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# taz.de -- Autor Ben Jelloun über "Arabischer Frühling": "Islamistische Soft…
> Der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun spricht
> über die demokratische Volksbewegung, das Recht zum Tyrannenmord und den
> Laizismus der globalisierten Jugend.
Bild: Von Revolten verschont: Demonstration in Marokko.
taz: Herr Ben Jelloun, in Ihrem Buch "Arabischer Frühling" erzählen Sie die
dramatische Geschichte des Tunesiers Mohamed Bouazizi. Dessen
Selbstverbrennung wurde zum Auslöser der Revolution in Tunesien und leitete
den "arabischen Frühling" ein. Was hat diese Tragödie bewirkt?
Taher Ben Jelloun: Niemand hat vorhergesehen, was passiert ist. Wenn aber
ein Volk lange genug unterdrückt wird und nichts mehr zu verlieren hat,
kommt es zur Explosion. Aber ich wollte verstehen, was vorher passiert ist.
Darum erzähle ich in meinem Buch die Geschichte von Mohamed Bouazizi: Wie
kam dieser junge Mann, der eine Familie ernähren musste, dazu, den Freitod
zu wählen, der nicht zur arabischen und muslimischen Tradition gehört. Ein
Übermaß an Demütigungen hat für ihn das Fass zum Überlaufen gebracht. Und
als dies bekannt wurde, haben alle sich betroffen gefühlt und sich mit ihm
identifiziert. Fast unbewusst haben sie sich gesagt, das soll nicht umsonst
geschehen sein. Ich meine, das war wie aus einer Art Überlebenstrieb, dass
die Leute dann das Joch der Unterdrückung abwerfen wollten.
Dennoch wusste man, dass diese Länder seit Langem Pulverfässer glichen?
Das wusste man und hat in vielen Büchern und Artikeln geschrieben. Doch es
hat nichts genutzt! Ich habe Tunesien unter Ben Ali besucht und war
schockiert von diesem Polizeistaat, in dem jeder dem anderen misstraute.
Ich hab auch darüber geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass es in
Tunesien beginnen würde. Ich dachte, dass Ägypten als Erstes explodieren
würde.
Warum das?
Wenn man nach Kairo kam und diese Menschenmengen sah mit dieser
schrecklichen Armut und zwei Millionen, die in einem Friedhof, in der
"Stadt der Toten" leben, sagte man sich: Das muss explodieren. Trotzdem war
es dann das kleine Tunesien, das den Weg zeigte.
In Tunesien und Ägypten wurden die Diktaturen gestürzt. Die demokratische
Volksbewegung ist damit nicht mehr aufzuhalten?
Natürlich gibt es viel Ungeduld. Die Leute erhoffen von Revolution, dass
sie Arbeit bekommen oder von einem Tag auf den andern das Doppelte
verdienen. Beunruhigend sind Vorfälle wie die Ermordung koptischer Christen
in Ägypten oder die Zwischenfälle bei Demonstrationen in Tunesien. Aber
solche Rückschläge sind nicht überraschend. Aber was auf Dauer stärker sein
wird, das ist die zurückgewonnene Würde. Das ist wichtiger als der ganze
Rest. Die Leute werden nie mehr hinnehmen, dass ein Beamter sie erniedrigt,
foltert und mit dem Stiefel tritt.
Hat nicht die islamische Revolution im Iran im Gegenteil gezeigt, dass auf
den Sturz eines Diktators neue Repressionsformen folgen können?
Im Fall des Iran kam effektiv nach dem Folterregime des Schahs das
Folterregime der Ajatollahs. Ich möchte in Tunesien und Ägypten auch eher
von Revolten und nicht von Revolutionen sprechen, das heißt, von einer
spontanen, ein wenig irrationalen Explosion ohne eigentliches Programm. Mit
ihrer neuen Verfassung werden die Tunesier und Ägypter ihr Programm erst
gestalten, und das ist gut so. Dabei werden auch Fehler und
Ungerechtigkeiten passieren, das ist unvermeidlich.
Werden die islamistischen Bewegungen oder andere Extremisten von dem
derzeitigen Vakuum profitieren?
Nein, der Islamismus hat in diesen Revolten einen Rückschlag erlitten. Er
ist nicht verschwunden. Aber er stand nicht hinter diesen Aufständen und
war nicht tonangebend. Die Parolen der Islamisten interessierten niemanden.
Das ist fundamental. Was bleibt ihnen nun zu tun? Sowohl in Tunesien als
auch in Ägypten werden sie sich in die demokratische Ordnung und Legalität
einordnen müssen und zu Parteien werden wie andere auch. Sie werden die
Menschen nicht weiter terrorisieren können, um sie mit Gewalt ins Jahr 500
zurückzuführen. Wie ich schon einmal sagte: Die islamistische Software hat
ausgedient.
Ist das nicht zu optimistisch? Wie sieht es auf dem Land aus?
Zur städtischen jungen Internetgeneration möchte ich zunächst sagen: Manche
von ihnen sind für die Revolte gestorben, das war kein Spiel. Die alten
Parteien und Apparate haben den Anschluss zum Volk verpasst. In Libyen
kämpfen auch Junge, die aus Nordamerika oder Europa in ihr Land
zurückkehrten. Auch das ist etwas Neues für die arabische Welt: Mit dieser
globalisierten Jugend kommt die Laizität.
