# taz.de -- Debatte Schengen-System: Europa als Gated Community | |
> Auf der einen Seite schottet sich Europa gegen Flüchtlinge ab. | |
> Andererseits ruft es nach qualifizierten Arbeitskräften. Ein Widerspruch? | |
Bild: Europa, hilf! Flüchtlinge vor der italienischen Küste. | |
Als die dänische Regierung vor einer Woche verkündete, sie werde permanente | |
Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland und Schweden einführen, gab es | |
einen allgemeinen Aufschrei, denn das war ein klarer Verstoß gegen das | |
Schengen-Abkommen. | |
Trotz eines erbosten Schreibens des EU-Kommissars Barroso wird die | |
EU-Kommission im Juli einen Vorschlag zur Abänderung des Schengen-Abkommens | |
vorlegen. Danach wären Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums in einem | |
begrenzten Zeitraum möglich, wenn angesichts "der Ankunft Tausender | |
illegaler Flüchtlinge der betreffenden Regierung die Sicherung der | |
Außengrenzen nicht mehr möglich ist". | |
Bei dieser geplanten Änderung handelt es sich keineswegs um eine Reaktion | |
auf realistische Szenarien. Letztes Beispiel: 34.000 Flüchtlinge sind seit | |
Beginn des revolutionären Umbruchs in Nordafrika in den Schengenraum | |
gelangt. 10.000 von ihnen wurden von der italienische Regierung mit | |
Sondervisa ausgestattet. Ganze 65 haben sich nach Deutschland verirrt. So | |
sieht der Ansturm aus Nordafrika aus, der von konservativer Seite | |
herbeifantasiert wurde. | |
Im Fall Dänemarks ist das Motiv für die Aufhebung von Schengen | |
offensichtlich: Es geht um Innenpolitik; um Rücksicht auf die rassistische | |
Partei, von deren Duldung die Regierung abhängt. Die deutsche | |
Bundesregierung hält hingegen die durch Schengen garantierte Freizügkeit | |
für "ein hohes Gut" - das heißt, handfeste materielle Interessen sprechen | |
dafür, Schengen nicht zu durchlöchern. | |
Umso stärker engagiert sich die deutsche Regierung aber dafür, dass die | |
Außengrenzen der EU abgesichert werden. Hier unterscheidet sich die | |
deutsche Panikmache, die Rhetorik von der kommenden "Flut" und von der | |
"Masseneinwanderung in die deutschen Sozialsysteme", nicht grundsätzlich | |
von dem, was aus Kopenhagen zu hören ist. | |
## Keine Hilfe auf hoher See | |
Längst hat die Abschottung der EU in Osteuropa und im Mittelmeerraum sich | |
jeder Rücksicht auf die Menschenrechte der Flüchtlinge entledigt. Menschen | |
in Seenot, die auf dem Schirm der Grenzschützer auftauchen, wird Hilfe | |
verweigert - ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. Es sind sogar | |
Fälle bekannt, wo den Flüchtlingen auf hoher See Nahrungsmittel und Benzin | |
abgenommen wurden, um sie zur Rückkehr zu zwingen. | |
Reaktionäre Regime in Anrainerstaaten dagegen erhalten Finanzhilfe, wenn | |
sie Flüchtlinge abfangen, sie unter schrecklichen Bedingungen internieren | |
und schließlich ohne Wegzehrung abschieben, wie im Fall von Gaddafis | |
Libyen. Dokumentiert ist der Tod Tausender Flüchtlinge. | |
Eine besonders üble Rolle spielt die Grenzagentur der EU "Frontex". Da sie | |
über keine Kommando- und Kontrollgewalt bei der Überwachung der Grenzen | |
verfügt, kann sie bislang bei Menschenrechtsverletzungen die Hände in | |
Unschuld waschen - sie koordiniert ja nur. Nach eigenen Angaben stellt sie | |
