# taz.de -- Debatte zur Integration: Muslimisierung der Muslime | |
> Im Alltag der meisten Muslime ist der Glaube nicht dominant. Aber in der | |
> Fremde wird er für viele eine Form der persönlichen Sinnstiftung. | |
Bild: Das Kopftuch anlegen als Ausdruck der Suche nach Identität. | |
Mit der Frage, ob ich eine "richtige Muslimin" sei oder nur eine | |
"Kulturmuslimin", werde ich seit dem 11. September häufig konfrontiert. Auf | |
meine Rückfrage, was denn ein "richtiger Muslim" sei, bekomme ich zumeist | |
zur Antwort: "Richtige Muslime" beten fünfmal am Tag, tragen ein Kopftuch | |
und fasten im Monat Ramadan. Kulturmuslime hingegen sind "nur" in einem | |
islamischen Umfeld sozialisiert worden, der Islam ist aber in ihrem | |
alltäglichen Leben nicht mehr das allein prägende Moment. | |
Nach dieser Definition bin ich eines sicher nicht, eine Kulturmuslimin. Ich | |
habe eine katholische Grundschule besucht, habe an der Schulmesse | |
regelmäßig teilgenommen, durfte dort oft die Fürbitten vortragen, weil ich | |
so schön lesen konnte. Ich bin groß geworden mit der Kinderbibel von Anne | |
de Vries. Meine Eltern hielten es für wichtig, dass ich möglichst viel über | |
die Religion der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiß. Nicht, dass man mir | |
den Koran für Kinder nicht gerne vorgelesen hätte. Aber seinerzeit gab es | |
keine ordentliche deutsche Fassung für Kinder. So war ich lange Zeit | |
weitaus bibelfester als koranfest. Keine Kulturmuslimin also, doch auch | |
keine richtige Muslimin? | |
## Glaube im Alltag | |
Dass der Islam eine Religion ist, die den Alltag seiner Gläubigen prägt und | |
bis ins Detail hinein bestimmt, hört man im Westen häufig. Allein, es ist | |
so nicht zutreffend. Denn auch im Alltag von zig Millionen Muslimen in der | |
islamischen Welt und Europa spielt die Religion keine allzu dominante oder | |
ausschließlich wegweisende Rolle. Deswegen würden sie sich aber dennoch als | |
richtige, im Sinne von gläubigen Muslimen bezeichnen. Sie glauben an Gott | |
und seinen Propheten, an die Auferstehung, an die Gerechtigkeit als dem | |
wichtigsten Attribut Gottes. Trotzdem lassen sie auch schon mal das eine | |
oder andere Gebet ausfallen. Und dies ist kein Phänomen der Moderne, | |
sondern Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften. | |
Die meisten Muslime sind im säkularen Rechtsstaat durchaus schon seit | |
einiger Zeit angekommen. Das meint zumindest Heiner Bielefeldt, der in | |
Erlangen lehrt. In seiner Publikation "Muslime im säkularen Rechtsstaat" | |
heißt es: "Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber dem säkularen Staat ist in | |
Deutschland jedoch offenbar Sache einer radikalen Minderheit unter den | |
Muslimen. Die Mehrheit hingegen scheint sich mit den bestehenden | |
Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert zu haben." | |
Was bedeutet Muslimen dann aber das Kopftuch, das spätestens an dieser | |
Stelle immer als Beweis für die mangelnde Integrationsbereitschaft von | |
Muslimen angeführt wird? Spannende Untersuchungen dazu kommen aus | |
Frankreich und stammen von der Soziologin Nilüfer Göle. Sie kommt zu dem | |
Schluss: Oft ist das Anlegen des Kopftuchs nur Ausdruck der Suche nach der | |
eigenen Identität. Religion sei ganz schlicht für viele Muslime eine Form | |
der persönlichen Sinnstiftung in der Fremde. | |
