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# taz.de -- Edzard Reuter über die Wende in BaWü: "Ein sehr solider Neubeginn"
> Der Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter über die Kretschmann-Regierung, die
> neuen Chancen für Baden-Württembergs Wirtschaft – und wie das neue Profil
> seiner Partei, der SPD, aussehen muss.
Bild: "Vertreter der Wirtschaft agieren oft kurzfristig."
taz: Herr Reuter, müssen wir davon ausgehen, dass in Stuttgart bald nur
noch Tretautos gebaut werden?
Edzard Reuter: Das denke ich nicht. Mit Herrn Kretschmann an der Spitze
wird eine außerordentlich vernünftige, bedachtsame Regierung an der Macht
sein. Natürlich wird das Bündnis versuchen, eigene Politiken durchzusetzen,
aber sie werden bedachtsam sein und Rücksicht nehmen auf die gewachsenen
Strukturen des Landes.
Gerade aus der Wirtschaft gibt es viele Stimmen, die den Untergang des
Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg durch die neue Energie- und
Umweltpolitik der Regierung heraufbeschwören. Diese Bedenken teilen Sie gar
nicht?
Ich halte das schlankweg für Quatsch. Natürlich sind die Vertreter der
Wirtschaft traditionell immer darauf ausgerichtet, ihre Interessen zu
wahren. Entsprechend kurzfristig agieren sie oft. Ich sehe aber überhaupt
keinen Anlass, wegen der Energiepolitik Befürchtungen zu haben oder
irgendwelche dramatischen Folgen zu erwarten.
Welche Auswirkungen wird der Regierungswechsel auf das Rückgrat des Landes
haben, den Mittelstand?
Es ist ein Neubeginn, ein sehr solider Neubeginn. Man wird mit Sicherheit
Wert darauf legen, mit den Mittelständlern im Gespräch zu bleiben und die
mittelständischen Sichtweisen zu respektieren und wahrzunehmen. Das wird
eine gute Chance zum Dialog, zu einer neuartigen Kommunikation, die sich ja
in weiten Teilen der Bundesrepublik, aber auch in Baden-Württemberg, allzu
sehr auf die großen Bosse der großen DAX-Gesellschaften beschränkt hat.
Welche Auswirkungen wird die zu erwartende Energiepolitik auf den
Mittelstand haben?
In Baden-Württemberg gibt es schon zahlreiche Mittelständler, die sich im
regenerativen Energiebereich bewegen. Das ist ja die Kraft dieses Landes:
kreativ sein, schöpferisch sein und sich mit harter Arbeit nach vorne
arbeiten. Das wird ganz neue Chancen eröffnen, absolut.
Herr Kretschmann tritt ein sehr schweres Erbe an. Die Stichworte sind:
Stuttgart 21 und EnBW. Wie lange geben Sie dieser Koalition?
Ich gebe der Koalition durchaus die volle Wahlperiode.
Sie selbst sind in der SPD. Ihre Partei konnte trotz der unglaublich
schlechten Performance von CDU und FDP nicht von der Wahl profitieren.
Woran liegt das?
Viele Wähler, die im Unterschied zur vorangegangenen Wahl jetzt wieder
wählen gegangen sind, haben natürlich die richtige Adresse, nämlich die
Grünen, gewählt. Und nicht, wie sie es früher vielleicht traditionell mal
getan haben, die SPD. Die SPD befindet sich, wie alle großen Parteien in
unserem Lande, im Wandel. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie wieder
zu einer Partei wird, die an der Spitze steht.
Was muss die SPD dafür tun?
Sie muss wieder ein klares Profil bekommen. Man muss wissen, was sie
eigentlich will. Und nicht zuletzt muss sie sich auch personell so
aufstellen, dass jüngere Menschen Verantwortung tragen wollen – in einer
anderen Form, als das früher traditionell eingeübt worden ist.
Wie sollte dieses neue SPD-Profil aussehen?
Bildungsorientiert, jung, dynamisch, auch fortschrittsgläubig – was aber
nicht heißen darf, mit Scheuklappen nur auf die Technik zu setzen. Eines
unserer großen Probleme ist ja, dass wir uns zu sehr den Ingenieuren
ausgesetzt haben und immer glaubten, was rechenbar ist, ist auch richtig
und muss und kann dann auch gemacht werden. Unsere Gesellschaft ist viel
komplexer geworden. Die SPD muss die verschiedenen Stränge der
gesellschaftlichen Entwicklung verkörpern. Das heißt auch Vielfalt, nicht
immer nur ausgerichtet sein auf eine Meinung.
Werden diese von Ihnen angemahnten Reformprozesse mit dem Spitzenduo
Steinmeier/Gabriel möglich sein?
Das hoffe ich sehr. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Neuausrichtung der
SPD erst im Oktober 2010 begonnen hat. Der Prozess ist eingeleitet, aber da
muss noch viel getan werden.
Die SPD scheint nun zum ersten Mal Juniorpartner unter den Grünen zu
werden. Was bedeutet das für das Selbstverständnis Ihrer Partei?
Ich denke nicht, dass das unser Selbstverständnis so sehr tangieren wird.
