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# taz.de -- Debatte Atomlobby: Stresstest für Atomgegner
> Die Atomlobby reorganisiert sich. Soll die Anti-AKW-Bewegung in der
> Auseinandersetzung mit ihr etwa auf Maximalziele verzichten? Verhandeln?
> Bloß nicht!
Bild: Jochen Stay beim Castor 2010 nach mehreren Protest-Tagen bei der Einfahrt…
Wenn PolitikwissenschaftlerInnen in Zukunft ein Beispiel brauchen, um zu
erläutern, was unter einem "Window of Opportunity" zu verstehen ist, dann
werden sie die Zeit der andauernden japanischen Reaktorkatastrophe nennen.
Denn für die gesellschaftlichen Kräfte, die seit Jahrzehnten gegen die
Nutzung der Atomenergie kämpfen, sind diese Wochen und Monate eine
einmalige Gelegenheit, ihren Zielen näher zu kommen.
Trotzdem ist die Stimmung unter uns AtomkraftgegnerInnen derzeit nicht
euphorisch, sondern eher gedrückt. Das liegt daran, dass es extrem bitter
schmeckt, mit seinen Warnungen recht behalten zu haben. So gesehen ist
diese Zeit auch ein "Stresstest" für alle Menschen, die sich aktiv gegen
die Atomenergie einsetzen. Das Entsetzen über die Situation in Japan mischt
sich mit der einmaligen Möglichkeit, hiesige AKWs stillzulegen.
Dass sich die Parteien in Deutschland scheinbar gegenseitig darin
überbieten, wer schneller aussteigen will, hat viel damit zu tun, dass
bereits in den letzten zwei Jahren Hunderttausende gegen den Weiterbetrieb
der Atomkraftwerke auf die Straße gegangen sind. Die Laufzeitverlängerung
im letzten Herbst gegen allen Protest und innerparteiliche Widerstände
durchzusetzen war eine Kraftanstrengung, die die Bundesregierung nicht so
einfach wegsteckt. Die Stromkonzerne hatten das Optimum für sich rausgeholt
- genau deshalb ist jetzt kaum noch Spielraum für ihre Interessen.
## Die Atomlobby schlägt zurück
Trotzdem wird sich die Atomlobby in den nächsten Wochen zurückmelden. Noch
sind die Argumente eher absurd: Spiegel Online schrieb neulich, gegen einen
Ausstieg spräche, dass es noch kein Endlager für den Atommüll gibt. In der
FAZ war zu lesen, alle AKWs stillzulegen käme teuer, weil die Abrisskosten
so hoch sind. Und das Handelsblatt warnte vor dem Super-GAU, wenn durch zu
viele stillgelegte AKWs das Stromnetz zusammenbricht und so die Kühlung der
nachglühenden Reaktorkerne ausfallen könnte.
Auch werden die Nachrichten aus Japan bald nach hinten rücken – nicht, weil
sich die Situation in Fukushima entspannt, sondern weil die Katastrophe
irgendwann an Neuigkeitswert verliert. Und dann wittern die AKW-Betreiber
ihre Chance, um zu retten, was zu retten ist. Die eigentliche
Auseinandersetzung steht uns also erst noch bevor.
Mit dem Moratorium versucht die Bundesregierung, Zeit zu gewinnen. Auch,
dass sie eine Reaktorsicherheitskommission und eine Ethikkommission berufen
hat, dient diesem Zweck. Denn die aktuelle Dynamik der atompolitischen
Debatte ist so gewaltig, dass niemand mehr voraussagen kann, welche
Reaktoren am Ende noch am Netz sein werden.
## SPD wird von der FDP überholt
Das macht es auch uns AtomkraftgegnerInnen so schwer, den Hebel an der
richtigen Stelle anzusetzen, um das Optimale zu erreichen. Deutlich wird
dies exemplarisch, wenn die SPD inzwischen aufpassen muss, in ihren
Forderungen nicht von der FDP überholt zu werden. Alle Seiten fragen sich,
um welche Reaktoren zu kämpfen jetzt besonders lohnt.
