# taz.de -- Angst vor illegaler Einwanderung: Das Märchen von der Flüchtlings… | |
> Nach den arabischen Revolutionen fürchteten Politiker eine | |
> Flüchtlingswelle "biblischen" Ausmaßes. Die statistische Wirklichkeit | |
> sieht harmloser aus. | |
Bild: Flüchtlinge bei der Ankunft in Genua. In Deutschland kommen gerade einma… | |
POTSDAM taz | Der bayerische Innenminister tobte. Notfalls werde man die | |
Grenzen eben wieder dichtmachen, drohte der CSU-Politiker Joachim Herrmann | |
Anfang April. | |
Damals hatte Italien angekündigt, die vor allem von Tunesien aus auf der | |
Mittelmeerinsel Lampedusa anlandenden Flüchtlinge mit befristeten und für | |
fast ganz Europa gültigen Sondervisa auszustatten - und kurze Zeit später | |
tatsächlich damit begonnen. Weil man den "biblischen Exodus" aus Nordafrika | |
ansonsten angeblich nicht bewältigen könne, lautete die zweifelhafte | |
Begründung der Regierung Berlusconi. Deutsche Medien titelten: "Berlin | |
fürchtet Flüchtlingswelle aus Italien." | |
Gut einen Monat später stellt sich heraus: Es gibt keine Welle, noch nicht | |
mal ein Wellchen. Infolge der arabischen Revolutionen und des | |
Libyen-Konflikts sind deutlich weniger Menschen aus Nordafrika nach | |
Deutschland gekommen, als von manchen hysterischen Politikern und Medien | |
befürchtet wurde - auch die umstrittenen Sondervisa für den Schengen-Raum, | |
von denen nach inoffiziellen italienischen Angaben circa 10.000 seit April | |
ausgegeben wurden, haben daran nichts geändert. | |
## 19 von 63 zurückgeschickt | |
Gerade mal 63 Migranten aus Tunesien sind von Mitte April bis Mitte Mai auf | |
diesem Weg nach Deutschland gekommen. Das geht aus einer Aufstellung der | |
Bundespolizei hervor, die Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am | |
Dienstag bei dessen Antrittsbesuch in Potsdam präsentierte. Laut einer | |
Grafik der Behörde sind die Flüchtlinge zumeist von Italien über Österreich | |
nach Süddeutschland eingereist oder aber über Frankreich oder Belgien nach | |
Westdeutschland. Die meisten sind laut Bundespolizei legal hier, hatten | |
also neben den notwendigen Aufenthaltspapieren genügend Geld dabei, um in | |
Deutschland bleiben zu dürfen. 19 von den 63 wurden zurückgeschickt. | |
63 Flüchtlinge in einem Monat - das ist eine Zahl, die so verschwindend | |
gering ist im Vergleich zu der historischen Situation in Nordafrika und der | |
arabischen Welt. Insgesamt sind laut Bundesinnenminister Hans-Peter | |
Friedrich seit Beginn der Umwälzungen rund 34.000 Menschen aus Nordafrika | |
über die Südgrenzen in die EU gekommen, nach Einschätzung seines Hauses | |
kommt die Mehrheit aber nicht aus humanitären, sondern aus wirtschaftlichen | |
Gründen nach Europa. | |
## Flüchtlinge bevorzugen Frankreich | |
Ob das nun stimmt oder nicht: Nach Deutschland zieht es sie jedenfalls | |
nicht. Die meisten der nordafrikanischen Flüchtlinge sind von Italien aus | |
nach Frankreich weitergereist und dort geblieben, was von Experten von | |
Anfang an auch so erwartet worden war. Schließlich hat Frankreich enge | |
historisch-kulturelle Verbindungen in die Maghrebstaaten. | |
Doch auch die Zahl von 34.000 Flüchtlingen ist auf ganz Europa | |
hochgerechnet alles andere als gigantisch. Zum Vergleich: In den | |
1990er-Jahren nahm Deutschland allein etwa die zehnfache Zahl an | |
Bosnienkriegsflüchtlingen auf. | |
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kommentierte die | |
europäische Haltung gegenüber den Flüchtlingen aus Nordafrika vor Kurzem | |
so: "Eine Europäische Union mit 500 Millionen Einwohnern, eine der | |
stärksten Wirtschaftskräfte der Welt, muss wohl in der Lage sein, einige | |
5.000 oder 10.000 Flüchtlinge, die vorübergehend Platz finden wollen, | |
entsprechend unterzubringen." | |
18 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Wolf Schmidt | |
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