# taz.de -- Grundgesetz oder Scharia in Deutschland: Goldmünzen für die Exfrau | |
> Um ihren Wählern zu gefallen, versichern deutsche Politiker gern und oft, | |
> hierzulande sei kein Platz für islamisches Recht. Doch das ist falsch. | |
Bild: Deutsche RichterInnen lesen den Koran. Und besonders im Familien- und Erb… | |
Nouredin war die Liebe ihres Lebens. 32 Jahre hätten sie eine wunderbare | |
Ehe geführt, erzählt Rosemarie N., "ich würde alles dafür tun, damit er | |
wieder zurück ins Leben kommt". Kennen gelernt haben sich die beiden 1970 | |
in einer Münchener Kneipe, seitdem seien sie immer zusammen gewesen. | |
Getrennt wurden sie erst durch seinen plötzlichen Tod im März 2010. | |
Was die 67-Jährige nicht wusste: Stirbt ein Ehepartner, der keinen | |
deutschen Pass hat, gilt in Deutschland das Erbrecht seines Heimatlandes. | |
Sechs Wochen nach der Beerdigung ihres Mannes, eines Iraners, teilte das | |
Münchner Amtsgericht Rosemarie N. mit, dass in ihrem Fall das | |
iranisch-islamische Recht gelte. Also die Scharia. | |
Danach stünde der Münchnerin nur ein Viertel des Erbes zu, drei Viertel | |
gingen an die sieben Schwager und Schwägerinnen in Teheran.Die Scharia? In | |
Deutschland? Wo doch PolitikerInnen immer wieder betonen, hier gebe es kein | |
islamisches Recht? Schon 2004 mahnte die Unions-Politikerin Rita Süssmuth: | |
"In Deutschland gibt es keinen Ort für die Scharia." Innenminister Thomas | |
de Maizière (CDU), Jurist und Leiter der Islamkonferenz, ist der Meinung: | |
"Religiös geprägte Rechtsordnungen haben im deutschen Rechtssystem keinen | |
Platz." Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) urteilte knapp und scharf: | |
"Es gilt bei uns das Grundgesetz und nicht die Scharia." Aber das stimmt in | |
dieser Absolutheit nicht. | |
Denn deutsche Gerichte wenden in einzelnen Fällen des Zivilrechts sehr wohl | |
die Scharia an - im Privat-, Aufenthalts-, Miet und Sozialrecht, besonders | |
aber im Familien- und Erbrecht wie bei Rosemarie N. Deutsche RichterInnen | |
beziehen meist dann ausländisches Recht mit ein, wenn für einen Fall keine | |
hiesige Rechtsnorm existiert. Und sie tun das vor allem dann, wenn eine | |
Benachteiligung eines Betroffenen droht. | |
Beispiel: Frauen, die im Herkunftsland eine polygame Ehe eingegangen sind, | |
könnten hierzulande Unterhalt geltend machen. Der Gedanke dahinter: Die | |
Frauen sollen in Deutschland nicht dafür benachteiligt werden, dass | |
Polygamie in ihrem Heimatland erlaubt ist, hier aber nicht. | |
Ein anderes Beispiel: Wenn eine deutsche Staatsbürgerin mit einem | |
ägyptischen Staatsbürger verheiratet ist und die beiden einen Streit vor | |
einem Zivilgericht ausfechten, kann es sein, dass islamisch geprägtes Recht | |
angewendet wird. | |
Immer wieder berufen sich deutsche Richter auf das islamische Recht. So hat | |
2000 das Bundessozialgericht in Kassel die Klage einer Marokkanerin mit dem | |
Verweis auf die Scharia abgelehnt. Die Witwe hatte sich geweigert, die | |
Rente ihres Mannes mit der Zweitfrau zu teilen. Dass Oberverwaltungsgericht | |
in Koblenz hat 2004 auch der Zweitfrau eines Irakers eine | |
Aufenthaltsbefugnis zugestanden. Nach fünf Jahren Ehe in Deutschland sei es | |
ihr nicht zuzumuten, allein in den Irak zurückzugehen. | |
Und in Köln wurde ein Iraner dazu verurteilt, nach der Scheidung 600 | |
Goldmünzen an seine Exgattin zu zahlen. | |
Der Erlanger Islamwissenschaftler Mathias Rohe erklärt, das Nebeneinander | |
der Rechtssysteme sei Ausdruck der Globalisierung. "Wir wenden islamisches | |
Recht genauso an wie französisches", sagt er. Während etwa Kanada für seine | |
Einwanderer keine ausländischen Rechtsregeln zulässt, ist die deutsche | |
Justiz großzügiger - solange islamische Rechtsauslegungen nicht der | |
öffentlichen Norm und den Grundrechten zuwiderlaufen. | |
So hat ein Amtsrichter in Bottrop die nach islamischen Recht durchgeführte, | |
einseitige Scheidung eines marokkanischen Paares abgelehnt, weil der Mann | |
seine Frau einfach verstoßen hatte. Das afrikanische Gesetz benachteilige | |
die Frau, lautete die Urteilsbegründung. Das widerspreche deutscher | |
Rechtsnorm. Deshalb gelte hier das Scheidungsprozedere nach dem | |
bürgerlichen Gesetzbuch. | |
Rosemarie N. und ihr Mann hatten vom Einfluss der Scharia auf die deutsche | |
Justiz keine Ahnung. Dass Paar wurde auch nicht über eventuelle | |
Schwierigkeiten aufgeklärt, als sie 1996 beim Nachlassgericht ein Testament | |