Andere Junge suchen ihr Glück im Gegenteil: in einer Flucht nach Europa?
Das ist ein Drama. Manche ertrinken bei der Überfahrt. Europa sollte
Tunesien und Ägypten sehr rasch mit Investitionen unterstützen. Die
Kooperation muss intensiviert werden, um diesen Ländern Selbstvertrauen und
den Jungen die Zuversicht zu geben, Arbeit zu finden.
In Libyen und Syrien setzen sich die alten Regimes mit skrupelloser Gewalt
zur Wehr. Hat man Gaddafi unterschätzt? Brauchte es die Intervention von
außen?
Die Intervention findet statt, aber sie ist partiell und kam spät. Wenn die
UNO ihre Zustimmung früher gegeben hätte, wäre die Zahl der
Repressionsopfer geringer geblieben. Gaddafi kämpft jetzt, um seinen Kopf
zu retten. Er kann nirgendwohin flüchten. Er ist nicht von der Art, um wie
Ben Ali in Saudi-Arabien um Asyl zu bitten. Er ist ein pathologischer Fall,
er tötet Menschen ohne Gewissen, wie man Ameisen ausmerzt. Er muss gestoppt
werden. Ich denke da an ein Kommando wie jenes, das bin Laden beseitigt
hat. Ich fühle mich wie in einem schlechten Western, wo der Böse und
Brutale triumphiert.
Dann müsste man auch in Syrien intervenieren?
Die UNO muss eine aktivere und dynamischere Rolle spielen. Ein Staat wie
Syrien, der jeden Tag mit Panzern auf die Menschen schießen lässt, muss aus
der Gemeinschaft der Vereinten Nationen ausgeschlossen und geächtet werden.
Völkerrechtlich ist eine Einmischung nicht evident.
Die Amerikaner haben sich auch nicht vorher bei der UNO die Erlaubnis
eingeholt, bin Laden zu eliminieren und ins Meer zu werfen. Trotzdem sind
wir alle erleichtert. Wenn morgen ein libysches Kommando Gaddafi tötet,
wäre das sehr gut.
Mit dem Attentat von Marrakesch hat der islamistische Terror Marokko
erreicht. Ändert bin Ladens Tod etwas an der Bedrohung?
Ich bin ziemlich sicher, dass der Typ, der die Bombe in dieses Café gelegt
hat, nicht von bin Laden beauftragt war. Er hat vielleicht Hilfe von
al-Qaida erhalten. Das war jemand, der das selbst geplant hat, um in
Al-Qaida-Kreisen als Held zu gelten. So jemand ist ernsthaft psychisch
gestört. Was für ein Programm soll das sein, Ausländer oder Einheimische zu
töten, die Tee trinken?
Werden infolge des Attentats in Marokko die eingeleiteten Reformen
verzögert und die Repression wird zunehmen?
Nein, das glaube ich nicht. In Marokko wurde seither gegen den Terrorismus
und für die Fortsetzung der Reformen demonstriert. König Mohamed VI. wird
nicht zurückkrebsen. Marokko bekommt eine neue Verfassung.
Wie erklären Sie es, dass Marokko im Vergleich zu Tunesien trotz mehrerer
Demonstrationen so ruhig bleibt?
Mohamed VI. hat in den letzten zehn Jahren einiges bewegt. Er hat das
Familiengesetz geändert und die Archive für die Opfer der Diktatur während
der Herrschaft seines Vaters geöffnet. Und er hat die Infrastruktur
ausgebaut. Natürlich kann auch er nicht die Arbeitslosigkeit wegzaubern.
Aber er tut wirklich etwas und ist deshalb beliebt und populär.
Dennoch wird auch in Marokko demonstriert.
Die Jungen sind wachsam. Sie fordern schnellere Reformen, aber ihre
Kundgebungen sind friedlich und verantwortungsbewusst.
Oft hört man: Der König soll herrschen, aber nicht regieren.
Eine konstitutionelle Monarchie wäre sicher nicht das Schlechteste. Das
Komitee zur Ausarbeitung der neuen Verfassung wird Ende Juni seinen Entwurf
vorlegen, danach werden Wahlen organisiert.
Als marokkanisch-französischer Doppelbürger, der auf beiden Seiten des
Mittelmeers lebt: Was halten Sie von den innerfranzösischen Debatten um den
Islam?
Man sollte aufhören, von Franzosen maghrebinischer Herkunft zu reden. Man
ist entweder Franzose oder nicht. Frankreich muss es akzeptieren, dass
seine Bevölkerung multikulturell ist und verschiedene Ursprünge hat. Das
ist ein Reichtum. Die überwiegende Mehrheit der Muslime ist in Frankreich
gut integriert und verlangt nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden.
Ich bleibe ein Marokkaner in Marokko, in Frankreich fühle ich mich als
Franzose. Das ist ein Plus, mehr auch nicht.
## "Arabischer Frühling - Vom Wiedererlangen der arabischen Würde". Berlin
Verlag, Berlin 2011, 128 Seiten, 10 Euro
21 May 2011
## AUTOREN
Rudolf Balmer
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