicht mehr wegen interner
Streitereien unbeliebt, sondern weil Merkel & Co. tun, was sie im
Koalitionsvertrag angekündigt haben. Laut Infratest dimap wollen 80 Prozent
nicht, dass für künftige Kostensteigerungen bei der Gesundheit nur die
Arbeitnehmer zahlen, mehr als die Hälfte ist gegen die Laufzeitverlängerung
von AKWs.
Nur die Mini-Erhöhung der Hartz-IV-Sätze findet Wohlwollen. Dort treibt die
Union die SPD, die Hartz IV ja erfunden hat, nicht ungeschickt vor sich
her. Alkohol und Tabak aus dem Regelsatz herauszunehmen und die
Hartz-IV-Empfänger im Subtext so kollektiv zu Säufern zu machen hatte eine
bösartige Cleverness. Dass der von manchen Aktivisten prophezeite "heiße
Herbst" ausblieb, vermerkt man in der CDU-Zentrale durchaus. In den
Hartz-IV-Quartieren von Berlin-Neukölln bis Hamburg-Wilhelmsburg herrscht
offenbar politische Apathie.
Für einen Abgesang auf Schwarz-Gelb ist es zu früh. Nichts spricht dafür,
dass Schwarz-Gelb vor 2013 aufgibt. Schon weil die Alternative, Neuwahlen,
allzu erschreckend ist.
Der Ernstfall für Merkel wird der bürgerliche Protest gegen Stuttgart 21 im
März. Wenn Baden-Württemberg verloren geht, wird das ihre erste
existenzielle machtpolitische Krise. Die Zeit ihrer unangefochtenen
Alleinherrschaft in der Union dürfte damit vorbei sein. Es wird keine
Revolte geben, das nicht. "Die CDU", so der Politologe Langguth, "ist keine
Partei mit einer Putschtradition." Außerdem wird ja vor allem der streng
konservative Mappus die Wahl verlieren - einem möglichen Aufstand von
rechts gegen die liberale Merkel nimmt schon das erheblich an Schwung.
Aber das Unbehagen, das sich in dem bizarren Kult um Karl Theodor zu
Guttenberg zeigt, nimmt zu. Auch in der Unionsfraktion, in der schon erste
Überlegungen für den worst case kursieren sollen. Wenn es irgendwo knallen
wird, dann in der Fraktion. Denn die Unions-Parlamentarier haben ein reges
Interesse daran, auch nach der nächsten Wahl wieder im Bundestag zu sein.
"Angela Merkel", sagt Gerd Langguth, "weiß, warum sie an fast jeder
Fraktionssitzung teilnimmt."
25 Oct 2010
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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