hinterlegten, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben einsetzten. Ihr | |
Mann habe seinen persischen Pass vorzeigen müssen, erzählt Rosemarie N. | |
Niemand habe sie gewarnt. Das Paar glaubte, in Deutschland gelte | |
ausschließlich deutsches Recht. | |
Beim Aufeinandertreffen verschiedener Rechtssysteme entstehen immer | |
Grauzonen und Gestaltungsspielräume, die manchmal bizarr ausgelegt werden. | |
Mit dem Verweis auf den Koran hat 2007 eine Familienrichterin in Frankfurt | |
einem prügelnden marokkanischen Ehemann ein "Züchtigungsrecht" zugestanden | |
und eine vorzeitige Scheidung von seiner Frau abgelehnt. Das Urteil sorgte | |
bundesweit für Aufregung. Antimuslimische Aktivisten sahen sich in ihrer | |
These von der Islamisierung der deutschen Justiz bestätigt. Die damalige | |
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) beeilte sich, schleunigst von | |
einem Einzelfall zu reden. | |
Denn die Einführung der Scharia gehört zu den Schreckgespenstern der | |
hiesigen Islamdebatte. Viele Europäer verbinden mit der Scharia grausame | |
Strafen, die tatsächlich einige wenige islamische Länder - wie zum Beispiel | |
der Sudan - anwenden. | |
Doch meist hat die Scharia nur wenig mit der Vorstellung von abgehackten | |
Händen und Gesteinigten zu tun, wie sie aus Afghanistan, Iran oder | |
Saudi-Arabien bekannt sind. | |
Die Scharia ist kein Gesetzbuch, sondern eine Methode der Rechtsauslegung. | |
Rechtsgelehrte entscheiden aufgrund dessen, was zu einem bestimmten Fall im | |
Koran steht, was der Prophet dazu gesagt hat und wie andere Gelehrte bisher | |
geurteilt haben. Dementsprechend sind die Interpretationen höchst | |
unterschiedlich. Im Iran gültige Scharia-Auslegungen können in Marokko als | |
Scharia-widrig gelten und umgekehrt. | |
In England ist die Integration der Scharia Realität. Schiedsgerichte und | |
Scharia-Räte regeln in vielen Städten zivilrechtliche Streitigkeiten | |
zwischen gläubigen Muslimen. Seit 2007 gibt es dort das "Muslim Arbitration | |
Tribunal" (MAT) für Familien-, Erbschafts- und Handelsstreitigkeiten mit | |
einer Handvoll Schlichtungsstellen in England und Wales. Die Schiedssprüche | |
des Tribunals sind vor Gericht durchsetzbar. | |
Das sind die Entscheidungen der inoffiziellen Sharia Councils nicht. Zwölf | |
existieren in Großbritannien, sie wirken bei der Aushandlung islamischer | |
Eheverträge mit oder schlichten familiäre Streitigkeiten. Hinzu kommen noch | |
ein Dutzend kleinerer, inoffizieller islamischer Räte, bei denen der Imam | |
einer örtlichen Moschee das letzte Wort hat. | |
Das Großbritannien diesen Weg gegangen ist, hat unter anderem mit der | |
Herkunft der dort lebenden Muslime zu tun. Die Mehrheit stammt aus Indien | |
und Pakistan - aus Gegenden, in denen die Rechtsauslegung per Scharia schon | |
eine sehr lange Tradition hat. | |
In Deutschland hingegen kommen die meisten der vier Millionen Muslime aus | |
der Türkei. Die hat sich schon 1926 mit der Übernahme des Schweizer | |
Zivilgesetzbuchs ausdrücklich von der traditionellen muslimischen | |
Rechtsprechung abgewendet. | |
Im Fall Rosemarie N. gilt in Deutschland iranisches Recht und - weil noch | |
genauer entsprechend der Religionen differenziert wird - konkret | |
islamisch-schiitisches Recht. | |
Nutznießer dieser Auslegung wären die drei Brüder und vier Schwestern ihres | |
Mannes. Nach hiesigem Recht stünde der Münchnerin hingegen alles zu. | |
Deshalb kämpft Nicola Mayerl für Rosemarie N. Die Anwältin sagt, Frauen | |
würden nach iranischem Recht immer weniger als ein Mann erben. Das verstoße | |
gegen den Gleichheitsgrundsatz. Mit diesem Argument will Mayerl den Erbteil | |
von nur einem Viertel für Rosemarie N. zumindest verdoppeln. | |
Durch einen Zugewinnausgleich nach dem deutschen Güterrecht will die | |
Anwältin ihrer Mandantin sogar drei Viertel des Erbes sichern. In einem | |
vergleichbaren Fall hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf 2008 der Frau | |
den doppelten Erbteil zugesprochen. | |
Rosemarie N. muss jetzt warten, bis das Gericht entscheidet. Sie sagt, es | |
gehe ihr gar nicht um das Geld, davon sei ohnehin nicht allzu viel da. | |
Sondern ums Prinzip. Sie fühlt sich ungerecht behandelt. Dass die Scharia | |
hier angewendet werden könne, habe sie einfach nicht wissen können. | |
21 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
## TAGS | |
Ägypten | |
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