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# taz.de -- Debatte Stuttgart 21: Das Labor von Stuttgart
> Die Regierungen und Parlamente müssen lernen, dass sie nicht immer das
> letzte Wort haben. Der Weg führt von der Zuschauer- zur
> Teilhabedemokratie.
Bild: Auch die "Stuttgart 21"-Befürworter haben die Straße als Forum entdeckt…
Im Konflikt um Stuttgart 21 wird eine zentrale Frage unserer Verfassung neu
verhandelt: die Spannung zwischen repräsentativer Demokratie und
Bürgerprotest. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagt das
Grundgesetz. Aber was, wenn die Staatsmacht gegen den Willen eines
Großteils der Bürgerschaft steht?
Der brachiale Polizeieinsatz vom 30. September war ein Wendepunkt: Statt
ihre Autorität gewaltsam durchzusetzen, setzte sich die Landesregierung
vollends ins Unrecht. In einer modernen Demokratie reicht es eben nicht
aus, wenn die Regierung über eine parlamentarische Mehrheit plus
Polizeihundertschaften verfügt, um die Anerkennung ihrer Entscheidungen zu
erzwingen.
"Der Widerstand gegen eine demokratisch getroffene Entscheidung ist
undemokratisch" - dieses Verdikt verkürzt die Volkssouveränität darauf, die
politische Macht an gewählte Repräsentanten zu delegieren, die fortan die
alleinige Entscheidungsgewalt innehaben. Nach dieser Logik ist
demokratisch, was von gewählten Mehrheiten beschlossen wurde, basta.
Wir leben aber nicht mehr in einer Basta-Demokratie, den 68ern sei Dank.
Die Leute nehmen die Sonntagsreden vom mündigen Bürger ernst. Sie geben
sich nicht mehr damit zufrieden, alle paar Jahre die Inhaber der
politischen Gewalt zu wählen. Wer gewählt wird, hat ein politisches Mandat,
aber keinen Blankoscheck.
Preis der Sturheit
Es zeichnet eine lebendige Demokratie aus, dass Legitimation nicht nur über
Verfahren entsteht, sondern einer kritischen Öffentlichkeit standhalten
muss. Die Bürger beanspruchen inzwischen ein Vetorecht gegen Beschlüsse der
politischen Gremien.
Die geregelte Form dieses Vetos ist der Volksentscheid, mit dem
parlamentarische Mehrheiten ausgehebelt werden können. Das haben wir gerade
in Hamburg erlebt. Die ungeregelte Form ist der außerparlamentarische
Protest. Wenn er genügend Rückhalt in der Gesellschaft hat, kommt die
Regierung in ein Dilemma: Entweder sie bläst rechtzeitig zum Rückzug oder
sie zahlt bei der nächsten Wahl einen hohen Preis für ihre Sturheit.
Die Frage, wo politisches Stehvermögen in Arroganz umschlägt, hängt an
vielen Faktoren: an der Glaubwürdigkeit, mit denen eine Regierung ihre
Sache vertritt, an der Stichhaltigkeit ihrer Argumente und ihrer
Dialogfähigkeit mit den Kritikern. Es gibt Entscheidungen, für die eine
parlamentarische Mehrheit ihre Abwahl riskieren muss, und es gibt
Situationen, bei denen Sturheit zur Torheit wird.
Das ist regelmäßig der Fall, wenn eine einmal eingeschlagene Politik durch
völlig veränderte Umstände überholt wird. So ist es der FDP mit ihrem
Steuersenkungsmantra ergangen. So geht es auch den Betreibern von Stuttgart
21, einem Projekt, das finanziell wie verkehrspolitisch aus der Zeit
gefallen ist. Wenn vierzigtausend Menschen in Stuttgart "Lügenpack" rufen
und damit die gewählten Repräsentanten der Stadt und des Landes meinen, ist
etwas faul im Staate Dänemark.
Arroganz der Macht
Es beschädigt die Demokratie, wenn sich im Volk der Eindruck verfestigt,
dass politisches Engagement gegen die Arroganz der Macht keine Chance hat.
Wenn Regierungen sich verrannt haben, zeigt sich politische Weisheit in der
Kunst des Rückzugs.
Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte das begriffen,
als er den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben für "politisch
nicht durchsetzbar" erklärte. Er entschied sich dafür, den Landfrieden
wiederherzustellen - ein altertümlicher, aber hoch aktueller Begriff. Der
Landfrieden kann nämlich nicht nur von protestierenden Bürgern gebrochen
werden, sondern auch von Regierungen.
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 wirkt als Vitaminstoß für die Demokratie.
Sie ermutigt, sich einzumischen, Partei zu ergreifen, Bürgerrechte
wahrzunehmen, auf die Veränderbarkeit der Politik zu setzen. All das ist
ein Gegengift zur schleichenden Erosion der Demokratie, zur Abwendung der
Bürger von den Institutionen, zum Legitimationsverlust von Parlamenten und
Regierungen.
Genau diese Tendenzen beschrieb der britische Politikwissenschaftler Colin
Crouch mit dem Begriff der "Postdemokratie": Die demokratischen
Institutionen bleiben bestehen, aber hinter den Fassaden bröckelt die
Substanz, die Distanz zwischen politischer Klasse und Gesellschaft wächst,
die Demokratie wird zu einer bloßen Formsache.
Die Zweifel wachsen, ob Parteien, Parlamente und Regierungen in der Lage
sind, zukunftsverantwortliche Politik zu betreiben statt bloß auf die
nächste Wahl zu schielen. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass die
Parteienkonkurrenz um Wählerstimmen eine Tendenz erzeugt, das langfristig
Notwendige auf dem Altar kurzfristiger Vorteile zu opfern. Stimmenfang
durch fahrlässige Versprechen, Flucht in die Staatsverschuldung,
populistische Demagogie sind Gebrechen des parteipolitischen Betriebs, die
wir nur allzu gut kennen. Gleiches gilt für den Einfluss finanzstarker
Lobbys auf die Gesetzgebung.
Wenn staatliche Politik als verlängerter Arm von Konzern- oder
Verbandsinteressen erscheint, sät sie Misstrauen und Verachtung.
Legitimes Korrektiv
Die Zustimmung zur Demokratie ist nicht für alle Zeit garantiert. Sie muss
in jeder Generation erneuert werden. Die Republik schaut auf Stuttgart,
weil dort erprobt wird, wie das gehen kann. Der Weg führt von der
Zuschauer- zur Teilhabedemokratie.
Verwaltungen müssen lernen, Eigensinn und Sachkompetenz der Bürger nicht
als Störfaktor, sondern als produktive Kraft zu begreifen. Regierungen und
Parlamente müssen lernen, dass sie nicht immer das letzte Wort haben. Man
muss nur das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beim Wort nehmen:
Das Volk übt seine souveräne politische Macht in Wahlen und Abstimmungen
aus. In Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen liegt gewiss keine höhere
Weisheit. Aber sie sind ein legitimes Korrektiv, wenn sich die Mehrheit der
Bevölkerung in der Politik ihrer Repräsentanten nicht mehr wiederfindet.
Und sie können den Weg aus einer politischen Sackgasse weisen - wie jetzt
in Baden-Württemberg.
25 Oct 2010
## AUTOREN
Ralf Fücks
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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