"Produkte, Projekte und Dienstleistungen" zur Verfügung. Welche Projekte? | |
Sie wertet Erfahrungen aus, zum Beispiel die des Pilotprojekts, bei dem ein | |
Sektor des Atlantiks überwacht wurde, um den Flüchtlingen den Weg von | |
Afrika zu den Kanaren zu versperren. Diese Erfahrungen kommen dann den | |
italienischen Grenzschützern vor Lampedusa und vor Malta zugute. Die Arbeit | |
von Frontex ist intransparent, ihre Kontrelle durch das EU-Parlament | |
wirkungslos. | |
Dennoch trifft die Kennzeichnung der EU als "Festung Europa" die | |
Grenzrealität nur zum Teil. Denn während die EU-Staaten nichtqualifizierte | |
Arbeitskräfte aus dem "Süden" möglichst vom Schengenraum fernhalten wollen, | |
rufen sie dringlich nach qualifizierten Arbeitskräften, an denen es gerade | |
in den entwickelten kapitalistischen Staaten der EU mangelt. | |
Sie benötigen ferner zunehmend Arbeitskräfte einer "mittleren" Kategorie, | |
also Krankenschwestern, Bauarbeiter, Landarbeiter. Ihnen gelten die | |
EU-Projekte einer "zirkulären Mobilität", die den ArbeiterInnen nach ihrer | |
Rückkehr in die Heimatländer zur Möglichkeit einer erneuten Einreise in den | |
Schengenraum verhelfen soll. Dies freilich nur nach Abschluss von | |
"Mobilitätspartnerschaften" mit den entsprechenden Heimatregierungen. | |
## Vorteil "illegaler" Arbeitskraft | |
Ob solche Projekte Realisierungschancen haben, ist fraglich. Fest steht | |
indessen, dass dem hochgerüsteten Grenzregime zum Trotz genügend | |
Arbeitskräfte den Weg in den Schengenraum finden, um die dortige real | |
existierende Nachfrage zu befriedigen. Diese Nachfrage wird in dem Maße | |
wachsen, in dem sich im Schengenraum die Alterspyramide weiter umdreht. Die | |
"illegale" Arbeitskraft bietet für die europäischen Unternehmer den | |
Vorteil, über vollständig rechtlose ArbeiterInnen zu verfügen, kraft deren | |
Billigarbeit die Löhne gedrückt werden und die Verhandlungsmacht der | |
Gewerkschaften geschwächt wird. | |
Das ganze Ausmaß illegaler Arbeit erschließt sich aus dem zahlenmäßigen | |
Umfang der Legalisierungsschübe, die in einigen Ländern des südlichen | |
Schengenraums von Zeit zu Zeit durchgeführt werden. Wenn diese Einschätzung | |
zutrifft, warum dann die Hochrüstung der Grenzen? Tatsächlich könnte man | |
den Eindruck gewinnen, bei der Grenzüberwachung handle es sich um einen im | |
hohen Grad selbstrefenziellen Prozess, der ohne Gegenüber auskommt und der | |
nur von den angefachten Ängsten in den Schengenländern befeuert wird: erst | |
das imaginierte Bedrohungsszenario, dann die Aufrüstung, dann ein neues | |
Bedrohungsszenario, dann neue Rüstung, und so weiter. | |
Dennoch sind die Festungsmauern nicht gänzlich nutzlos. Sie dienen dazu, | |
dem Umfang der Reservearmee aus den Ländern des Südens und Ostens, den die | |
Schengen-Unternehmer jeweils brauchen, so gut es geht, zu steuern. Im | |
Übrigen bleibt nach der Vorstellung der Machteliten der Schengenraum - wie | |
es der holländische Autor van Houtum ausgedrückt hat - eine "gated | |
community": eine geschlossene Wohnanlage, betretbar nur, wenn der Wachmann | |
sich erkundigt hat, ob der Besuch genehm ist. Dann geht der Schlagbaum hoch | |
und die Dienstleistenden eilen zu den Villen der Herrschaft. | |
22 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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