Grundsätzlich muss auch die SPD lernen, dass wir eine neue Konstellation in
der Bundesrepublik haben. Wir haben vier oder fünf Parteien, die in den
Parlamenten vertreten sind, da kann man nicht immer nur an der Spitze
stehen. Im Mittelpunkt muss stehen, welche sachlichen Politiken umsetzbar
sind – und dann kann man auch mal Juniorpartner sein. Das darf dann
allerdings nicht bedeuten, der Schwanz am Hund zu sein, wie die FDP das
derzeit in der Regierungskoalition ist.
Inwieweit ist dieser Wählerauftrag Baden-Württemberg-spezifisch?
Rot-Grün, Grün-Rot – das kann ich auch andernorts sehen. Bis hin zur
Bundespolitik ist das selbstverständlich denkbar.
Würden Sie die Grünen als Volkspartei bezeichnen?
Was auch immer man heutzutage überhaupt noch als Volkspartei beschreiben
kann, das ist ein kompliziertes Thema. Aber die Grünen sind offensichtlich
eine Partei, die auf breiter Basis Wählerstimmen bekommen kann. Und das
wird für einige Zeit auch so bleiben. Auch diese Partei wird sich
weiterentwickeln.
Wie stark ist der Wahlausgang durch die Vorkommnisse in Japan beeinflusst?
Ich glaube, der Aufruf, eine Energiewende einzuleiten, wurde keineswegs nur
durch Fukushima ausgelöst. Er trifft eine breite Überzeugung, die sich
immer weiter und stärker in der Wählerschaft der Bundesrepublik
durchgesetzt hat und sich auch über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus
durchsetzen wird. Energiewende heißt ja, zu regenerativen Energien zu
kommen, und das ist eine unausweichliche Entwicklung, die auch die
Wirtschaft wird akzeptieren müssen.
In welchem Zeitraum ist Ihrer Einschätzung nach ein Ausstieg aus der
Atomenergie realistisch?
Da bin ich kein Experte. Aber ein Ausstieg wird natürlich nicht von heute
auf morgen gelingen, das wäre auch ganz falsch. In einem Zeitraum von zehn
Jahren muss das aber eigentlich möglich sein.
Nehmen Sie der Bundesregierung ihr Versprechen, diese Energiewende
nachhaltig zu betreiben, ab?
Teilen der Bundesregierung nehme ich das ab.
Welchem Teil der Bundesregierung?
Der Bundeskanzlerin, die ja in vielerlei Hinsicht sehr durch ihre eigene
technische Erziehung geprägt ist. Der nehme ich ab, dass sie nun
tatsächlich, endlich, durch diesen Vorgang in Japan gemerkt hat, dass das
bisherige Vertrauen auf die rein technischen Annahmen, unsere Anlagen seien
sicher, nicht stimmt. Ich nehme ihr ab, dass sie wirklich bereit ist, neu
zu denken. Aber weite Teile ihrer Partei sind davon noch weit entfernt.
Wenn Deutschland tatsächlich den Ausstieg aus der Atomenergie vollzieht,
welche Signalwirkung wird davon für andere Länder ausgehen?
Ich weiß nicht, ob Deutschland nun die Welt zum Guten oder Schlechten
führen kann. Am deutschen Wesen muss ja nicht die Welt genesen. Aber ich
glaube, zusammen mit den Ereignissen in Japan wird eine deutsche
Entscheidung unausweichlich Konsequenzen für andere Länder haben. Das wird
sich stufenweise entwickeln. Die Österreicher haben ja generell keine
Atomenergie und drängen auf ein Ende dieser Ära. Auf der anderen Seite
stehen unsere französischen Nachbarn. Hier wird es länger dauern. Und es
wird schwieriger werden. Aber ich glaube, die Tendenz zum Ausstieg, die ist
vorhanden. Ich bin immer hoffnungsvoll, dass Deutschland ein gutes Beispiel
sein kann. Auch wenn es das in letzter Zeit gerade im außenpolitischen
Bereich nicht unbedingt bewiesen hat.
Man hat den Eindruck, dass sich die Wirtschaftsspitzenleute immer weiter
von den Parteien entfremden. Wie könnten Sie wieder mehr Nähe zur
Wirtschaft und mehr Wirtschaftskompetenz in Ihrer Partei erreichen?
Nun, Nils Schmid hat erhebliche wirtschaftliche und finanzpolitische
Kompetenz. Er ist solide, nachdenklich, er schießt nicht aus der Hüfte.
Grundsätzlich müssen wir vorsichtig sein mit der Definition von
Wirtschaftskompetenz. Es geht ja nicht darum, Fachleute in die Politik zu
bringen, sondern es geht darum, Leute mit Sachverstand in der Politik zu
haben. Und das heißt nicht, dass man, um politisch aktiv zu sein, erst
einmal irgendwo Vorstandsvorsitzender gewesen sein muss.
Aber gleichwohl ist doch eine große Entfremdung zwischen Wirtschaft und
Politik auszumachen – nicht nur bei Ihrer Partei, oder?
Beide müssen zweifellos lernen, dass die Zeiten sich geändert haben.
Entscheidend dafür ist aber das ehrliche Gespräch, und darum muss man sich
ernsthaft bemühen.
30 Mar 2011
## AUTOREN
Ines Pohl
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