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# taz.de -- Migrationsforscher über Identitäten: "Die Linke wurde überrollt"
> Wo sind die linken Denker in der Debatte über das Buch von Thilo
> Sarrazin? Erstarrt in Schockstarre und Selbstblockade, sagt der Berliner
> Migrationsforscher Klaus J. Bade.
Bild: Geliebte Integration, gelebte Identität: Pärchen in Berlin.
taz: Herr Bade, die Debatte über Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft
sich ab" ist gerade abgeklungen. Weshalb hat man rückblickend ständig das
Gefühl, dass das linke Milieu irgendwie versagt hat?
Klaus J. Bade: Unverkennbar gab es eine Schockstarre, als die ersten
Artikel mit der Vorankündigung von aggressiven sozialbiologistischen
Denunziationen über "die" Integration "der" Muslime platziert wurden. Und
das, nachdem der Sachverständigenrat erst drei Monate zuvor nachgewiesen
und belegt hatte, dass Integration viel besser ist als ihr Ruf. Viele
konnten einfach nicht glauben, dass so ein Text im Jahr 2010 so eine
Breitenwirkung erzielt.
Das war im Grunde wie damals bei der Konfrontation mit der Neuauflage von
"ethnischen Säuberungen" in Exjugoslawien und dem Schock von Srebrenica:
Viele registrierten ungläubig, wie dünn der Firnis der "modernen"
Zivilisation sein kann über dem angeblich längst überwundenen Grauen von
ethnobiologistischen Feindbildern - und das alles mitten in Europa am Ende
des 20. Jahrhunderts. In der Sache kann man Sarrazins Buch damit nicht
vergleichen, wohl aber in seiner Schockwirkung auf das Milieu, das Sie "die
Linke" nennen.
Hat die Linke Sarrazin unterschätzt?
Sicher. Viele dachten, jetzt entlarvt sich das bürgerliche Milieu in seinem
eigenen Zerrspiegel. Mit diesen "neorassistischen Thesen" ist doch kein
Staat zu machen, jetzt zerfleischen die sich selber. Das war eine
Fehleinschätzung.
Und was kam nach der Schockstarre und der Fehleinschätzung?
Die mediale Wucht war ungeheuerlich. Alle wollten mit Sarrazin ihre
Auflagen steigern. Journalistische Sorgfaltspflicht war da oft nur lästig.
Die bekannten Verdächtigen der publizistischen Desintegrationsindustrie und
viele Trittbrettfahrer wähnten sich an der Spitze einer neuen bürgerlichen
Bewegung, die mal wieder die schweigende Mehrheit repräsentiert. Die
sogenannte Linke wurde überrollt, reagierte eher mit dem Rücken an der
Wand, anstatt das Thema offensiv für sich zu besetzen …
Wie meinen Sie das?
Es wurde Denunziation gegen Denunziation gestellt. Man hat Sarrazin mit der
Rassismuskanone wegzublasen versucht. Dann hat man mit Entsetzen
festgestellt, dass das Wasser auf die Mühlen der rechtspopulistischen
Agitation war, erkennbar an dem Satz: "Man wir doch wohl noch sagen dürfen
…" Thilo Sarrazin ist eben weder ein Rassentheoretiker reinsten Wassers
noch ein dumpfer Neonazi.
Wer das behauptet, macht es sich zu leicht. Es sind vielmehr die fließenden
Grenzen zwischen nüchternen Bestandsaufnahmen, pointierter Polemik,
Halbwahrheiten und sozialbiologistischen Interpretationen, die dieses Buch
so gefährlich machen. Es vermittelte überdies vielen Lesern das wohltuende
Gefühl, als geborene Deutsche kulturell im Vorteil zu sein. Nein, das nur
selten bediente Königsargument der sogenannten Linken hätte die soziale
Lage der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sein müssen.
Der entscheidende Faktor ist also die soziale Milieuzugehörigkeit eines
Menschen?
Wenn es um Integrationsfragen geht, eindeutig ja. Bildung und Ausbildung,
im weitesten Sinne soziales Kapital und Chancengleichheit bei seinem
Einsatz, das sind die entscheidenden Dimensionen. Muslimische Migranten in
der neuen Unterschicht sind doch genau so eine soziale Realität wie die
ebenfalls muslimische Elitenzuwanderung aus dem Iran oder aus Afghanistan.
Das hat alles nichts mit Religion zu tun.
Und auch Sarrazins scheindemografische These von der gefährlichen
muslimischen Lendenstärke im Innern und der muslimischen Invasion von außen
ist doch Unsinn. Da hat er die Statistik gezielt "getürkt"; denn die
Geburtenkurve flacht ab, und die Abwanderung aus Deutschland in die Türkei
ist seit Jahren viel stärker als die Zuwanderung von dort. All diese Fakten
hätte man von Beginn an stärker betonen müssen.
