# taz.de -- Debatte Arabische Revolution: Die Türkei ist kein Vorbild | |
> Die Türkei wird jetzt als Vorbild für die arabische Welt gehandelt. Aber | |
> die Ägypter haben Besseres verdient als weichgespülte Muslimbrüder. | |
Bild: Türkische Sicherheitskräfte vor einer Moschee in Ankara. | |
Was folgt aus der arabischen Revolution? Was wird aus Libyen, was aus dem | |
US-Flugzeugträger Bahrain? Nach dem Triumph der Protestbewegungen in | |
Ägypten und Tunesien müssen dort neue Strukturen entwickelt werden, damit | |
ein demokratischer Machttransfer überhaupt stattfinden kann. Erst wenn | |
dieser mühsame und überaus gefährliche Prozess erfolgreich abgeschlossen | |
ist, werden wir wissen, ob man von einer geglückten Revolution sprechen | |
kann. | |
Vielfach wird den Menschen im Nahen Osten derzeit empfohlen, sich die | |
Türkei zum Vorbild zu nehmen. Das scheint auf den ersten Blick plausibel. | |
Gemessen an den Maßstäben des Nahen Ostens, ist die Türkei eine | |
funktionierende Demokratie und ein Rechtsstaat. Das Land besitzt eine | |
säkulare Verfassung, erprobte Institutionen und kann auf eine erfolgreiche | |
wirtschaftliche Entwicklung zumindest in den letzten zehn Jahren verweisen. | |
Und: Ihre Bewohner sind zu 98 Prozent Muslime. | |
Darüber hinaus wird die Türkei von einer islamischen Partei regiert. Die | |
AKP von Tayyip Erdogan ist eine Partei, die versucht hat, die Türkei in die | |
EU zu bringen, und diesen Versuch bis heute - zumindest offiziell - noch | |
nicht aufgegeben hat und die es geschafft hat, das Militär in die Schranken | |
seiner Kasernen zu verweisen. | |
Das ist mit Blick auf Ägypten besonders wichtig. Denn die größte Gefahr, | |
die der demokratische Revolte dort droht, ist, dass das Militär die Macht, | |
die es jetzt allein innehat, nicht wieder aus der Hand gibt. | |
## Wie man das Militär einhegt | |
Genau betrachtet, besteht die Vorbildfunktion der Türkei also darin, dass | |
sie nicht einfach nur eine Demokratie ist, sondern eine muslimische | |
Regierung besitzt, die eine jahrzehntelang dominierende Armee | |
zurechtgestutzt hat und das Primat der Politik vor dem Militär durchsetzen | |
konnte. Das ist nicht wenig. Trotzdem kann man die ägyptischen und | |
tunesischen Demokraten nur davor warnen, dem Vorbild Türkei zu folgen. Denn | |
tatsächlich sind sie der Zeit im Vergleich zur Türkei weit voraus. | |
Die revoltierenden Menschen in Arabien haben etwas geschafft, was ihnen | |
weltweit niemand zugetraut hätte und auch die Türken nie zustande gebracht | |
haben: Sie haben sich erfolgreich gegen einen Diktator und ein despotisches | |
System erhoben. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben eine | |
Stunde null eingeläutet, mit der in Ägypten eine neue Zeitrechnung beginnt. | |
Für den Übergang zur Demokratie haben sie es gar nicht nötig, sich an der | |
Türkei zu orientieren. Denn auch wenn die Menschen in Ägypten mehrheitlich | |
Muslime sind - Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und | |
soziale Rechte sind universelle Werte, Werte, für die die Menschen in | |
Ägypten gekämpft haben und die keines muslimischen, christlichen, | |
buddhistischen oder anderen religiösen Vorzeichens bedürfen. | |
Man sollte deshalb die Unterschiede zwischen der Türkei und den arabischen | |
Ländern beachten. Die Erfolgsgeschichte der türkischen AKP begann in einem | |
Land, das am Boden lag und in dem die Mehrheit der Menschen völlig | |
demoralisiert war. | |
Gut zwei Jahre vor der demokratischen Machtergreifung der AKP, 1999, war | |
das Land von einem schweren Erdbeben getroffen worden, das fast 50.000 | |
Todesopfer forderte und rund um das Marmarameer den industriellen Kern des | |
Landes teilweise zerstörte. Nicht zuletzt dieses Erdbeben war | |
mitverantwortlich für die schwerste Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung, | |
die die türkische Republik 2001 erlebte. | |
## Vom Erdbeben erschüttert | |
Bei den Wahlen 2002 wurden all jene Parteien und Politiker, die es nicht | |
geschafft hatten, auf das Erdbebenfolgen angemessen zu reagieren, und das | |
Land anschließend in die Wirtschaftskrise geführt hatten, abgewählt - keine | |
der damals im Parlament vertretenen Parteien überlebte die Wahl. | |
Stattdessen kam die AKP, weil sie eine Antisystempartei war, nicht zum | |
Politklüngel gehörte, entsprechend als nicht korrupt galt und mit Tayyip | |
Erdogan einen charismatischen Führer besaß. Dass die AKP ursprünglich dem | |
politischen Islam entstammte, war allen Umfragen nach nur für den kleineren | |
Teil ihrer Anhänger ein Grund, sie zu wählen. Die Mehrheit wählte sie aus | |
Verzweiflung über den Mangel an Alternativen und nahm dabei den islamischen | |
Background mehr oder weniger notgedrungen in Kauf. | |
## Keine Putschgefahr mehr | |
Die AKP war zwar von Beginn an den Angriffen des Militärs und ihm | |
nahestehender Kreise ausgesetzt. Doch eine echte Putschgefahr, wie die | |
Partei sie immer wieder beschwor, gab es nie. Ein Putsch wäre einfach nicht | |
mehr möglich gewesen. | |
Die Türkei hing völlig am internationalen Tropf, während ihre Wirtschaft in | |
die globalisierte Ökonomie integriert war. Vor allem aber hätten die USA | |
und die EU, anders als beim Putsch 1980, die Putschgeneräle nicht mehr | |
unterstützt. | |
Der Kalte Krieg war vorbei, eine Militärdiktatur hätte keinerlei | |
internationale Unterstützung gehabt, der IWF hätte keinen Kredit mehr | |
gegeben, und das Land wäre innerhalb weniger Wochen pleite gewesen. Das | |
wusste der Generalstab, weswegen er Putschpläne unterer Ränge nicht mehr | |
unterstützte, und das wusste die AKP-Spitze. | |
Der Kampf der AKP ist vor allem der Kampf einer neuen, islamischen Elite | |
gegen die alten Eliten der Republik. Wenn es stimmt, dass Freiheit auch | |
immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, dann spielt Freiheit in dieser | |
Auseinandersetzung nur eine sehr geringe Rolle. | |
Den Menschen in Ägypten wird die AKP nicht aus demokratischen, | |
freiheitlichen Erwägungen als Vorbild empfohlen, sondern weil sie aus Sicht | |
der USA und einiger europäischer Vordenker im Vergleich zu einer | |
islamisch-fundamentalistischen Strömung das kleinere Übel darstellt. | |
Da die USA selbst nicht mehr darauf hoffen können, selbst im Nahen Osten | |
als Vorbild gesehen zu werden, geht es nach Auffassung der außenpolitischen | |
Strategen jetzt darum, das Modell Erdogan gegen das Modell Chomeini zu | |
propagieren. | |
Warum aber die kostbare Stunde null an ein kleineres Übel verschwenden? Die | |
Demokraten vom Tahrir-Platz haben etwas Besseres verdient als eine | |
weichgespülte Variante der Muslimbrüder. | |
28 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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