## Motive der Rückbesinnung | |
Ein weiterer Grund für die Rückbesinnung auf eine religiöse Identität | |
dürfte die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft auf Ausländer, die Muslime | |
sind, sein. "Man kann nicht Deutscher werden" - dieses Fazit haben viele | |
Migranten aus den Islamdebatten der letzten Jahre gezogen. Meist folgen | |
Geschichten von Menschen, die sich voll integriert haben, die etwas | |
geworden sind in diesem Land, die etwas tun wollten für dieses Land, und | |
die sich nun in einer Mischung aus Stolz und Beleidigtsein zurückziehen. | |
Warum? Weil der deutsche Kommunalpolitiker türkischer Herkunft gefragt | |
wird, warum seine "Landsleute denn diesen Erdogan gewählt haben". Oder weil | |
mir gesagt wird: "Dass du Professorin für Islamwissenschaft bist, ist ja | |
auch naheliegend bei deiner Nationalität." Konfrontiert mit dieser Haltung | |
meinen viele, sie müssten sich auf eine andere, auf ihre angeblich eigene | |
kulturelle Identität besinnen. Nach dem Motto: Wenn ihr uns nicht haben | |
wollt, dann eben nicht. So werden sie nationalistischer als Türken, die in | |
der Türkei leben, und halten fest an einem Islam, der sich in den meisten | |
Ländern der islamischen Welt längst den Gegebenheiten der Moderne angepasst | |
hat. | |
## Denken in Doppelidentitäten | |
Oder wieso sagt mein Vater, der einen deutschen Pass hat und sich in der | |
deutschen Politik und der deutschen Sprache besser auskennt als viele | |
seiner deutschen Nachbarn, noch nach vierzig Jahren, ich bin Iraner. Heute | |
bin ich mir sicher: Es liegt nicht an ihm. Seine Verwandten, die in die USA | |
immigriert sind, bezeichneten sich nach kürzester Zeit schon als | |
Amerikaner. Dabei halten sie nicht weniger an ihrer iranischen Identität | |
fest, zu der auch der Islam gehört, als mein Vater, doch nimmt man sie in | |
den USA an mit ihrer Doppelidentität - und macht so allertreuste Amerikaner | |
aus ihnen. Dagegen herrscht hier immer noch das Denken vor, | |
Doppelidentitäten könne es nicht geben und man würde an ihnen zerbrechen - | |
zumal, wenn es sich um zwei angeblich so unvereinbare handelt wie die | |
europäische und die orientalisch-islamische. | |
So führt die Art und Weise der hier stattfindenden Diskussion über die | |
Muslime erst dazu, sich selbst überhaupt als Muslim wahrzunehmen. Denn auch | |
Menschen wie ich fühlen sich vor den Kopf gestoßen angesichts der Arroganz | |
und Unverschämtheit, mit der über unsere Religion gesprochen und geurteilt | |
wird. Für mich ist sie schließlich die Religion meiner Großeltern, die uns | |
Werte vermittelt hat, die so schlecht nicht sein können. Nicht erst Europa | |
hat aus ihrem Sohn, meinem Vater, einen aufgeklärten, liberalen, | |
demokratischen Menschen gemacht. Das war er schon, bevor er nach Europa | |
kam. | |
Statt permanent über die Integrationsfähigkeit der Muslime zu | |
schwadronieren, sollte man Rechtsgehorsam von ihnen fordern - und sie | |
alsdann in Ruhe lassen. Ob sie die neuerdings viel beschworenen | |
christlich-jüdischen Werte und Traditionen verinnerlicht haben, kann man eh | |
nicht überprüfen, auch bei den Naturdeutschen nicht. Es wäre also in der | |
Tat hilfreich, dass Grundgesetz nicht auch noch christlich-jüdisch zu | |
taufen, wie der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde bemerkt hat. | |
Denn damit schwächt man gerade den Rechtsgehorsam. | |
25 Feb 2011 | |
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