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# taz.de -- Kommentar EU-Abschiebepraxis: Wo bleibt die Menschlichkeit?
> Humanität wurde zu einem politischen Lippenbekenntnis degradiert. Die
> Menschlichkeit hat aus der europäischen Außenpolitik selbst längst die
> Flucht ergriffen.
Im März hat der Weltsicherheitsrat beschlossen, sich militärisch zum
"Schutz der Zivilisten" im libyschen Krieg zu engagieren. Seitdem wurde
immer wieder über die Rolle diskutiert, die Muammar al-Gaddafi übernommen
hat, um Europa zur Festung gegen Flüchtlinge zu machen.
Zynisch erscheinen Begriffe wie "Schutz von Zivilisten" - in den Mund
genommen von Regierungen, die Millionen an das Regime Gaddafis zahlen, um
die Küsten Europas von Flüchtlingen aus Nordafrika freizuhalten. Welchen
Preis ebendiese Zivilisten in der Realität bezahlen, konnte bisher nur
vermutet werden. Wer mit den Flüchtlingen spricht, der ist schockiert.
Ärzte ohne Grenzen hat in Auffanglagern in Lampedusa und Malta gearbeitet
und in den vergangenen Jahren viele Schicksale gehört. 2009 zogen wir uns
zurück, als sich die Lager leerten, nachdem die Flüchtlinge "erfolgreich"
im Zuge des Rücknahmeabkommens mit Italien nach Libyen zurückgeschickt
wurden. Dass dies nicht ohne Entrechtung und Erniedrigung vonstatten ging,
schien allen Beteiligten und bislang auch dem EU-Parlament offenbar
akzeptabel.
Dass diese Abschiebung jedoch seit langem institutionalisierte Folter
bedeutet, wird durch Berichte der Opfer gegenüber unseren Mitarbeitern
deutlich, die mit Hunderten Flüchtlingen in einem Auffanglager an der
tunesischen Grenze gesprochen haben.
## Flüchtlinge systematisch gefoltert
Afrikanische Flüchtlinge, die über Libyen ihren Weg nach Europa suchen -
viele von ihnen sind bereits aus Somalia, Eritrea oder der Elfenbeinküste
geflohen -, werden Opfer eines unmenschlichen Foltersystems. Häufig werden
sie schon nach der Einreise nach Libyen willkürlich festgenommen,
misshandelt und erpresst. Von Libyen aus zahlen sie Schmuggler, die sie auf
dem Seeweg nach Europa bringen sollen.
Werden sie von Booten der aus Europa finanzierten "Grenzschutzbeamten"
aufgegriffen und zurück nach Libyen transportiert, landen sie erneut in
Internierungslagern, wo sie systematisch gefoltert werden - durch
Elektroschocks, Schläge auf Genitalien, Kopf und Körper, durch sexuellen
Missbrauch und andere unvorstellbare Erniedrigungen.
Um aus dem System "auszubrechen", müssen sie sich freikaufen - der
Transport zur nächsten Western-Union-Filiale und die Telefonate mit den
Familien, um den Geldtransfer zu veranlassen, sind dabei inklusive. Eine
medizinische Versorgung leider nicht.
All dies ist Ausdruck einer beschämenden europäischen Außenpolitik, die
"uns" vor "denen" schützen soll. Diese Politik setzt auf Abschreckung und
nimmt dafür zynischerweise den Tod von Zivilisten billigend in Kauf. Wie
zum Beweis forderte das Europäische Parlament in einer Empfehlung vom
Januar dieses Jahres den Rat zu den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen
zwischen der EU und Libyen nachdrücklich auf, "sicherzustellen, dass das
Rückübernahmeabkommen mit Libyen nur für illegale Einwanderer in Betracht
gezogen werden könnten, wodurch diejenigen ausgeschlossen würden, die sich
als Asylbewerber, Flüchtlinge oder Personen, die Schutz benötigen,
bezeichnen, und betont erneut, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung
für alle Menschen gilt, die der Gefahr der Todesstrafe, unmenschlicher
Behandlung oder Folter ausgesetzt sind."
Gleichzeitig nimmt das Parlament zur Kenntnis, dass Libyen "ungeachtet der
fortdauernden autoritären Herrschaft und der systematischen Verletzung
internationaler Übereinkommen zu Menschenrechten und Grundfreiheiten" als
"Partner der EU" fungiert - insbesondere hinsichtlich der
Migrationspolitik.
Während die Bundesregierung zum Thema Libyen nicht müde wird, die
humanitären Prinzipien und den Flüchtlingsschutz zu betonen, müssen die
Flüchtlinge - also die "Zivilisten" - indes täglich hoffen, das
vermeintlich rettende Europa zu erreichen, ohne unterwegs gefoltert zu
werden, zu verdursten oder zu ertrinken - unter den Augen der
Kriegsparteien und einer enormen medialen Öffentlichkeit. Humanität wurde
degradiert zum politischen Lippenbekenntnis. Die Menschlichkeit hat aus der
europäischen Außenpolitik selbst längst die Flucht ergriffen.
22 May 2011
## AUTOREN
Frank Dörner
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