Muss sich der Fokus darauf richten, die sieben vom Moratorium betroffenen
AKWs plus Krümmel vom Netz zu halten und vor allem um diese die Schlacht
mit der Atomlobby zu schlagen? Oder sind die sowieso schon aufgegeben und
es wäre wichtiger zu fragen, warum eigentlich die beiden
Siedewasser-Reaktoren im bayerischen Gundremmingen noch am Netz sind,
obwohl sie dem AKW Fukushima so sehr ähneln? Muss um die Gefährdung durch
Flugzeugabstürze auf die Alt-Meiler mit dünnen Hüllen noch gestritten
werden? Oder gilt es vielmehr zu betonen, dass auch die Kuppeln der
neuesten AKWs einem vollbetankten Airbus nicht standhalten können?
Schon machen Szenarien die Runde, in wie vielen Jahren ein kompletter
Atomausstieg organisiert werden soll. Greenpeace sagt bis 2015, die Grünen
meinen bis 2017, und der WWF will sich bis 2020 Zeit lassen. Doch all diese
Konzepte basieren letztlich auf der gleichen "Es wird schon gut
gehen"-Haltung, die ja auch die Atompolitik der Bundesregierung bisher
prägte.
Aus Sicht der Anti-AKW-Bewegung ist die Forderung klar: Es geht nicht
darum, was energiewirtschaftlich möglichst reibungslos, sondern was
aufgrund der Risiken nötig ist. Fukushima zeigt überdeutlich, dass der
Super-GAU in jedem Atomkraftwerk passieren kann - also müssen auch alle 17
deutschen AKWs sofort vom Netz.
## Totalausstieg am besten sofort
Selbst wenn der komplette Ausfall der Atomstromkapazitäten kurzfristig
nicht völlig ohne Nachteile zu organisieren sein sollte, bleibt er
notwendig. Schließlich lässt sich die Gesellschaft auch auf Einschränkungen
in der Mobilität ein, wenn aufgrund von Sicherheitsmängeln die ICE-Flotte
oder die Berliner S-Bahn ausfällt.
Die Regierung hat das Zeitfenster bis zur Entscheidung definiert, da das
Moratorium am 15. Juni endet. Für aktive AtomkraftgegnerInnen bedeutet
dies, dass wir uns auf einen anstrengenden, aber chancenreichen Frühling
einstellen sollten. Selten waren Proteste so wirkungsmächtig wie in diesen
Tagen, da die Bundesregierung atompolitisch schlingert. Das Wechselspiel
zwischen dem schrittweisen Nachgeben der Kanzlerin und den weiter
anschwellenden Anti-AKW-Protesten ist beeindruckend.
Daraus ableiten lässt sich eine einfache Wenn-dann-Verknüpfung: Wenn in den
nächsten Wochen weiterhin so viele Menschen auf die Straße gehen wie
zuletzt, wenn es den AktivistInnen gelingt, auch in den Bevölkerungskreisen
zu mobilisieren, die sich bisher noch nicht zur montäglichen Mahnwache in
vielen hundert Städten trauen, wenn die Demonstrationen am Ostermontag an
fast allen Atomkraftwerken ähnlich beeindruckend werden wie zuletzt in den
vier größten deutschen Städten, wenn sich Mitte Juni Tausende an den
angekündigten AKW-Blockaden beteiligen, dann ist noch viel mehr möglich,
als "nur" die Stilllegung der acht ältesten AKWs.
Nie war es für AtomkraftgegnerInnen also lohnender, sich zu engagieren. Die
Zeiten, in denen es vielen fraglich erschien, ob die Teilnahme an einer
Demonstration politisch etwas bewirkt, sind jedenfalls vorbei.
4 Apr 2011
## AUTOREN
Jochen Stay
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
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