Ist das denn nicht geschehen?
Durchaus. Ich habe es auch selber sogleich versucht, aber ich stand damit
eine Weile ziemlich allein auf weiter Flur und wurde von der
publizistischen "Achse des Guten" nach allen Regeln der Kunst durch den
Kakao gezogen. Naika Foroutan hat die Sachlage jetzt mit ihrer Studie
"Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" umfassend ausgeleuchtet. Sie belegt in
wesentlichen Punkten, was ich von Beginn an gesagt habe: Was wahr ist, ist
oft nicht neu, und was neu ist, ist oft nicht wahr.
Aber glauben Sie wirklich, dass das reicht? Geht es in dieser Debatte nicht
auch um Überfremdungsängste und die Suche nach einer neuen nationalen
Identität?
Niemand sagt, dass das reicht. Natürlich geht es auch um diese Fragen. Die
Muslime werden en bloc als die Inkarnation des Fremden konstruiert. Das hat
viel mit ethnonationalen Denktraditionen in diesem Land zu tun. Man muss
endlich lernen, dass die Identität eines Menschen die Summe seiner
Teilidentitäten ist. Die Rede von "den Muslimen" ist, so betrachtet, nichts
als die Verabsolutierung einer Teilidentität. Ich bin Christ. Aber ich
verbitte mir entschieden, dafür denunziativ in Sippenhaftung genommen zu
werden. Die Grundwerte unserer Verfassung geben uns das Recht auf diese
Vielfalt. Und die ändert sich dauernd. Nur die Grundwerte selbst stehen
außerhalb jeder Disposition.
Aber dieser Verfassungspatriotismus zieht nicht mehr, das sind doch alles
kalte und rationale Argumente. Wo bleibt die emotionale Besetzung der
Nation? Hat die Linke in Deutschland nicht ein Problem mit dem Begriff der
Nation?
Dazu sage ich entschieden Jein: Auf der einen Seite gibt es die berühmte
"German Disease", die im Ausland immer wieder aufs Neue Irritationen
auslöst: Alle paar Jahre fragen sich die Deutschen in kollektiver
Selbstsuche, wer sie denn eigentlich sind. Auf der anderen Seite gibt es
bei der sogenannten Linken sicher eine Selbstblockade gegenüber der
"Leitkulturdebatte". Man kann den Begriff wechseln, aber man muss da durch.
Eine Einwanderungsgesellschaft, die sich scheut, eine Werte- und
Identitätsdebatte zu führen, kriegt auf die Dauer ein Problem.
Was heißt das konkret?
Man muss die eigenen Spielregeln in menschenfreundlicher Prosa benennen
können, wenn ein Einwanderungswilliger fragt: Worum geht es eigentlich in
deinem Land? Jeder Amerikaner kann dann darauf in seiner Alltagssprache
eine Handvoll Antworten geben. Die Deutschen suchen im Regal nach dem
Grundgesetz. Mehr Alltagswissen über die großartigen Grundwerte unserer
Verfassung wäre schon ganz hilfreich.
Fehlt es der Linken an Mut in der Integrationsdebatte?
Mut und Wut sind keine politischen TÜV-Kriterien. Aber die sogenannte Linke
könnte gelegentlich mal deutlicher sagen, was gut oder im internationalen
Vergleich sogar sehr gut läuft in diesem Land. Man muss ja nicht immer
gleich schwer atmend auf irgendwas "stolz" sein. Aber man sollte endlich
mit dem Rücken weg von der Wand und angreifen. Man sollte die Vielfalt in
der Einheit betonen, sie als unerhörtes und kompromisslos zu verteidigendes
Gut präsentieren. Eine sogenannte Linke, die die Einwanderungsgesellschaft
mit ihren Begriffen kritisch, aber positiv und, wenn es denn der
Identitätsfindung dient, von mir aus auch "emotional" besetzt, wäre eine
realistische Alternative zu dem Sarrazinom mit seinen wuchernden
Metastasen.
Jetzt wird gespannt ein Buch erwartet, in dem der FAZ-Feuilletonchef
Patrick Bahners die Sarrazin-Debatte reflektiert. Schon wieder ein
Konservativer. Wo sind die linken Denker in der Debatte?
Originär "linke" Positionen und Argumente fehlen in dieser Debatte nach wie
vor. Mag sein, dass für viele die Sarrazinade ein klebriges Ekelgebräu ist.
Aber man kann sich nicht nur mit Argumenten auseinandersetzen, die von
rationaler Ästhetik sind, sonst beherrschen irgendwann die Fliegenfänger
das Land.
1 Feb 2011
## AUTOREN
Alem Grabovac
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